Reinke: Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik

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Titel
Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzepte, Einflussfaktoren und Interdependenzen 1923-2002


Autor(en)
Reinke, Niklas
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
602 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Weyer, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Dortmund

Niklas Reinke ist mit seiner Monografie über 80 Jahre deutscher Raumfahrtpolitik eine beeindruckendes Werk gelungen, das trotz seines Detail-Reichtums einen übersichtlichen und gut lesbaren Überblick über die Entwicklungen der deutschen Raumfahrt und die politischen Entscheidungsprozesse von ihren Anfängen in den 20er Jahren über die V-2-Entwicklung in Peenemünde und den Wiederbeginn in den 1950er und 1960er Jahren bis hin zu den umstrittenen Großprojekten der bemannten Raumfahrt der 1980er Jahre sowie den aktuellen Planungen für das Satelliten-Navigationssystem Galileo bietet. Reinke füllt mit diesem Buch nicht nur eine Lücke der Forschung; er reiht sich zugleich in eine Tradition nüchtern-sachlicher, auf solidem Quellenstudium basierender raumfahrthistorischer Forschung ein, die von Walter McDougall, Helmut Trischler, Michael Neufeld, John Krige und anderen begründet wurde und die sich wohltuend von der legendenbildenden Literatur im Stile eines Walter Dornberger abhebt.

In fünf Kapiteln verweist Reinke immer wieder auf die Konzeptionslosigkeit der deutschen Raumfahrtpolitik, die er maßgeblich für Fehlentwicklungen und Versäumnisse verantwortlich macht (z.B. 127f., 196f.). Und wie ein roter Faden zieht sich durch sein Buch das Argument der Politisierung der Raumfahrt bzw. deren Instrumentalisierung für politische Zwecke: "Nicht wirtschaftliche und wissenschaftliche Rationalität, sondern politische Opportunität wurde einmal mehr zur Handlungsmaxime in der deutschen Raumfahrt." (370) Kurzfristige, oftmals außenpolitische Kalküle hätten, so Reinke, bei fast allen Schlüsselentscheidungen den Ausschlag gegeben, die in einer fragmentierten, von Kompetenzstreitigkeiten der Ressorts geprägten Politikarena stattfanden.

Kapitel 1 beinhaltet eine ungeschminkte und schonungslose Darstellung des V-2-Projekts, das Reinke als die "dunkelste" (42) Etappe der Raumfahrt bezeichnet, da Wernher von Braun skrupellos und ohne "moralische Bedenken" (43) den Tod tausender KZ-Häftlinge in Kauf nahm, um das Raketenprojekt voran zu treiben. Reinke beschreibt Peenemünde zutreffend als Geburtsstunde des neuen Typus Großforschung, der durch den "engen Verbund zwischen Staat, Forschung und Industrie" (45) gekennzeichnet ist.

Kapitel 2 thematisiert den Wiederbeginn der deutschen Raumfahrt nach 1945, der sich über die Einbindung in internationale Initiativen wie die europäische Raumfahrtorganisation ESRO vollzog, in die die Bundesrepublik 1962 als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen wurde. In dieser Phase vollzogen sich wesentliche Weichenstellungen, nämlich die institutionelle Einbettung der bundesdeutschen Raumfahrt in internationale Kooperationen, in die die Bundesrepublik jedoch "eher von außen ... getrieben" (101) wurde, sowie die vorrangige Ausrichtung auf wissenschaftliche Fragestellungen (vgl. 171), die sich mit der Verankerung der Raumfahrt im Atom-, später Forschungsministerium ergab. Bereits in dieser Phase zeigt sich ein typisches Muster der deutschen Raumfahrtpolitik, das Reinke mehrfach als "Spagat" (142, 198, 214, 431) bezeichnet: Einen Ausgleich zwischen den europäischen, insbesondere von der Achse Deutschland – Frankreich geprägten Kooperationsprojekten und der transatlantischen Zusammenarbeit mit den USA zu finden. Immer wieder gab es dabei Zwist und Zerwürfnisse, weil die USA ihre Kooperationsangebote allzu offensichtlich auch als Hebel verstanden, potenzielle Konkurrenten unter Kontrolle zu halten bzw. eine europäische Einigung zu behindern, beispielsweise bei den Satelliten-Projekten AZUR (101ff.) und Symphonie (110f.), später dann auch beim Post-Apollo-Programm (138f.) und bei der Internationalen Raumstation ISS (212, 251). Die material- und kenntnisreiche Aufarbeitung dieser schwierigen Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse, die oftmals mit fragwürdigen und halbherzigen Kompromissen endeten, ist eine der großen Leistungen von Reinke, die auch dadurch nicht geschmälert wird, dass er auf etliche in den 1990er Jahren entstandene Studien zurück greifen konnte. Die Rekonstruktion der Ereignisse offenbart jedoch auch eine Schwäche der Studie, die nur selten zu den Hintergründen (beispielsweise den Strategien und Interessen der Akteure) vordringt und damit die Frage oftmals unbeantwortet lässt, warum die Schlüsselakteure so handelten, wie sie handelten, und wie zu erklären ist, dass sich eine Option zu Lasten anderer durchsetzte.

Dies gilt beispielsweise für den Beschluss der sozial-liberalen Bundesregierung Anfang der 1970er Jahre, sich mit dem Spacelab am amerikanischen Post-Apollo-Programm zu beteiligen – und damit Frankreich mit seinem Projekt der europäischen Trägerrakete Ariane die kalte Schulter zu zeigen (146ff.). Mit Blick auf die kontroversen Debatten um die bemannte Raumfahrt in den 1980er Jahren vermerkt Reinke nicht ohne eine gewisse Süffisanz, dass dies der – später kaum noch revidierbare – Einstieg in das neue, von Teilen der SPD später heftig kritisierte Technologiefeld der bemannten Raumfahrt war (146f.). Eine Erklärung für diese Entscheidung wie auch für das unbeirrte Festhalten aller folgenden Regierungen an diesen Großprojekten liefert Reinke jedoch nicht. Dieses analytische Defizit ist m.E. dadurch verursacht, dass Reinke die Strategien der Raumfahrt-Industrie als der maßgeblichen Lobby, die immer einen starken Einfluss auf die Programmgestaltung genommen hat, sowie die Interaktionsprozesse zwischen den Akteuren nicht hinreichend beleuchtet.

In Kapitel 3 schildert Reinke eindrucksvoll, wie angesichts der auseinander driftenden Interessen Frankreichs (an einem eigenen, kommerziell nutzbaren Trägersystem) und Deutschlands (an einer Beteiligung am US-Shuttle-Programm) die europäische Weltraumorganisation 1973 nur durch einen mühsam erzielten Kompromiss gerettet werden konnte, der die neue Architektur der europäischen Raumfahrt in Form eines Nebeneinanders von Raketenentwicklung und bemannter Raumfahrt schuf. Nimmt man die misslungene Reorganisation des deutschen Raumfahrt-Managements (168ff.) sowie den Fehlschlag des Rundfunk-Satelliten TV-SAT (184ff.) hinzu, so lässt sich Kapitel 3 auch als eine Geschichte gescheiterter Projekte und Visionen lesen, die von einer primär politischen Logik geprägt waren (192) und deren Rechtfertigung sich laut Reinke allenfalls aus den indirekten Lerneffekten ergibt (149, 198).

Kapitel 4 bildet einen Schwerpunkt der Arbeit, die hier erstmals von der streng chronologischen Darstellung abweicht und dabei einige Ungereimtheiten verursacht (beispielsweise in der zeitlichen Zuordnung der DGAP-Studie von 1986, die m.E. ein richtungsweisendes und die Debatte prägendes Programm war, bei Reinke jedoch erst im Kontext der Ereignisse des Jahres 1988 auftaucht, vgl. 219). Akribisch rekonstruiert Reinke die in den 1980er Jahren vollzogene Neuausrichtung der deutschen Raumfahrt auf das Ziel der europäischen Autonomie, verbunden mit einer erstmals dezidiert – und zwar von der DGAP – formulierten machtpolitischen Begründung (209). Dieses Ziel sollte mit der leistungsstarken Rakete Ariane 5, dem Raumlabor Columbus als Beitrag zu ISS sowie einem eigenen europäischen Raumgleiter namens Hermes realisiert werden, auf die die ESA sich in mühsamen Kompromissen Mitte der 1980er Jahre einigte. Allerdings ergaben sich in der Folgezeit massive technische, finanzielle, aber auch Abstimmungsprobleme, die dazu führten, dass 1995 abermals eine Kurswende vollzogen werden musste (371, 382). Reinke verhehlt hier nicht, dass er eine konsequente Realisierung dieser Projekte, getragen von einem straffen Management und einer soliden finanziellen Ausstattung, präferiert hätte (z.B. 316f.).

Kapitel 5 schließlich zeigt, wie die deutsche Raumfahrt auf die Krise nach 1990 reagierte, als nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten die Mittel für Rüstung und Raumfahrt drastisch gekürzt wurden. Der Ausstieg aus den europäischen Großprojekten der bemannten Raumfahrt und die Abkehr vom Konzept der europäischen Autonomie zugunsten einer internationalen Ausrichtung der Raumfahrt waren deutliche Signale (versinnbildlicht am Beispiel der ISS, an der neben den USA, Europa und Japan nunmehr auch Russland beteiligt ist). Reinke verweist auf die bemerkenswerte Kontinuität (351) über den Regierungswechsel von 1998 hinweg: Die von Forschungsminister Jürgen Rüttgers vollzogene Ausrichtung der Raumfahrt auf Anwendungsfelder wie die Erdbeobachtung oder die Satellitennavigation, aber auch die sicherheitspolitische Nutzung wurde nach dem Regierungswechsel durch seine Nachfolgerin Edelgard Bulmahn konsequent fortgesetzt (355, 434). An der grundlegenden Problematik, dass Entscheidungen in der Raumfahrt "auf der Basis einer intransparenten Mischung aus forschungs-, verteidigungs-, technologie- und wirtschaftspolitischen Argumenten getroffen" (414) werden, hat sich jedoch nichts geändert. Aber gerade dies macht die Befassung mit Raumfahrtpolitik ja so spannend und lehrreich.

Anmerkungen:
[1] McDougall, W.A., ... the Heavens And The Earth. A Political History of the Space Age, New York 1985; Trischler, H., Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992; Neufeld, Michael J., Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, Berlin 1997; Krige, J.; Russo, A., Europe into Space. 1960-1973, Noordwijk 1994.
[2] Dornberger, Walter, Peenemünde. Die Geschichte der V-Waffen, Frankfurt am Main 1994 (Erstauflage 1952).

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