F. Uekötter u.a. (Hgg.): Wird Kassandra heiser?

Cover
Titel
Wird Kassandra heiser?. Die Geschichte falscher Ökoalarme


Herausgeber
Uekötter, Frank; Hohensee, Jens
Reihe
Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beiheft 57
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Apoll begehrte Kassandra, sie ihn aber nicht. Dafür bestrafte er sie. Kassandra konnte fortan weissagen, nur glaubte ihr niemand. Ihre vergebliche Warnung vor dem Trojanischen Pferd ist wohl den meisten bekannt. Prophezeiungen, die sich im Nachhinein als wahr erweisen, heißen daher nicht erst seit heute auch Kassandrarufe. Um genau umgekehrt gelagerte Warnungen geht es in den neun Beiträgen des Sammelbandes, eben um ökologische Katastrophen- und Krisenszenarien, die fast alle oder zumindest viele glaubten, welche sich dann aber als – weitgehend – falsch herausstellten.

Da sie kein typisches Verlaufsschema dieser falschen Prophezeiungen herausschälen können, definieren die beiden Herausgeber den Untersuchungsgegenstand in ihrer Einleitung pragmatisch als „Warnungen vor einer durch menschliches Handeln verursachten Veränderung der natürlichen Umwelt, die sich im Nachhinein als unbegründet oder zumindest stark übertrieben herausgestellt haben“ (S. 11). Die Beiträge reichen von den Holznotdebatten des 16. bis 19. Jahrhunderts über den Londoner Smog im späten 19. Jahrhundert bis hin zur Brent-Spar-Kampagne von Greenpeace (1995) und sind vier Leitfragen verpflichtet: Wer waren die Trägergruppen des falschen Alarms? Wie war der zeitgenössische Wissensstand? Welchen Wert hatten die Katastrophenszenarios? Und schließlich: Welche Konsequenzen zogen die Alarme für die Trägergruppen nach sich?

Die ersten drei Beiträge fügen sich nicht so recht dem Rahmenthema und bereiten auch den Herausgebern in ihrer insgesamt umsichtigen Einleitung erkennbare Schwierigkeiten. Da mehrere Regionalstudien der vergangenen Jahre bei aller Holznotrhetorik tatsächlich vorhandene regionale wie lokale Engpässe in der Holzversorgung nachgewiesen haben, macht es nur wenig Sinn, die Diskussionen des 16. bis 19. Jahrhunderts kursorisch als falschen Umweltalarm zusammenzuführen (Bernd-Stefan Grewe). Dies mindert den analytisch durchaus erkennbaren Wert des „falschen Ökoalarms“ doch zu sehr.

Im Kern gilt dies auch für den lesenswerten Essay von Peter Brimblecombe, der die literarisch-künstlerischen Verarbeitungen der Luftverschmutzungsphobien im viktorianischen England skizziert und damit umwelthistorisch oft zu wenig beachtete Quellen aus dem Londoner Nebel ans Tageslicht holt. Nur wird hier ebenso wie in dem sich anschließenden kulturwissenschaftlichen und quellengesättigten Aufsatz von Roland Siekmann über die Wahrnehmung der Sennelandschaft im 20. Jahrhundert das sich wandelnde Naturverständnis zu wenig beachtet, obwohl die gesellschaftliche Reichweite und Durchschlagskraft eines (falschen) Alarms damit untrennbar zusammenhängt.

Den umweltgeschichtlichen Ertrag der Leitfragen dokumentieren dann in besonderer Weise die folgenden fünf Beiträge. Gerade ihre Befunde zeigen, dass „falsche Ökoalarme“ wohl Kinder der modernen Mediengesellschaften sind, womit sich die Formel auch insgesamt trennschärfer und gewinnbringender verwenden ließe. Vor allem getragen vom wachsenden überregionalen medialen Verwertungsinteresse und der gesellschaftlichen wie politischen Ökowende im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entfaltete sich in einigen Fällen das klassische Dreigestirn von Missstand, Aufsehen und Empörung zum öffentlichkeitswirksamen Ökoskandal. Insofern fügen sich die hier vorgestellten Skizzen durchaus in die kürzlich von Patrick Kupper vorgeschlagene umweltgeschichtliche Epochenschwelle der 1970er-Jahre: Nach Christian Pfisters „1950er-Syndrom“ soll nun die Metapher der „1970er-Diagnose“ den weithin sichtbaren gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit der natürlichen Umwelt und ihren Energieressourcen griffig auf den Punkt bringen.1

Dieser Umschwung wird als erstes bei Frank Uekötters Blick auf die amerikanische Umweltbewegung und deren Ängste vor einer großen Luftverschmutzung greifbar. Nachdrücklich arbeitet er vor allem deren Radikalität heraus, die einer sachlichen und reformorientierten Debatte gleichsam die notwendige Luft zum Atmen nahm. Denn sie beförderte eine ebenso starre Gegenhaltung, die dem um deutliche Wendungen und Wertungen nicht verlegenen Autor zufolge auch heute noch bis hin zum „antiökologischen Verbalterrorismus“ reicht (S. 77).

Kai F. Hünemörder führt in der dann folgenden Zusammenschau seiner kürzlich erschienenen Dissertation2 plausibel vor, wie sich die Mahnrufe an den als global empfundenen Problemlagen in der Bundesrepublik der frühen 1970er-Jahre entzündeten: Wachstumskritik, diffuse Vergiftungsängste, unduldsame Technologiekritik und Überbevölkerungsphobien verdichteten sich zu einem beinahe apokalyptischen Ökowirrwarr und polarisierten die Umweltdebatte ganz beträchtlich.

Inhaltlich und argumentativ knüpft Patrick Kupper hier an. Er widmet sich der Geschichte der von einer Arbeitsgruppe um Dennis Meadows verfassten Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Neben einem konstruierten Weltmodell fußte dieser erste Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit auf der umfassenden Analyse quantitativer Datenmengen. Den Erfolg des Ökobestsellers, der seit seinem Erscheinen 1972 über zwölf Millionen Mal verkauft wurde, erklärt Kupper in erster Linie mit der Überschneidung von drei „Diskursen“: Zukunftsängste, umweltpolitische Diskussionen sowie Planungs- und Steuerungsutopien sensibilisierten die Problemwahrnehmung der Zeitgenossen derart, dass der Boden für die „Grenzen des Wachstums“ bestellt war (S. 108ff.). Zugleich macht Kupper plausibel, dass die elektronische Massendatenverarbeitung selbst eine Säule der dann so populären Wachstumskritik war.

Kenneth Anders und Frank Uekötter widmen sich danach der so genannten Waldsterbensdebatte in Deutschland, deren Folgen auch heute noch im jährlich veröffentlichten Waldschadensbericht nachwirken. Diese 1981 vor allem vom Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ausgelöste und von Umweltorganisationen begierig aufgegriffene Diskussion erreichte schnell die politische Ebene, denn sie traf offensichtlich den Nerv gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Auch wenn die Zeitgenossen sich auf die Schadstoffe Schwefeldioxid und Stickoxide konzentrierten, weisen die Autoren plausibel nach, dass in den 1980er-Jahren niemals Einigkeit über die Ursachen des Waldsterbens bestand und die nahezu umgehend eingeleiteten Waldschadensforschungen die Sachlage eher verkomplizierten als erhellten.

Den mit einem Orts- und Personenregister ausgestatteten Band beschließen die Ausführungen von Anna-Katharina Wöbse zur symbolisch aufgeladenen und hochemotionalen Brent-Spar-Kampagne des Ökoriesen Greenpeace. Wöbse arbeitet die verschlungenen Wechselwirkungen von Trägergruppen und Handlungsebenen differenziert heraus; sie zeigt, wie rasch sich dieser Protest verselbstständigte und welche unbeabsichtigten (Ökolangzeit-)Folgen er hatte: So profitierte Esso vom Boykott des Shell-Konzerns, dem die umstrittene Öl-Plattform gehörte, und das bis dahin lupenreine Saubermann-Image von Greenpeace nahm erheblichen Schaden, da die Organisation die Schadstoffbelastung durch Brent-Spar aufgrund eines Rechenfehlers von 5.500 auf 130 Tonnen letztlich erheblich nach unten berichtigen musste. Der Protest gegen die maritime Müllentsorgung war gewiss nicht nur moralisch berechtigt. Dass Seesterne oder Muscheln nun freilich ihre versunkenen Plattformbiotope entbehren müssen, belegt dennoch einmal mehr, wie zwiespältig die Konsequenzen menschlichen Ökohandelns ausfallen können. Auch deshalb stuft Wöbse den Protest nicht als falschen, sondern vielmehr als „in ökologischer Hinsicht vielleicht zweifelhaft zu nennenden Alarm“ ein (S. 160).

Auch wenn der gelegentlich anzutreffende schulmeisterliche Ton stört (etwa S. 135ff.), ist die Lektüre in weiten Teilen anregend und öffnet ein Ertrag versprechendes umweltgeschichtliches Forschungsfeld, das nach den ersten Probebohrungen durchaus noch weiter erschlossen werden darf.

Anmerkungen:
1 Kupper, Patrick, Die „1970er Diagnose“. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 325-348.
2 Hünemörder, Kai F., Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973), Stuttgart 2004. Siehe dazu die Rezensionen von Anna-Katharina Wöbse (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-026>) und Patrick Kupper (<http://www.sehepunkte.historicum.net/2004/09/5704.html>).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch