C. Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat

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Titel
Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland. 1871-1933


Autor(en)
Müller, Christian
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Falk Bretschneider CRIA (Centre de recherches interdisciplinaires sur l'Allemagne), EHESS/CNRS Paris

Christian Müllers Arbeit stößt in zwei Lücken der neueren Forschung zur Geschichte von Kriminalität und Verbrechensbekämpfung: Sie untersucht den Zeitraum der so genannten „klassischen Moderne“ zwischen 1880 und 1930 und sie analysiert, ausgehend vom Diktum Max Webers, dass Herrschaft im Alltag primär Verwaltung heißt, die Institutionen und Verfahren des „rational-bürokratischen Anstaltsstaates“ zur Bekämpfung von Verbrechen. Es ist keine kriminalitätshistorische Arbeit im eigentlichen Sinne, sie versteht sich vielmehr, wie der Autor ausführt, als Beitrag zur Rassismus- und Sozialstaatsforschung (S. 14) und unternimmt es, die Verflechtung von Wissenschaft, Bürokratie und Rechtsnormen aufzuzeigen (S. 17). Territorialer Schwerpunkt ist einmal mehr Preußen; Ausflüge in die bayerische Strafvollzugspflege werden unternommen. Die Gliederung orientiert sich an der politischen Epocheneinteilung Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus, wobei der letzte Teil deutlich geringeren Umfang hat und als Ausblick bezeichnet wird.

Der erste Teil schildert die Entstehung einer medikalisierten „Wissenschaft vom Verbrecher“ und bettet diesen wissenschaftlichen Formierungsprozess in eine Analyse seiner praktischen Wirkungen ein. Deutlich wird dabei, wie durch psychiatrische Gutachtertätigkeit medizinisches Wissen in den Strafprozess einfloss und dort durch die Orientierung an der „Tat“ ein gemeinsames Verständnis von Psychiatern und Juristen über die Verbindung von Geisteskrankheit und Kriminalität hergestellt wurde (S. 41). Zwar blieb der Gerichtssaal fest in der Hand der Richter (S. 42), doch setzte sich zwischen 1880 und 1910 ein deutlich gewandeltes Verbrecherbild durch: Galt bislang nur ein voll zurechnungsfähiger Mensch als Straftäter, wurde nun der degenerierte Psychopath zum Verbrecher schlechthin (S. 79). In der Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug verfolgte die Anstaltspsychiatrie – im Kompetenzwirrwarr der staatlichen Behörden und mit widersprüchlichen Rechtsnormen allein gelassen – eine Politik, die von den eigenen Interessen einer Entlastung der Anstalten von geisteskranken Rechtsbrechern bestimmt war (S. 111). Angesichts der Überfüllung betrieb man in Opposition zu staatlichen Bemühungen um eine Intensivierung der Anstaltsunterbringung psychisch gestörter Straftäter regelrecht eine Strategie der „tolerierten Entweichung“: Je „dichter das juristische Netz geknüpft wurde, desto durchlässiger wurden die Anstaltsmauern“ (S. 101).

Im so genannten Schulenstreit der Strafrechtswissenschaft schließlich stand die Kriminalpsychiatrie weder – wie oft behauptet – an der Seite der „modernen Schule“ Franz von Liszts, die eine präventive Sicherheitsstrafe befürwortete, noch in Opposition zur klassischen Schule des Vergeltungsstrafrechts. Wie Müller zeigt, ist der Streit zwischen beiden Schulen vielmehr einer gemeinsam getragenen Abwehrstrategie der Strafrechtler geschuldet, die das Gewicht der Psychiatrie im Strafsystem begrenzen sollte (S. 125). Hier ging es also um professionspolitische Einflusssicherung, bei der man den neuen Wissensbeständen größere oder kleinere Zugeständnisse machen, vor allem aber die eigene Deutungshoheit im Strafsystem verteidigen wollte. Als es den beiden Strafrechtsschulen nach der Jahrhundertwende dann gelang, die von ihnen vertretenen Vergeltungs- und Präventionslogiken zu vereinen, hatte die Strafrechtswissenschaft gegenüber dem psychiatrischen Sachverstand ihren Einfluss bewahrt. Insofern lässt sich, so der Autor, von einer Strafrechtsreform der „defensiven Modernisierung“ sprechen (S. 159).

Breiten Raum nehmen im Teil zur Weimarer Republik die mitunter etwas langatmigen Schilderungen der Strafrechtsdiskussionen im Reichstag ein; deutlich wird hier, wie die Strafrechtsdiskussion quer zu den Konfliktlinien im Kaiserreich nun zu einer politischen und öffentlichen Angelegenheit wurde, bei der sich nicht mehr ‚Klassiker’ und ‚Modernisten’, sondern Konservative und Liberale gegenüberstanden (S. 180). Vom Schock des Ersten Weltkrieges und einem sich dadurch radikal wandelnden Menschenbild beflügelt, fanden in den 1920er-Jahren eugenische Bestrebungen eine ungebrochen hohe Akzeptanz (S. 171). Eine Enthumanisierung des Berufszweiges ließ gerade unter Psychiatern die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens’ in den Bereich des Denkbaren geraten. Die Debatten im Parlament zeigen jedoch, dass zu Zeiten der Republik solche Themen noch mit einem gewissen Verantwortungsbewusstsein diskutiert wurden; tendenziell geriet die eugenische Sterilisation zu einem Anliegen der politischen Rechten, während sich ihre modernistisch-szientistisch geprägten Fürsprecher unter Sozialdemokraten und Liberalen zurückhielten (S. 217). Der abschließende Ausblick auf die Kriminalpolitik im Nationalsozialismus schließlich verfolgt die Kontinuitäts- und Bruchlinien (wobei erste deutlich überwiegen) im Vergleich zur Kriminalbiologie der Weimarer Zeit; eine wichtige Stellung nimmt dabei das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933 ein.

In einer abschließenden Zusammenfassung resümiert Müller seine leitenden Fragestellungen (S. 20f.) und die gefundenen Antworten (S. 291-302): (1.) Lässt sich das Engagement der Psychiater in der Strafvollzugsreformbewegung als Professionalisierungsstrategie werten? – Nein, die forensische Psychiatrie fristete vielmehr die gesamte untersuchte Zeit über „ein Kümmerdasein an den Medizinischen Fakultäten“ (S. 291). Aufrechterhalten wurde sie durch persönliche Forschungsinteressen einzelner Professoren. Die Mehrzahl der Anstaltspsychiater dagegen empfand die spärlich vergütete Expertentätigkeit als lästige Pflicht, und in einem Bemühen, die Psychiatrie zu einer Teildisziplin der heilenden Wissenschaften zu machen, versuchte man eher, die Verbrecher von den Heilanstalten fern zu halten. (2.) Führte das Vordringen der „Biowissenschaften“ zu einer Sozialdisziplinierung im Sinne Foucaults, also zu einer Ausweitung von Herrschaftstechniken unter dem Deckmantel der Humanisierung? – Nein, eine den eigentlichen Zweck verdeckende Humanisierung spielte bei Entstehung der Sicherungsverwahrung keine Rolle, da „der Disziplinierungszweck der ‚modernen’, d.h. präventiven, Strafe (bzw. Maßregel) unstrittig war“ (S. 293). (3.) Ging die Strafrechtsreform mit einer Rationalisierung der Verbrechensbekämpfung im Sinne von Verwissenschaftlichung und utilitaristischer Gesellschaftssteuerung einher? – Die treibende Kraft hinter der ‚Rationalisierung’ des Strafens war eher Wissenschaftsgläubigkeit mit irrationalen Zügen (S. 81) als rationaler wissenschaftlicher Fortschritt. Das „Grundmuster eines dem tatsächlichen Wissensstand vorauseilenden Szientismus“ (S. 300) zeigte sich allenthalben; Kriminalpolitik wurde immer wieder an „vor-wissenschaftlichen Postulaten“ ausgerichtet (S. 301).

Müllers Studie ist allein ihres Detailreichtums wegen äußerst instruktiv; der Autor hat sich eines dringend bearbeitungsbedürftigen Themas im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Verwaltungshandeln angenommen. Zwei seiner Antworten erscheinen außerordentlich einleuchtend, empirisch belegt und analytisch durchdrungen. Sein Hinweis auf und seine Zurückweisung der foucaldianischen „Sozialdisziplinierung“ dagegen machen etwas sprachlos. Die rundweg simplifizierende Verschmelzung von „Biopolitik“ und repressiver „Disziplinargesellschaft“ erscheint als rhetorisch gedämpfte Variante der klassischen deutschen Foucault-Kritik – und sie nährt den Verdacht, dass hier billig etwas verworfen werden sollte, was von vornherein als irrelevant feststand. Dies ist umso bedauerlicher, als Müller durch eine gründlichere Auseinandersetzung mit den Thesen Foucaults bei der Materialfülle und dem analytischen Zuschnitt seiner Studie außerordentlich interessante kritische Einsichten hätte liefern können.

Weitere kleinere Einwände: Die Kategorie des „Anstaltsstaates“ mag Weber-Kennern nur allzu vertraut sein; für weniger Kundige hätten eine kurze Erläuterung und vor allem eine Aufklärung über ihren heuristischen Wert die Verwendung einsichtiger gemacht. Bei periodischen Einordnungen von straf- und kriminalpolitischen Maßnahmen (z.B. Präventionsstrafrecht, Klassifizierung und Persönlichkeitserforschung der Gefangenen) entsteht mitunter der Eindruck, hier handele es sich um völlig neue Entwicklungen; Hinweise auf deren bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Wurzeln hätten dies relativieren können (allein auf S. 72 wird kurz auf außermedizinische Quellen der Kriminologie verwiesen). Dass die Gefangenenperspektive nicht zu den Interessen der Arbeit gehört, ist anhand des thematischen Zuschnitts der Studie nicht zu beanstanden; die Behauptung indes, dass „eine alltagsgeschichtliche Betrachtung des freudlosen Anstaltslebens wenig mehr zutage fördern dürfte als die Feststellung einer ‚konstanten Repression’“ (S. 19) ist mit Hinweis auf die Arbeiten Patricia O’Briens zur Alltagsgeschichte des französischen Gefängnisses entschieden zurückzuweisen. 1 In ihren Handlungsspielräumen ohne Zweifel stärker noch als andere Teile der Bevölkerung eingeschränkt, fungierten jedoch auch die Straftäter nicht nur als Objekt von Verwaltungshandeln – die Simulation von Geisteskrankheiten als Verteidigungsstrategie vor Gericht, auf die Müller selbst hinweist, ließe sich als Beispiel anführen (S. 31).

Anmerkung:
1 O’Brien, Patricia, Correction ou chatiment. Histoire des prisons en France au XIXe siècle, Paris 1988.

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