J. Ott (Hg.): Stammbuch des J. B. W. Sternberger

Cover
Titel
Stammbuch des Johann Bernhard Wilhelm Sternberger aus Meiningen.


Herausgeber
Ott, Joachim
Anzahl Seiten
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Wilhelm Schnabel, Institut für Germanistik, Universität Erlangen

Stammbücher sind seit längerem ein interdisziplinärer Forschungsgegenstand par excellence. Den meist kleinformatigen Alben, die in der Regel eine Vielzahl von Inskriptionen unterschiedlicher Verfasser enthalten, entnehmen Prosopografen und Biografen Informationen über die Lebensstationen von Stammbuchbesitzern und Einträgern, über ihre Verflechtungen in Netzwerke persönlicher Beziehungen; Historiker unterschiedlicher Ausrichtung suchen nach Anspielungen auf historische Ereignisse, die Wahrnehmung bestimmter Lebensphänomene seitens der Inskribenten; Literaturwissenschaftler finden eine Vielzahl von Texttypen vor, Allusionen auf bekannte und weniger bekannte Texte und eine Fülle von Rezeptionsbelegen älterer und jeweils zeitgenössischer Autoren; Kunst- und Musikwissenschaftler nehmen sich der bildlichen bzw. musikalischen Beigaben zu den Notaten und deren Schöpfer an. Rechtshistoriker und Theologen, Buchwissenschaftler und Autografenliebhaber, Heraldiker, Familienforscher und Studentenhistoriker ziehen die Bände mit jeweils fachspezifischen Frageinteressen heran.

Natürlich kann keine Beschreibung und Untersuchung eines einzelnen Albums all diesen – oft divergierenden Zugängen – gleichermaßen gerecht werden. Der Wunsch, die Unikate einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und die wertvollen Originale zugleich vor ständiger Benutzung zu schützen, führte bereits seit dem 19. Jahrhundert dazu, dass man einzelne Stammbücher, die man aus bestimmten Gründen für wichtig oder interessant hielt, in Reproduktionen verbreitete. Dabei handelte es sich ganz überwiegend um Philotheken bekannter Persönlichkeiten aus Kirchengeschichte, Politik und Kultur oder aus deren Umfeld. Die Erkenntnis, dass auch die Alben weniger exponierter, ja kaum bekannter Besitzer wichtige und reizvolle Aufschlüsse über kulturgeschichtliche Phänomene vermitteln könnten, ist der Stammbuchforschung zwar nicht neu; ihren Niederschlag in der reprografischen Publikation historischer Quellen hat sie gleichwohl erst in jüngerer Zeit gefunden.

In diesem wahrnehmungs- und forschungsgeschichtlichen Kontext gehört der anzuzeigende Faksimiliedruck eindeutig zu der zweit genannten Gruppe von Publikationen. Johann Bernhard Wilhelm Sternberger (1752-1813), der Halter des Stammbuchs, ist weder während seines Studiums noch in seinem spätern Berufsleben in besonderer Weise hervorgetreten. Der aus dem Meiningischen stammende Pfarrersohn immatrikulierte sich im Mai 1773 als Student der Jurisprudenz an der Universität Jena. Dort sammelte er in den nächsten beiden Jahren Einträge von Professoren und Kommilitonen, die sich auffälligerweise häufiger als Studenten der Theologie denn als solche seines eigenen Faches erweisen. Vereinzelt bleiben – wie üblich – Inskriptionen nach dem Eintritt ins Berufsleben. Nur einige wenige datieren noch aus den Jahren 1776 und 1777, nachdem Sternberger in der Residenzstadt Meiningen zum herzoglichen Kommissionssekretär ernannt worden war, ein Amt, das er bis zu seinem Tod ohne Karrieresprung ausfüllte. Bei dem Album handelt es sich um ein typisches Studentenstammbuch der 70er-Jahre des 18. Jahrhunderts, das in der Zusammensetzung seiner Einträger (noch keine Beschränkung auf studentische Inskribenten) und in seinen Texten (Ausgewogenheit ernster und ‚burschikoser’ Verlautbarungen) nicht ungewöhnlich ist.

Warum hat man unter den inzwischen 142 Alben der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek gerade dieses, auf den ersten Blick so ‚durchschnittliche’ Album in aufwendiger Weise reproduziert? Immerhin ist der Queroktavband in vorbildlicher Weise und auf hochwertigem Papier gedruckt, wird selbst das Kleisterpapier des Vorsatzes täuschend wiedergegeben; der Einband ahmt bis hin zur haptischen Qualität den ursprünglichen Ledereinband nach, der Buchblock verfügt über den Rotschnitt des Originals, und neben den beschriebenen Seiten wurden auch die Vakatseiten reproduziert. Ausschlaggebend für die Auswahl des Bänchens – das wird anhand des zugehörigen Kommentars deutlich – war v.a. die reizvolle Ausstattung des Stammbuchs. Sternbergers Philothek weist nämlich eine Folge von neun eingklebten Bildseiten auf, die qualitativ durchaus als überdurchschnittlich bezeichnet werden können. Sie zeigen Motive aus dem Studentenleben, die zwar auch anderweitig überliefert sind, hier aber in besonderer Feinheit geboten werden. Zugeschrieben werden sie traditionell einem „Jenenser Stammbuchmaler mit dem schwarz-goldenen Rand“ 1, der allerdings bisher nicht überzeugend identifiziert werden konnte; möglicherweise handelte es sich um eine ganze Malerwerkstatt, die die Blätter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hergestellt hat.

Diesen Gouachen widmet der Herausgeber, der die Handschriftenabteilung der besitzenden Bibliothek leitet, in seinem Kommentar sein eigentliches Augenmerk. Nach kurzen Vorbemerkungen zur Entwicklungsgeschichte der Stammbuchsitte, einer Beschreibung des Sternbergerschen Albums und einem v.a. aus kirchlichen Quellen rekonstruierten Lebenslauf des Halters beschreibt er in launiger Diktion die Abbildungen, weist aus genauer Kenntnis der lokalen Topografie auf Auffälligkeiten hin und kontextualisiert die Sujets durch den Verweis auf studentische Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen der Zeit. Kurz geht er anschließend auch noch auf die Geschichte und Struktur der Salana und insbesondere auf die Jenaer Rechtswissenschaft ein, deren Lehrveranstaltungen der Stammbuchhalter besuchte. Abgerundet wird das Kommentarbändchen durch ein knappes Literaturverzeichnis (15 Titel) sowie eine zweifache Aufschlüsselung der Einträge nach physischer Folge und Nachnamen der Inskribenten (auf eine Liste in chronologischer Folge wurde leider verzichtet). Ein kurzes Abkürzungsverzeichnis erleichtert dem Nichtfachmann die Entschlüsselung der zeit- und stammbuchtypischen Abbreviaturen.

Insgesamt wendet sich das schön und aufwendig hergestellte Faksimile mit seinem Begleitbändchen in erster Linie an ein bibliophiles Publikum, das gut gemachte Reproduktionen reizvoller Illustrationen zu schätzen weiß und sich vielleicht auch an der Entzifferung der alten Einträge versuchen will. So gesehen wird die Ausgabe als Liebhaberedition und Geschenkband unter älteren und jüngeren Musenjüngern der Salana sicher ihren Abnehmerkreis finden. Dem Fachpublikum stellt sie zudem ein bequem greifbares Beispiel eines Studentenalbums zur Verfügung, das genauere Untersuchungen zur Wahl der Eintragstexte, zum zeit- und milieuspezifischen Zitierkanon, zur Selbststilisierung der Inskribenten durch die Eintragstexte und den dahinterstehenden Wertkonzepten anregen könnte. Thematisiert werden könnte weiter die Entwicklung der Textsorte „Stammbucheintrag“ (in diesem Fall etwa das auffällige Fehlen persönlicher „Memorabilia“, die ansonsten zu dieser Zeit recht häufig sind), die Wahl der verwendeten Sprachen (deutsch, lateinisch, französisch), die potentiellen Formen von Bild-Text-Relationen oder die paratextuelle Dokumentation von Beziehungsgruppen durch die im vorliegenden Band ausgesprochen häufigen Konjunktionsformeln („sic pagina jungit amicos“ o.ä.). Aber das sind Fragen, die weiterer Auswertung des Exemplars im Kontext ähnlicher Belege vorbehalten bleiben.

Bei allem Verständnis für das ja auch in der Wissenschaft verbreitete Interesse an Stammbüchern, die hinsichtlich ihres einstigen Halters, der versammelten Einträger oder der Texte außergewöhnlich oder gar spektakulär sind: die Konturen einer ‚Norm’, die tatsächliche historische Benutzungspraxis lassen sich sachgemäßer an den ganz ‚normalen’ Alben rekonstruieren. Nur auf diese Weise lassen sich in einem weiteren Schritt die zahlreichen ‚Abweichungen’ analysieren, die in der Regel weitaus eher wahrgenommen werden. Dass die vorliegende Edition dafür einen Baustein liefert, dass sie die reizvollen Gouachen, die den Liebhabern den eigentlichen Kaufanreiz vermitteln werden, innerhalb ihres ursprünglichen Überlieferungszusammenhangs wiedergegeben hat, kann man nur begrüßen.

Anmerkung:
1 Leider fehlt eine einschlägig wichtige Miszelle im Literaturverzeichnis: [Wilhelm] Fabricius, Der Jenenser Stammbuchmaler („Mit dem schwarz-goldenen Rand“), in: Konrad, Karl, Bilderkunde des deutschen Studentenwesens. Nachträge und Ergänzungen, Breslau 1935, S. 183.

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