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Titel
Venedig. Von der Kunst, eine Stadt im Wasser zu bauen


Autor(en)
Huse, Norbert
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irmgard Fees, Institut für Mittelalterliche Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Goethe hat bekanntlich schon 1786 behauptet, von Venedig sei alles gesagt und gedruckt worden, was man sagen kann. Norbert Huse, Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Universität München, stellt das Zitat als Motto über die Literaturhinweise zu seinem neuen Buch, einem schönen, inhaltsreichen, rundum empfehlenswerten Band, der das Goethe-Wort im Übrigen überzeugend widerlegt.

Huse hat seinen Text in neun Kapitel gegliedert. Zunächst widmet er sich in Kapitel 1, „Eine Stadt im Wasser“ (S. 7-34), dem Grundproblem des Lebens und Bauens im Wasser und dem venezianischen Umgang mit diesem Grundproblem über die Jahrhunderte hinweg. Er schildert die Entstehung des „Kunstwerks“ Venedig im Widerstreit zwischen Privatinteressen und Gemeinwohl, im Widerstreit auch zwischen unterschiedlichen Konzepten zur Pflege und Erhaltung der Stadt, von den frühen, bereits im 13. Jahrhundert einsetzenden Maßnahmen der Stadtplanung bis in die Moderne. Faszinierend und gelungen ist der Kunstgriff, dabei vom berühmten Barbaro-Plan des Jahres 1500, einem der größten Holzschnitte seiner Zeit, auszugehen, als „Bilanz, aber auch Vision“ des Städtebaues in Venedig, als „Quelle und Kunstwerk zugleich“, der Venedig als Ergebnis von Entwicklungen zeige, die 1500 zum Teil abgeschlossen, zum Teil aber auch gerade erst in Gang gekommen waren.

Kapitel 2, „Venezianische Plätze“ (S. 35-60), beschreibt und analysiert die großen wie die kleinen Plätze und Höfe als Stadt-, Lebens- und Verkehrsräume und schildert ihre Unregelmäßigkeit und Unvorhersehbarkeit als Charakteristikum der Stadt. Gerade an den Plätzen zeige sich, so Huse, dass in Venedig alles bereits im Überfluss vorhanden ist, „was die Stadtkritik des späteren 20. Jahrhunderts [...] forderte“: „Struktur und Identität, Bildhaftigkeit und Grenzlinien, Wege, Brennpunkte und Merkzeichen, Dichte und Weite, Richtungsdifferenzen und Wiederholungen, Farbigkeit und ortsspezifische Materialien, Vielschichtigkeit und Bildkraft“ (S. 35f.).

Kapitel 3, „Nobili, Cittadini, Popolani“ (S. 61-90), bietet ein breites Panorama der venezianischen Bautätigkeit, von den repräsentativen Prachtbauten, deren Auftraggeber die „Scuole Grandi“ genannten Bruderschaften waren, über die Paläste des Adels bis hin zu den Erzeugnissen des in Venedig seit dem Mittelalter verbreiteten sozialen Wohnungsbaus. Dem Bauen im öffentlichen Auftrag sind die folgenden Kapitel gewidmet; in Kapitel 4, „Im Arsenal und am Rialto“ (S. 91-111), wendet sich Huse zunächst den Einrichtungen für Seefahrt, Militär und Handel zu, in Kapitel 5, „Piazza und Bacino di S. Marco“ (S. 112-143), den Bauwerken, die der Repräsentation und Selbstdarstellung des Staates dienten. Der „Wahrnehmungsgeschichte“ Venedigs nähert sich Kapitel 6, „Von den Vedutisten zu Byron und Ruskin“ (S. 144-165), und setzt dabei den Schwerpunkt in das 18. Jahrhundert, als sich die Zeremonien des Staates in Veranstaltungen für die Fremden zu wandeln begannen (S. 148). Die Entwicklung der Stadt im Industriezeitalter zeichnet das folgende Kapitel 7, „Eine Stadt wie jede andere?“ (S. 166-190), nach, das Eisenbahn- und Bahnhofsbau, Fabrikanlagen, den neu angelegten breiten Durchgangsstraßen des 19. Jahrhunderts auch die ersten Versuche zu Erhalt und Restaurierung der Stadt erfasst.

Kapitel 8, „Venedig und die Moderne“ (S. 191-214), beschäftigt sich mit den ausgeführten oder auch nur geplanten Bauten des 20. Jahrhunderts; den Abschluss bildet Kapitel 9 mit der Frage „In Schönheit sterben?“ (S. 215-225), das in großen Zügen und in deutlich eher hoffnungsvollem als resigniertem Ton die Probleme und Aufgaben der Zukunft Venedigs skizziert.

Der hier gegebene Überblick deutet nur an, wo die jeweiligen Kapitel ihre Schwerpunkte setzen; er kann nicht annähernd den Reichtum des Buches wiedergeben, dessen Inhalt weit darüber hinausreicht, was die Kapitelüberschriften andeuten, und der sich der kurzen Zusammenfassung im Rahmen einer Rezension entzieht. Charakteristikum des Buches ist es, dass es vom architektonischen oder topografischen Detail und dessen Analyse ausgehend die großen Linien der Architektur- und Kunstentwicklung, aber auch der Sozialgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, des politischen Grundgefüges der Stadt nachzuzeichnen versteht. Die Details, von denen Huse ausgeht, sind Pracht- und Repräsentationsbauten ebenso wie Befestigungen, eine Platzanlage, eine Brücke oder ein Hausdurchgang. Immer wieder gelingt es ihm, das scheinbar Bekannte, Altvertraute neu zu zeigen, immer wieder kann er, den konkreten Gegenstand zum Anlass nehmend, die großen Linien von Architektur und Geschichte der Stadt erklären und ihre Besonderheiten verständlich werden lassen. Die kunsthistorische, städtebauliche und topografische Analyse weitet sich zu einer Kulturgeschichte der Stadt.

Langjährige Forschung, aber auch lange Zeit des persönlichen Erlebens der Stadt spiegeln sich in Huses Text. Das freut den Venedig-Kenner, der in den Schilderungen die eigene Erfahrung bestätigt sieht oder dem sich darin ein neuer Blick eröffnet; das kann aber auch einem Venedig-Neuling als Anleitung und Schule des Sehens und Erlebens dienen.

Zur Qualität des Textes passt die Qualität der Abbildungen. Venedig ist unendlich oft fotografiert worden; vieles, was die Stadt einzigartig und unverwechselbar macht, erscheint trotzdem in keinem Buch. Bei Huse finden wir es abgebildet und erläutert: Neue, nie oder selten gesehene Ansichten von Venedig, scheinbar nebensächliche Details der Nutz- und Alltagsarchitektur, Verbindungswege mit hohem Maß „an konstruktiver und stadtästhetischer Intelligenz“ (S. 33), Plätze und Treppen, die Architektur der Moderne von Fabrik- und Bankgebäuden und dem Wohnungsbau der Postmoderne bis zu den (verwirklichten) Plänen von Carlo Scarpa oder den Projekt gebliebenen Entwürfen von Le Corbusier, Frank Lloyd Wright oder Louis Kahn.

Mit seinen Hinweisen zur Literatur (S. 229-243), einer kleinen kommentierten Bibliografie, ist Huse ein weiteres Kunststück gelungen: ein sicherer Leitfaden durch die unübersehbar gewordene Literatur zur Geschichte und Kunstgeschichte (mit Schwerpunkt auf letzterer) der Stadt, nach den Kapiteln des Buches geordnet, der als Einstiegshilfe in die Thematik dienen kann, aber auch Fachleuten fundierte Ratschläge bei der Orientierung im Dschungel der neu auf dem Markt erscheinenden Literatur bietet.

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