K. Hildebrand (Hg.): Zwischen Politik und Religion

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Titel
Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus


Herausgeber
Hildebrand, Klaus
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 59
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 155 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Debatte zum Thema „Politische Religion“, in den 1980er-Jahren noch eher am Rande der geschichtswissenschaftlichen und politologischen Diskurse angesiedelt, nähert sich allmählich deren Zentrum. Zugleich wächst der Widerstand gegen die zwar anregenden, aber doch auch sehr problematischen Erklärungsversuche „totalitärer Herrschaft“ als „Politischer Religion“.1 Der von Hildebrand mit einigen grundsätzlichen Fragen knapp eingeleitete Band „Zwischen Politik und Religion“ versammelt sechs Beiträge zum Thema, die verschiedene politische Systeme ansprechen.

In einem ersten, mit 44 Seiten sehr umfangreichen Aufsatz beschreibt Klaus Schreiner verschiedene Erscheinungen des „Messianismus“ als eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters. Schreiner beginnt seinen Überblick mit jüdischen und christlichen Diskussionen im Mittelalter, geht dann über zur Verwendung messianischer Metaphern und Vorstellungen in verschiedenen nationalrevolutionären Bewegungen (Französische, Amerikanische und Puritanische Revolution in England), bei denen eine Theologisierung der Politik zentral war, um schließlich dem Messianismus in den Schriften verschiedener deutscher Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts nachzuspüren.

Im zweiten Teil seines Überblicks widmet sich Schreiner der Evozierung einer Erlösergestalt in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Die Vorstellung von totalitären „Politischen Religionen“ lehnt er ebenso ab wie die ebenfalls in Gebrauch gekommene Beschreibung des Nationalismus als „Ersatzreligion“. Solche Erklärungsversuche gehen von der irrtümlichen Annahme aus, dass es eine Auseinanderentwicklung zwischen religiöser und politischer Sphäre stattgefunden habe und die politische quasi an die Stelle der religiösen getreten sei – vereinfacht gesagt: dass die Menschen statt an Gott nun an den Führer geglaubt hätten. Dabei wird außer Acht gelassen, dass es vielmehr einen fruchtbaren Austausch zwischen religiösen und politischen Sprachen und Sprechern gegeben hat: Politisierung der Religion ging einher mit Sakralisierung der Politik, meistens der Nation. Nur so lässt sich erklären, warum gerade Theologen anfällig für nationalistische und auch totalitäre Denkmuster wurden – nicht weil sie die Religion hinter sich ließen, sondern im Gegenteil: weil sie in der Politisierung auch eine Rettung für die scheinbar gefährdete Religion sahen.2 Dass der nationalistische Messianismus kein spezifisch deutsches Phänomen war, sondern eher einen allgemeinen Zug des Nationalismus darstellt, muss spätestens seit dem magischen Datum „9/11“ kaum mehr erwähnt werden. Das besondere Problem der Deutschen bestand eher darin, dass sie „einen Führer und Retter erwählten, der sie in die Katastrophe führte“ (S. 44). Aus aktuellem Anlass würde man sagen: „in den Untergang“. Schreiners Schlussfolgerungen sind plausibel. Seine ideologiekritische Unterscheidung zwischen nationalsozialistischem und linksintellektuellem Messianismus übersieht aber die gedanklichen Parallelen, die es zumindest im stalinistischen Führerkult gab.

Auch Hans Günter Hockerts kommt in seinem Beitrag über „Chancen und Grenzen“ des Erklärungsmodells „Politische Religion“ für den Nationalsozialismus zu dem Schluss, Vertreter des Ansatzes verwechselten Modalität und Kausalität miteinander. Apokalyptisches Reden sei nicht der Grund für die Ausführung der mörderischen Tat gewesen. Hitler und Himmler hätten den Völkermord nicht gewissermaßen aus „religiösen“ Motiven heraus, als „Exekution des Antichrist“ angeordnet, sondern aufgrund ihres „ethnisch bzw. eugenisch begründeten Rassismus“ (S. 66). Hockerts gesteht dem Nationalsozialismus allerdings doch zu, eine „politische Religiosität“ geschaffen zu haben, besonders für „heimatlos gewordene religiöse Energie“ (S. 67). Der fehlende Transzendenzbezug der NS-„Weltanschauung“ spreche allerdings gegen die Bezeichnung „Religion“. Von „politischer Religion“ lasse sich eher beim islamischen Fundamentalismus sprechen, denn bei diesem werde die Politik der Religion untergeordnet.

Dass diese Sichtweise etwas zu einfach ist, zeigt Ute Freitag in ihrem Beitrag zum Verhältnis von arabischem Nationalismus (auch: „Arabismus“) und Islamismus auf. Freitag macht an verschiedenen geistesgeschichtlichen Beispielen deutlich, dass es entgegen landläufiger Auffassungen nie eine wirklich strikte Trennung zwischen beiden Denktraditionen gab, so dass es schon immer einfach war, von arabisch-nationalistischen zu islamistischen Parolen und Denkweisen überzuwechseln, wie es Saddam etwa kurz vor seinem Sturz tat. Ob der Begriff „Politische Religion“ zur Beschreibung von Arabismus oder Islamismus brauchbar ist, wird allerdings nicht diskutiert (S. 140).

Der theoretische Ansatz „Politische Religion“ birgt das Problem, dass er eine monokausale, allseitige Erklärung für vielschichtige, komplexe Phänomene bieten möchte und daher nicht anschlussfähig ist. „Religion“ lässt sich nicht mit anderen Motivationen oder mit ökonomischen, politischen, sozialen Anliegen kombinieren; „Religiosität“, wie es Hockerts vorschlägt, dagegen schon. Richtig ist daher Hockerts’ abschließende Feststellung, dass es bessere Erklärungsansätze für den Nationalsozialismus gebe: Faschismus, Rassismus, Totalitarismus, charismatische Herrschaft – alle diese Beschreibungsversuche bieten die Möglichkeit, die Vielschichtigkeit und Widersprüche des NS adäquater zu erfassen (S. 70).

In Italien hat der Faschismusexperte Emilio Gentile vor einigen Jahren den Ansatz der „Politischen Religion“ mit großem Engagement aufgenommen. Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut Rom versucht in seinem Beitrag, die Anwendung auf die Diktatur Mussolinis zu überprüfen. Zwar haben auch die italienischen Faschisten, allen voran Mussolini, religiöses Vokabular zur Beschreibung ihrer Bewegung und ihres Systems benutzt und eine eigene Liturgie mit Glaubenssätzen und Ritualen erstellt – aufbauend auf einer Sakralisierung der Nation und des „Opfers“ im Krieg, die ins 19. Jahrhundert (Risorgimento) und den Ersten Weltkrieg zurückgehen. Doch wäre der Faschismus eine Religion mit sehr dürftigem Angebot an Glaubensinhalten gewesen: Nation, Duce, Männlichkeit, Opfer – daran sollte das italienische Volk glauben. Kontingenzbewältigung blieb weiterhin der katholischen Kirche anvertraut, die im faschistischen Staat ohnehin besonderen Schutz und besondere Förderung erfuhr. Doch diente die Vorstellung, die katholische Kirche habe in scharfer Konkurrenz zum Faschismus gestanden, ihrer Selbstrechtfertigung seit 1944. Tatsächlich scheint es eher ein starkes Bündnis zwischen Staat und Kirche gegeben zu haben, eine gegenseitige Stützung, die den Erklärungsansatz einer „politischen Religion“ Faschismus nicht sehr überzeugend erscheinen lässt.

Ebenso wenig lässt sich das Konzept auf kommunistische Systeme anwenden, wie der Beitrag von Manfred Hildermeier über die Sowjetunion bis 1953 und der Aufsatz von Gerhard Besier über die SED als „Kirche“ zeigen. Hildermeier weist zu Recht darauf hin, dass Voegelin, einer der wichtigsten Theoretiker des Konzepts und Anhänger eines katholischen Ständestaates, von empirisch zweifelhaften Vorstellungen einer quasi totalen Religion im Mittelalter überzeugt war. Auch andere Autoren deuteten die Erfolge der „politischen Religion“ als Beweis für die Religionssehnsucht einer entsakralisierten Welt. Hier wird deutlich, dass die Vorstellung der „Politischen Religion“ auf irrtümlichen Annahmen über die Säkularisierung in der Neuzeit beruht – ähnlich wie sie auch Carl Schmitt pflegte, der Theoretiker der „politischen Theologie“. Mein Fazit: „Politische Religion“ – requiescat in pacem.

Anmerkungen:
1 Eine ausführlichere Auseinandersetzung ist zu finden bei Klimó, Árpád von, Das Ende der Nationalismusforschung? Bemerkungen zu einigen Neuerscheinungen zu ‚Politische Religion’, ‚Fest’ und ‚Erinnerung’, in: Neue Politische Literatur 48 (2003), S. 271-291.
2 Zu den Protestanten vgl. etwa: Graf, Friedrich-Wilhelm, Art. „Protestantismus II“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXVII, Berlin 1997, S. 551-580.