Cover
Titel
Italiener in Hamburg. Migration, Arbeit und Alltagsleben vom Kaiserreich bis zur Gegenwart


Autor(en)
Morandi, Elia
Reihe
Italien in Geschichte und Gegenwart 19
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Kreienbrink, Referat Migrations- und Integrationsforschung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg

In den letzten Jahren sind verschiedene Studien zur Geschichte der italienischen Migration in Deutschland erschienen, die lange nicht im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gestanden hatte. Alle beschränken sich jeweils in zeitlicher und zum Teil in räumlicher Hinsicht. So ist die italienische Zuwanderung im Kaiserreich in Süd- bzw. Westdeutschland erforscht worden 1, das Schicksal italienischer Fremdarbeiter bzw. Militärinternierten im nationalsozialistischen Deutschland 2 und auch die Phase der „Gastarbeiter“-Anwerbung findet zunehmend Interesse.3 Gemein ist diesen Studien, dass sie immer Phasen mit einer starken italienischen Präsenz in den Blick nehmen.

Die Arbeit von Morandi, die 2003 in Hamburg als Dissertation angenommen worden ist, nimmt als Ausgangspunkt nun keine starke Migrationsbewegung, sondern geht vom Ort aus, in diesem Fall also von Hamburg inklusive der umliegenden und später eingemeindeten Städte. Zum anderen wird die zeitliche Perspektive gegenüber anderen Studien deutlich ausgedehnt, indem der Rahmen vom Kaiserreich bis in die Gegenwart reicht.

Nach einer umfassenden Einführung und einem kurzen historischen Rückblick auf verstreute Hinweise zu italienischer Präsenz in Hamburg vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs nähert sich Morandi seinem Thema in drei großen Kapiteln. Sie umfassen das Kaiserreich bis 1918, die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus und schließlich die Jahre von 1945 bis 2000. Damit sind sie nicht ganz überzeugend vor allem an den Epochen der deutschen Geschichte orientiert und weniger an Migrationsphasen, denn zumindest im mittleren Abschnitt werden ganz verschiedene Migrationen wie freiwillige Arbeitsmigration und Zwangsmigration (Militärinternierte) zusammengebracht. Im folgenden Kapitel spielt die häufig gewählte Zäsur des Anwerbestops 1973 dagegen keine Rolle.

In den drei Hauptkapiteln werden in jeweils ähnlichem Aufbau die Aspekte behandelt, die in der Migrationsforschung gemeinhin untersucht werden: Einbettung in die allgemeine italienische Migration, Charakteristik des Aufnahmeraums, zahlenmäßige Entwicklung und demografische Struktur, ausgeübte Berufe, das Verhältnis zu Institutionen, Lebens- und Wohnverhältnisse, die wechselseitige Wahrnehmung zwischen Italienern und Deutschen und schließlich die Frage nach gesellschaftlicher Integration. Sie werden wie ein Raster über die drei Zeitphasen gelegt und durchdekliniert. In seinen Interpretationen orientiert sich Morandi dabei ausdrücklich an den Begriffsdefinitionen des Migrationssoziologen Friedrich Heckmann (S. 22f.).4

Die Grundlage der Arbeit bilden Quellen, die aus den unterschiedlichsten deutschen und italienischen Archiven stammen. Dazu kommen neben Literatur und Tagespublizistik besonders ca. dreißig Interviews mit Zeitzeugen, die zu je unterschiedlichen Zeiten nach Hamburg gekommen sind und deren Erinnerungen teilweise zurück bis in die Zeit des späten Kaiserreichs reichen. Die sehr umfassenden Recherchen machen den Eindruck, als hätte Morandi wirklich annähernd alles zu seinem Thema aus den Archiven geholt. Damit gelingt es ihm, einen umfassenden Bogen zu schlagen und das Leben von Italienern in Hamburg in vielen Facetten über einen weiten Zeitraum darzustellen. Er nimmt die verschiedensten Migrationsformen in den Blick und untersucht – hier nur als ein Beispiel genannt – auch immer wieder das Verhältnis von Italienern verschiedener Zuwanderungsphasen untereinander. Damit liefert er einen wichtigen und interessanten Beitrag zur hamburgischen Regionalgeschichte und zur Geschichte des Zusammenlebens vielfältigster Nationalitäten in der Stadt, die sich das „Tor zur Welt“ nennt.

So weit so gut, aber die Arbeit weist auch problematische Seiten auf. So ist die Quellenbasis trotz ihrer Vielfältigkeit nicht umfangreich und Morandi verweist durch das ganze Buch hindurch auf den Mangel an Quellen. Da Italiener in Hamburg nie eine große Rolle gespielt haben, ihre Zahl über lange Zeiträume eher unbedeutend war, haben sie entsprechend wenige Spuren in den Akten hinterlassen. Im Ergebnis bleiben damit aber viele Aussagen vor allem in den Kapiteln zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik im Ungefähren oder spekulativ. Das spiegelt sich in der Darstellung, die sich über weiter Strecken schwerfällig von einem „offenbar“ über ein „vielleicht“ zu einem „möglicherweise“ weiterbewegt. Der Abschnitt über die Zeit der Bundesrepublik ist davon nicht in dem Maß betroffen, doch greift Morandi hier in viel stärkerem Maß zur Erklärung auf Studien zurück, die sich mit Ausländern im Allgemeinen oder Italienern in anderen Städten befassen. Angesichts der auch in der bundesrepublikanischen Zeit im Vergleich zu anderen deutschen Städten doch relativ geringen ItalienerzahIen stellt sich schon ein wenig die Frage nach der Relevanz jenseits des regionalhistorischen Interesses. Für eine mikrohistorische Studie, um die es sich laut Klappentext handeln soll, ist der Stadtstaat als Einheit recht groß und die Quellen ergeben für die Beschreibung einzelner Phänomene nie die notwendige Dichte.

In dem Bemühen, die vielfältigen Lebensaspekte in allen drei gewählten Phasen gleichmäßig darzustellen und zu bewerten, sind die Nachweise durch den Quellenmangel manches Mal ein wenig dünn. Morandi sucht und findet zu allen oben angegeben Aspekten Indizien, doch da er das Begriffsinstrumentarium der Migrationsforschung nicht vor dem Hintergrund seines Quellenmaterials reflektiert, werden die Schlussfolgerungen bisweilen überdehnt oder inhaltsleer. Dass die berufliche Zusammensetzung einer Migrantengruppe „vermutlich“ von den Charakteristika der Migration und der wirtschaftlichen Struktur der Stadt bestimmt war, ist einfach banal (S. 74). Das gleiche gilt - auf der Suche nach der ethnischen Kolonie - für die Schlussfolgerung, dass 20 bis 40 neapolitanische Stoffhändler, die sich in einem Stadtteil konzentrierten, aber nicht nah beieinander wohnten, in den 1920er-Jahren bei 1,7 Millionen Einwohnern keine auffällige „Präsenz“ bildeten (S. 169f.). Und bei gerade zwei nachweisbaren Personen, die sich nur zeitweise in Hamburg aufgehalten haben, gleich eine antifaschistische Zuwanderung, also letztlich eine Art Exilmigration zu konstatieren, geht reichlich weit (S. 173ff.). In einer solchen Passage gleitet die Studie einfach in die Heimatgeschichte ab.

Die Wahl der Begrifflichkeiten ist auch an diversen anderen Stellen heikel. Für den Zeitraum 1871 bis 1945 bewegen sie sich manches Mal zu nah den Quellen. So wird beispielsweise immer wieder von Mischehen geredet, anstatt durchgehend wie im letzten Abschnitt der Arbeit den Begriff der binationalen Ehe zu verwenden. Und auch sonst wird mit Begriffen zu sorglos umgegangen. Angesichts einer italienischen Massenwanderung in das kaiserliche Deutschland machen ein paar Hundert Italiener an der Elbe aus Hamburg noch kein „Einwanderungsland“ (S. 131) und 30 Personen, die sich innerhalb eines Jahrzehnts um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht haben, entsprechen nicht gerade einer „Einbürgerungswelle“ (S. 130). Die Weltwirtschaftskrise schuf „Arbeiterreservearmeen“ (S. 142), die Inflation „wütete“ (S. 144) und deutsche Produkte „überfluteten“ ab 1950 den Weltmarkt. Und selbst wenn man den prozentualen Anteil innerhalb einer Kriminalstatistik daneben setzt, kann man folgenden Satz so nicht schreiben: „Wie alle anderen ‚Gastarbeiter’ neigten die Italiener dazu, Vermögensdelikte zu begehen.“ (S. 342) Ein kritisches Lektorat hätte hier dazu beitragen können, solche Ärgernisse in einem trotz aller Kritikpunkte auch informativen Buch zu vermeiden.

Anmerkungen:
1 Del Fabbro, René, Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870-1918, Osnabrück 1996; Wennemann, Adolf, Arbeit im Norden. Italiener im Rheinland und Westfalen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Osnabrück 1997.
2 Lang, Ralf, Italienische Fremdarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland 1937-1945, Frankfurt am Main 1996; Hammermann, Gabriele, Zwangsarbeit für den "Verbündeten". Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943-1945, Tübingen 2002 (rezensiert von René del Fabbro: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-029>).
3 Oswald, Anne von, Volkswagen, Wolfsburg und die italienischen „Gastarbeiter“ 1962-1975. Die gegenseitige Verstärkung des Provisoriums, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 55-79; Rieker, Yvonne, „Ein Stück Heimat findet man ja immer“. Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik, Essen 2003 (rezensiert von Susanne Peters-Schildgen: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-058>).
4 Heckmann, Friedrich, Die Bundesrepublik. Ein Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwandererminorität, Stuttgart 1981; Ders., Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992.

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