Cover
Titel
Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Urban, Thomas
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Voßkamp, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

„Warum streiten sich Deutsche und Polen bis heute über die Vertreibung?“, fragt Thomas Urban (S. 9). Der Auslandskorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ hat zum einen biografische Motive, die ihn diese Frage stellen lassen: Er ist Sohn einer deutschen Breslauerin und mit einer polnischen Breslauerin verheiratet. Ausschlaggebend waren aber vor allem die Debatte um ein ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ sowie die dabei virulenten deutschen und polnischen Geschichtsbilder. Urban will „einen Beitrag zu dieser auf vielen Missverständnissen, aber auch auf Nichtwissen beruhenden Debatte leisten“ (S. 10).

Sein Beitrag liegt nicht in einer umfassenden Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen. Urban konzentriert sich bewusst auf die traumatischen Erfahrungen, die nationales Bewusstsein und kollektives Gedächtnis formten. In elf Kapiteln rekapituliert er auf Basis des aktuellen deutschen und polnischen Forschungsstandes die Geschichte wechselseitiger Repression und Xenophobie. Dabei begibt er sich auf eine Gratwanderung von Vergleichen und Aufrechnungen zwischen deutscher und polnischer Geschichte. Er betont, dass bei allen Vergleichen eines nicht übersehen werden dürfe (S. 14): „Es gab keine polnische Vernichtungspolitik! Es gab kein staatlich durchgeführtes Massenmorden.“

Urban lässt die ‚Verlust‘-Geschichte mit Bismarcks Germanisierungspolitik und den ‚preußischen Ausweisungen‘ 1885-87 beginnen, die neben der antipolnischen auch eine antisemitische Stoßrichtung hatten. Die als „brutale Vertreibung“ empfundenen Maßnahmen blieben im kollektiven Gedächtnis haften und führten im Polen der Zwischenkriegszeit zu einer repressiven Politik gegenüber der deutschen Minderheit (S. 24). Bevor er den Antagonismus zwischen polnischem Nationalismus und revisionistischer Politik der Weimarer Republik darstellt, schildert Urban, dass bereits während des Ersten Weltkrieges die polnischen Nationaldemokraten unter Roman Dmowski Pläne zu einer polnischen Westgrenze an der Oder entwarfen – verbunden mit einer Zwangsaussiedlung der Deutschen. Gleichzeitig verfolgte die deutsche Militärstrategie das Ziel, ein Ostreich zu errichten, wozu umgekehrt die Zwangsaussiedlung von Polen und Juden vorgesehen war (S. 26f.). Den Zustand in der Zwischenkriegszeit charakterisiert Urban als „unerklärte[n] Kalte[n] Krieg“ (S. 25). Nach der ‚Machtergreifung’ Hitlers 1933 und dem Tod Piłsudskis 1935 nahm der Druck auf die Minderheiten in Polen und Deutschland zu. Sowohl der polnische Geheimdienst als auch die NSDAP versuchte jeweils, die Minderheiten zu unterwandern und zu kontrollieren. Der Eindruck eines bevorstehenden Krieges führte im polnischen Militär und der polnischen Presse zur groben Fehleinschätzung, dass ein schneller Sieg über Hitler-Deutschland möglich sei. Zugleich wurden Pläne zur (zumindest partiellen) Annexion von Schlesien, Ostpreußen, Pommern und zur Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung diskutiert, begleitet von zunehmenden Repressionen gegen die deutsche Minderheit (S. 40ff.).

Der Eskalation des Nationalismus während des Zweiten Weltkrieges räumt Urban breiten Raum ein, bevor er sich abschließend der Vertreibung der Deutschen und ihren Folgen widmet. Auch in diesen Kapiteln ist er um eine multiperspektivische Darstellung bemüht. Die Vertreibung von Juden polnischer Staatsbürgerschaft in der ‚Polenaktion‘ vom Oktober 1938, deren Verlauf er am Beispiel Marcel Reich-Ranickis schildert, ordnet Urban als „Auftakt zum Holocaust“ ein (S. 45). Die Juden gerieten zwischen die Räder der Nationalismen und Rassismen, denn die polnische Regierung verweigerte einem Großteil der Juden die Aufnahme und entwickelte die so genannte „Madagaskar-Option“ – ein Konzept, das der nationalsozialistische Generalgouverneur Hans Frank später aufgriff. Urban erläutert dann die Politik der „rassischen Flurbereinigung“ im Mustergau Wartheland mit ihren Mechanismen von rassenideologisch begründeten Umsiedlungsmaßnahmen und Vertreibungen der polnischen Bevölkerung. Welche Dimensionen der ‚Generalplan Ost‘ annahm, wird am Beispiel des SS-Sonderlaboratoriums Zamošč deutlich, wo die Grenze zwischen Völkervertreibung und Völkermord überschritten wurde. Urban zitiert aus dem Bericht eines SS-Hauptsturmführers in Auschwitz, wohin ein Fünftel der polnischen Einwohner aus dem Kreis Zamošč deportiert werden sollte: „Beschränkte, Idioten, Krüppel und kranke Menschen müssen in kürzester Zeit durch Liquidation entfernt werden. Diese Maßnahme findet aber insofern Erschwerung, da nach Anweisung des Reichssicherheitshauptamtes entgegen der bei Juden angewendeten Maßnahme Polen eines natürlichen Todes sterben müssen.“ (S. 75) Dem ‚natürlichen Tod‘ wurde durch die Einrichtung von ‚Rentendörfern‘ und ‚Säuglingslagern‘ nachgeholfen, die mit ihren katastrophalen Bedingungen zu Todeslagern wurden.

Urban skizziert auch den Warschauer Aufstand und verdeutlicht die Relevanz für das polnische kollektive Gedächtnis, seine Bedeutung als „größte nationale Tragödie“ der Geschichte, während in Deutschland lange Zeit nicht an den Aufstand erinnert wurde (S. 95). Ebenso dürfte die Geschichte der polnischen „Repatriaten“ auf deutscher Seite weniger im Gedächtnis verankert sein, die zwischen die Fronten deutschen, ukrainischen und sowjetischen Terrors gerieten (S. 142ff.).

In den abschließenden Kapiteln beschäftigt sich Urban mit dem Verhältnis Westdeutschlands zu den Ostvertriebenen und dem Verhältnis Polens zur Vertreibung. Die Doppelstrategie Adenauers bezüglich der Vertriebenen (eine Politik der Grenzrevision bei gleichzeitiger Beschränkung des Einflusses der Verbände und dem Ziel rascher Integration), die Kontroverse um Willy Brandts Ostpolitik und die Verhandlungen zur Deutschen Einheit unter Helmut Kohl bilden hier die Eckpunkte der Darstellung. Die Debatte um das ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘, die doch Ausgangspunkt des Buchs war, stellt Urban extrem knapp dar und verzichtet auf jede Kommentierung (S. 176). Ähnlich verfährt er am Ende mit der Debatte um Reparationsforderungen in Polen. Ein Fazit fehlt leider völlig, so dass die dichte und materialreiche Darstellung einen abrupten Schluss findet.

Neben dem fehlenden Schluss stört Urbans Anspruch, nur „Fakten darzustellen“ (S. 15), da er schon aufgrund des Umfangs der Darstellung Gewichtungen vornehmen muss, bestimmte Themen nicht durchgängig aufgreifen kann und durch die Auswahl selbst interpretiert (etwa bezüglich der Rolle der Kirchen). Auch wird nicht deutlich, warum nur Teile der Darstellung durch Nachweise belegt sind und der wissenschaftliche Anspruch, der offenbar vorhanden ist, nicht konsequenter umgesetzt wurde. (Positiv ist hier zu vermerken, dass Urban außer den Anmerkungen zu jedem Kapitel ein knappes Literaturverzeichnis liefert und die Darstellung mit Kurzbiografien zentraler Personen flankiert.) Urban wollte offenbar kein „politisches Buch“ schreiben1 und nicht zu einem Fazit kommen. Trotzdem hat seine Darstellung durchaus politische Implikationen, zum Beispiel wenn er sich im Vorwort gegen materielle Entschädigungsforderungen ausspricht – mit dem berechtigten Hinweis, dass die Betroffenen selbst Geschädigte seien (S. 14). Ungeachtet dieser Einwände ist der konzisen und gut lesbaren Darstellung (von der es auch eine polnische Übersetzung geben wird) eine breite, grenz- und generationenüberschreitende Leserschaft zu wünschen.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Glotz, Peter, Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, München 2003, S. 9 (siehe meine Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-067).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch