I. Schröder u.a. (Hgg.): Welt-Räume

Cover
Titel
Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900


Herausgeber
Schröder, Iris; Höhler, Sabine
Reihe
Campus Historische Studien 39
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmuth Trischler, Deutsches Museum, München

Ein Sammelband zur Geschichte der Globalisierung hat gegen ein doppeltes Vorurteil anzukämpfen: erstens, dass historische Globalisierungsforschung durch theoretische Unschärfe und methodische Beliebigkeit gekennzeichnet sei und im Übrigen nichts Neues bringe; zweitens, dass Sammelwerke ganz überwiegend Buchbindersynthesen ohne einen gemeinsamen Bezugsrahmen seien. Iris Schröder und Sabine Höhler stellen unter Beweis, dass dem nicht so sein muss. Sie legen einen sehr gelungenen Band vor, der an der Schnittlinie zweier hochaktueller Forschungsfelder ansetzt, wie uns bereits der klug gewählte Obertitel „Welt-Räume“ signalisiert: der historischen Globalisierungsforschung und der historischen Raumforschung. Dank einer ebenso umsichtigen wie souverän die neueste Literatur einbeziehenden Sondierung dieser Forschungsfelder geben die beiden Herausgeberinnen in der Einleitung einen weit gespannten inhaltlichen und interpretatorischen Rahmen vor.

Im Jahr des 100. Todestages von Jules Verne liegt es nahe, sich auf den literarischen Vordenker globaler Vernetzung zu beziehen. Sein Roman „Reise um die Erde in 80 Tagen“ ist das Referenzwerk, auf das fast alle Beiträge Bezug nehmen. Es steht für die neue Qualität der globalen Verdichtung von Raum und Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert. Das neue Weltbild der Moderne, das von der Vorstellung der Erde als Ganzer ausgeht, wird von den AutorInnen gerade nicht als gegeben und ubiquitär angesehen, sondern historisiert, indem es als variabel, brüchig, heterogen, spannungsgeladen und lokal variierend verstanden wird. Dabei dient der Begriff der Globalität als heuristisches und analytisches Leitkonzept, das auf die Verknüpfung von Weltordnungen und Raumordnungen abhebt. Globalität als Konzept integriert die Kontingenzen, Spannungen, Widersprüche und Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen der Moderne und wird damit zugleich zu einem Schlüssel für ein vertieftes Verständnis unserer gegenwärtigen Welt und deren Gewordensein im 20. Jahrhundert. Und im Unterschied zum prozessualen Begriff der Globalisierung ermöglicht es das Konzept der Globalität, die Ausweitung räumlicher Bezüge auf den Weltmaßstab zu betrachten und zugleich mitzudenken, dass „die Singularität der einen Welt“ sich „in plurale Welten, Orte, Räume und deren geteilte Geschichte“ aufspaltet (S. 28).

Die Historiografie der „Welt-Räume“, der Geografien im globalen Zeitalter, die den beiden Herausgeberinnen vorschwebt, ist – in ihren eigenen, von Empathie getragenen Worten formuliert – eine „Geschichte, in der Materialität, Simultanität und Ungleichzeitigkeit von Raumbeziehungen, in der Distanzen, Örtlichkeiten und das jeweilige Woanders historisch zu ihrem Recht kommen“, eine „Erwartungs- und Imaginationsgeschichte“ ebenso wie eine „Geschichte der Ideen und Modelle“ und eine „Geschichte der zugehörigen Formen der Dinge“ (S. 312). Behält man den Planeten Erde in seiner Ganzheit, in seiner Globalität, als Forschungsperspektive im Blick, so schieben sich drei Mechanismen des wissenschaftlichen und politischen Umgangs mit der Welt im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in den Vordergrund: Verkleinern und Abbilden, Zerteilen und Ordnen, Organisieren und Managen. Die Untersuchung dieser drei Mechanismen bieten die Herausgeberinnen als weiterführendes Forschungsprogramm an. Es gliedert zugleich den Band in drei Teile.

Der erste Teil über „Die verkleinerte Welt um 1900“ umfasst Beiträge von Matthias Dörries über den Ausbruch des zwischen Java und Sumatra gelegenen Vulkans Krakatau im Jahr 1883 als globales Ereignis, von H. Glenn Penny über räumliche Ordnung, globales Denken und deren Repräsentation in den Völkerkundemuseen des späten 19. Jahrhunderts, von Iris Schröder über die vom Pariser Bankier Albert Kahn nach einer Weltreise 1908/09 initiierten „Archives de la Planète“ als Projekt einer Humangeografie in Bildern sowie von Ute Wardenga über die Raumbilder der geografischen Länderkunde zwischen Globalität und Lokalität. Dabei wird deutlich, dass sich an der langen Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Naturwissenschaften und die sich etablierenden Sozialwissenschaften ausdifferenzierten und neue Methoden entwickelten, die Welt als Ganzes durch Verkleinerung und Abbildung in den Blick zu nehmen. Die neue Epistemologie raumbezogener Forschung verknüpfte sich mit dem politisch-ökonomischen Großmachtstreben des imperialen Zeitalters. Die wissenschaftliche Repräsentation des Globus in seiner Gesamtheit eröffnete eine neue, unvertraute Perspektive auf die Erde und erweiterte damit den Möglichkeitsraum imperialer Machtpolitik. Damit ging eine Globalisierung der Wissenschaften einher, deren Austausch sich durch die Telegrafie und weitere kommunikationstechnische Innovationen außerordentlich verdichtete und vor allem in der Physik sowie in den Geowissenschaften zu weltumspannenden Großprojekten führte.

Der zweite Teil über „Weltordnungsversuche und Territorialität“ vereint Beiträge von Michael Stoyke über die vom Bild der europäischen Stadt geprägten Berichte deutscher Chinareisender um 1900, von Guntram H. Herb über die ethnozentrischen und revisionistischen Territorialkonzepte deutsche Geografen in der Weimarer Republik und von Hans-Dietrich Schultz über deren Europakonzepte im 20. Jahrhundert im Spannungsfeld von konzeptionellen Kontinuitäten und politisch-territorialen Brüchen. Im Lichte der politischen Debatten um den Ort der Türkei im vereinten Europa löst vor allem der letztgenannte Beitrag den Anspruch der Herausgeberinnen ein, durch die Analyse „vergangener Zukunft“ den Blick auf aktuelle Problemlagen zu schärfen und sich in die tagesaktuelle Diskussion einzumischen. Deutlich wird, was eine sich kritisch verstehende historische Raumforschung, die im angloamerikanischen Raum in David N. Livingstone einen besonders exponierten Vertreter hat1, in der Verknüpfung historischer und geografischer Forschungsansätze zu leisten vermag. Durch die Untersuchung von Territorialkonzepten und Raumbildern werden „Macht-Träume als konkrete Macht-Räume“ sichtbar (S. 174). Dabei rückt das Konstrukt der Grenze in den Mittelpunkt der Betrachtung. In den Grenzziehungen der mental maps wird der enge Zusammenhang zwischen Zerteilen und Ordnen manifest, der im englischen Kombinationsbegriff „b/order“ auf den Punkt gebracht ist.

Der dritte Teil über „Repräsentationen des Planeten Erde im ausgehenden 20. Jahrhundert“ umfasst Beiträge von Mechthild Rössler über den Wandel im kollektiven Verständnis des Weltkulturerbes vom Weltwunder zum globalen Kulturgut seit der Welterbekonvention von 1972, von Sabine Höhler über den Begriff „Raumschiff Erde“ als Ausdruck wirkungsmächtiger Lebensraumphantasien im Umweltzeitalter und Timothy W. Lukes kritische Betrachtung globaler Biokomplexitätsmodelle als wissenschaftliche Basis für ein problematisches planetarisches Ökomanagement. Hier zeigt sich einmal mehr die Bedeutung der späten 1960er und frühen 1970er-Jahre als einer epochalen historischen Zäsur, die nicht zuletzt einen Globalisierungsschub bedeutete. In dieser Umbruchphase wurde die Umwelt als Kategorie naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung sowie politischen Handelns entdeckt. Der Planet Erde als Ganzes ist zum Feld politischen Organisationshandelns und wissenschaftsbasierten Managements geworden. Das Problem des Raumes hat sich in dieser Ära intensivierter Globalisierung nicht entschärft, sondern weiter verschärft, wie Sabine Höhler in ihrer verknüpften Untersuchung des hochtechnisierten Raumes Biosphäre 2 und des Technotops des Renault Espace überzeugend argumentiert.

Der Band führt Konzepte und „Provokationen“ (S. 15) aus der historischen Wissenschaftsforschung, der historischen Geografieforschung und der Kulturgeschichte zusammen – mit dem Ziel, Forschungsansätze an der Schnittlinie von historischer und räumlicher Analyse zu erproben und letztlich eine Kulturgeschichte der Globalität zu schreiben. Das Vorhaben, sehr unterschiedliche Forschungskonzepte aufeinander zu beziehen, gerät dort an seine Grenzen, wo die divergierende disziplinäre Prägung der AutorInnen durchschlägt. Nicht allen Beiträgen gelingt es, die hohe Messlatte der Einleitung und des Schlusses zu erreichen und den Ansprüchen der Herausgeberinnen auf Multiperspektivität gerecht zu werden. So vermisst man in den Beiträgen des ersten Teils den Bezug auf jüngere Ergebnisse sozial- und kulturhistorischer Forschung zur Internationalisierung von Politik, Kultur und Wissenschaft.2 Im zweiten Teil fällt die Engführung auf die geografiehistorische Literatur auf, wodurch auch hier wichtige Ergebnisse sozial- und kulturhistorischer Forschung nicht einbezogen werden.3 Für alle drei Teile schließlich gilt, dass der in der Einleitung breit entfaltete Rahmen zentraler historischer Deutungsangebote der Verbindung von Raum und Geschichte im 20. Jahrhundert von Michel Foucault über Charles Maier bis Michael Geyer und Charles Bright von den einzelnen Beiträgen nicht gefüllt wird. Die intendierte Verknüpfung von historischer Wissenschaftsforschung, Sozial- und Kulturgeschichte mit historischer Raumforschung bleibt in der Umsetzung somit auf halbem Wege stecken.

Aber dies sind wohl unvermeidliche Kosten arbeitsteiliger Forschung, zumal wenn sie sich so weit auf Neuland vorwagt, wie dies hier geschieht. Sie schmälern nicht die Bedeutung dieses wichtigen, konzeptionell und methodisch innovativen Buches, das den spatial turn von der programmatischen Ebene auf die Ebene empirisch fundierter Fallstudien heruntertransformiert und auf die Konzepte historischer und sozialwissenschaftlicher Globalisierungsforschung bezieht.

Anmerkungen:
1 Allerdings fällt auf, dass zwar dessen „Klassiker“ herangezogen wird (The Geographical Tradition. Episodes in the History of a Contested Enterprise, Oxford 1992), nicht aber Livingstones für den vorliegenden Band besonders einschlägiges neuestes Werk (Putting Science in its Place. Geographies of Scientific Knowledge, Chicago 2003).
2 Besonders Geyer, Martin; Paulmann, Johannes (Hgg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001.
3 Unter anderem van Laak, Dirk, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004, und Gall, Alexander, Das Atlantropa-Projekt: Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Herman Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt am Main 1998.

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