L. Clemens: Tempore Romanorum constructa

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Titel
Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters


Autor(en)
Clemens, Lukas
Erschienen
Stuttgart 2003: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
565 S.
Preis
€ 188,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Pickert, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Lukas Clemens führt den Leser in ein weitgehend unbekanntes Feld der Antikerezeption. Der Untersuchungsrahmen seiner (auf eine Habilitationsschrift zurückgehenden) Monografie umschließt vornehmlich Teile Frankreichs und Deutschlands, damit das Gebiet der an Germanien grenzenden Reichsprovinzen, ab dem 5. Jahrhundert Siedlungsgebiet germanischer Stämme ohne früheren intensiven Kontakt zur graeco-romanischen Kultur des Südens. Anders als bisherige Arbeiten zum Thema „Antike im Mittelalter“ fragt das vorliegende Werk nicht nach dem subtilen Andauern römischer Lebensformen in Religion, Sprache, Verwaltung oder Technik. Es geht vielmehr darum zu zeigen, welche antiken Realien tagtäglich unübersehbar dem mittelalterlichen Betrachter vor Augen standen und welche Bedeutung dieser Eindruck „für das Bewußtsein der zwischen beziehungsweise in den Ruinen lebenden Menschen“ (S. 4) besaß.

Clemens kann durch seine interdisziplinäre, archäologisch wie historisch versierte Herangehensweise deutlich machen, dass „die Antike“ nördlich der Alpen in nachkarolingischer Zeit keineswegs vergessen wurde, um nur langsam vom Humanismus wiederentdeckt zu werden. Zwar kam es bis dahin zu unterschiedlich intensiven Wahrnehmungsstufen, die von dem Umfang der erhaltenen Bauten ebenso abhingen wie vom noch vorhandenen Kenntnisstand über ihre frühere Nutzung und Bedeutung. Gemeinsam war der Beschäftigung mit den Antiken seit dem frühen Mittelalter allerdings das Bewusstsein, es mit einer vergangenen, abgeschlossenen Periode zu tun zu haben. In der jeweiligen Einstellung zu dieser Vergangenheit und ihren Relikten lagen wiederum qualitative Unterschiede von Wahrnehmung, Wissen und Interesse begründet. Begleitet wurde diese Auseinandersetzung nicht vornehmlich von einem Interesse an der vergangenen Epoche an sich – wie später im Humanismus – sondern vielmehr von Pragmatik: Es ging um die Befriedigung spezieller aktueller Bedürfnisse. Antike wurde instrumentalisiert, weiterverwendet, umgenutzt, und so hing die Beschäftigung mit der Antike maßgeblich von der Existenz von Antiken ab.

Insofern bietet Clemens’ von den materiellen Befunden einer begrenzten Region ausgehender Ansatz erstmals die Möglichkeit, Schriftquellen und Realien miteinander in Beziehung zu setzen, um ein aussagekräftiges Gesamtbild entstehen zu lassen. Das erste Schwerpunktkapitel (Kap. II) verdichtet moderne Ausgrabungsbefunde und Aussagen mittelalterlicher Autoren zu einer Bestandsaufnahme antiker Bauten im Mittelalter. „Mit Steinplatten belegte Straßen führten – in einigen Fällen über antike Brücken – aus den Städten mit ihren noch vorhandenen Befestigungsringen und Torburgen. Eingefaßt wurden diese Verbindungen zur Außenwelt von Relikten einstiger Grabmonumente. Aus der Landschaft schlängelten sich die Reste römischer Wasserleitungen in Richtung der durch sie einst am Leben gehaltenen Zentren. An jenen Stellen, an denen sie Täler und Flußläufe überquerten, standen noch – weithin sichtbar – die Pfeiler gewaltiger Aquäduktkonstruktionen. Dort, wo es im Verlauf des Frühmittelalters zu Siedlungsverlagerungen gekommen war, lagen ausgedehnte Ruinenfelder unweit der jüngeren Niederlassungen, nun an der Schnittstelle von Stadt und Land.“ (S. 162)

Clemens verfolgt das Überdauern römischer Gebäude in Metz, Besançon, Reims, Köln, Mainz und Trier und untersucht die unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten einzelner Monumentgruppen wie Amphitheater, Thermenanlagen, Wasserversorgungsanlagen, Fora und Capitolia im städtischen Kontext. Die Quellentexte bestätigen die „flächendeckende Präsenz römerzeitlicher Überreste“ (S. 203), und zeigen eine bis ins Hochmittelalter erstaunlich genaue Kenntnis der antiken Bezeichnungen und Funktionen, obwohl vielerorts die Bauten lange leer standen oder umgebaut worden waren. Der Besiedlungsschub des späteren Mittelalters und die damit einhergehenden veränderten Bedürfnisse der Infrastruktur bedingten häufig Abriss oder radikale Umnutzung der antiken Großbauten. Wehranlagen im antiken Mauergürtel, nun innerhalb des mittelalterlichen Stadtareals, wurden zu Wohnsitz, Gartenhäuschen, Windmühle, Latrine oder Bibliothek; Amphitheater zum Weinberg oder schlicht zum Steinbruch. Einhergehend mit dem Abbruch antiker Mauern kam es zum Vergessen oder zu „mythischen Überlagerungen“ einstigen Wissens im Spätmittelalter.

Die Veränderungen dieser Antiken-Wahrnehmung stehen im Zentrum des zweiten Schwerpunktkapitels (Kap. III). Bereits die ausgewerteten Quellengruppen bestätigen erneut die Omnipräsenz der Antike im Mittelalter: Reisebeschreibungen, Urkunden, Belege geschäftlicher Transaktionen, Briefe; vor allem aber hagiografische und historiografische Werke, die Clemens in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt. Während der auf die Spätantike folgenden Jahrhunderte dienten antike Großbauten häufig als bauliche Grundlage für Klostergründungen. Teilweise wusste man noch lange um die ursprüngliche Funktion der Überreste, wie Heiligenviten des 9. Jahrhunderts zeigen – wichtig wurde ab diesem Jahrhundert jedoch ein ganz anderer Aspekt. Der pragmatische Umgang mit dem antiken Material wurde in den Texten zu einem qualitativen Topos, der den Klöstern eine Aura der Ehrwürdigkeit verleihen sollte. Auf die Bedeutung des antiken Interieurs verweisen auch moderne Grabungsbefunde: So zeigt sich etwa, dass im Jahr 866 neben den Gebeinen der Hl. Regina auch der Ort ihres angeblichen Martyriums von Alesia nach Flavigny überführt worden war – in Form einer Vielzahl antiker Spolien.

Allerdings erschließt sich dieser Umstand nur aus archäologischen Befunden, die Vita selbst schweigt darüber. Clemens glaubt bei den Autoren des frühen Mittelalters dennoch eine intensive Auseinandersetzung mit den antiken Bauten zu erkennen, darüber hinaus Reflektionen über die Vergänglichkeit alles Irdischen angesichts einer überlegenen, untergegangenen Kultur (S. 266, 365). Wohl ist es bemerkenswert, dass die Überreste (zum Teil in eigener Anschauung) wahrgenommen und in die Viten eingebunden wurden – mehr als die Bekräftigung eines allgemeinen Autoritätsanspruchs scheint aber dabei nicht vorzuliegen. Dieses verdeutlicht besonders der Kontrast zum 11. und 12. Jahrhundert, wie Clemens selbst zeigt: Nun wird die Antike vom statischen Interieur zum Auffinde-Ereignis, bloße Feststellung von Ehrwürdigkeit wird von Schlussfolgerungen abgelöst, Bodenfunde auf dem Areal der Klöster lösen konkrete, fast „archäologische“ Hypothesenbildungen über Lebensformen der Vergangenheit aus (dazu v.a. Kap. III.6).

Auch in der Historiografie zeigt sich der kritische Umgang mit antiken Funden während des Hochmittelalters. Clemens illustriert anhand der faszinierenden Trierer Geschichtskonstruktion, wie man sich einerseits eingehend mit dem enormen Antikenbestand der Stadt auseinander setzte, die Realität andererseits so glaubte modifizieren zu müssen, dass die gewollte Aussage der Monumente nicht mehr in Abrede zu stellen war. Als Fälschungen erweisen sich nicht nur die kunstvollen Grabepitaphien der mythischen Trierer Helden Trebeta und Arimaspes – lange Zeit von der Forschung für antik gehalten – sondern alle (!) in der Trierer Überlieferung zitierten Inschriften. Dieser Befund bestätigt sich auch in den Geschichtswerken der anderen Bischofsstädte des Untersuchungsraums, in denen „echte“ Inschriften neben epigrafischen Fiktionen in argumentativen Zusammenhängen angeführt werden. Für sie – wie für alle Antiken – gilt Clemens’ Feststellung: „[S]ie werden mit dem Ziel einer Traditionsbildung respektive zur Stützung bereits vorherrschender Geschichtsbilder als Beweis präsentiert und damit zugleich instrumentalisiert.“ (S. 408)

Verweist dieser Befund auf eine unterschiedliche Gewichtung von „Beweismaterialien“ im Mittelalter? Galt eine Sache so viel wie ein Text, konnten materiale Objekte gar Texte widerlegen? Erklärt die veränderte Einstellung gegenüber Objektbeweisen vielleicht auch den vom Autor nachgewiesenen verblüffenden Umstand des nachlassenden Interesses an antiken Realien durch den „philologisch-kritisch“ argumentierenden Frühhumanismus? An dieser Stelle wünscht man sich eine Ergänzung des von Clemens vorgelegten Befundes durch eine Erörterung des kritischen Umgangs der Historiografie mit Sachquellen und Fälschungen, für die Arnaldo Momigliano und Anthony Grafton schon vor einiger Zeit eine terminologische und methodologische Grundlage geschaffen haben.1

Lukas Clemens hat vorgemacht, dass die interdisziplinäre Erschließung von Quellen und Überresten zu Ergebnissen führen kann, die zu maßgeblichen Grundlagen neuer Forschungserkenntnis werden können. Eine breite Rezeption ist diesem anspruchsvollen Ansatz zu wünschen.

Anmerkung:
1 Momigliano, Arnaldo, Alte Geschichte und antiquarische Forschung [1950], in: Ders., Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd.2: Spätantike bis Spätaufklärung, hg. von Anthony Grafton, Stuttgart 1999, S. 1-36. Grafton, Anthony, Fälscher und Kritiker, Frankfurt am Main 1995. Vgl. auch Ginzburg, Carlo, Die Wahrheit der Geschichte, Berlin 2001.

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