H. Timmermann (Hg.): Die DDR in Deutschland

Cover
Titel
Die DDR in Deutschland. Ein Rückblick auf 50 Jahre


Herausgeber
Timmermann, Heiner
Reihe
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V. 93
Erschienen
Anzahl Seiten
936 S.
Preis
DM 198,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Ulrich Weiß, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der vorliegende Sammelband vereint 48 aufgearbeitete Beiträge der DDR-Forschertagung von 1999 in Otzenhausen, die im Rahmen der seit 1986 stattfindenden internationalen und interdisziplinären Konferenzen des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts (SFI) der Europäischen Akademie Otzenhausen abgehalten wurde. Die Artikel der überwiegend deutschen Autoren aus unterschiedlichen Generationen und aus verschiedenen Richtungen historischer und z.T. soziologischer Aufarbeitung werden ergänzt durch Beiträge einiger zeitgenössischer politischer Akteure und Zeugen wie István Horváth (ungarischer Botschafter a.D.), Igor F. Maximytschew (sowjetischer Gesandter a.D.), Michael Mertes (Leiter des Redenschreiberreferats im Bundeskanzleramt) oder Günter Schabowski. Die Aufsätze wurden in die sechs Abschnitte Einführung, Außenbeziehungen, Herrschaft, Gesellschaft, Kultur und Mentalität sowie Fall der Mauer gegliedert, wobei das Schwergewicht eindeutig auf dem zweiten, vierten und fünften Thema lag.

Was für den Tagungsverlauf möglicherweise belebend gewirkt hat, nämlich die Vielfalt der Themen und Ansätze der Beiträge, erweist sich für den Aufbau, die Aussagekraft und den Nutzen des gedruckten Konferenzbeleges aus Sicht des Lesers als etwas problematisch. Der im Titel angekündigte Rückblick suggeriert ein Potential synthetisierender oder verallgemeinernder Aussagen zum Diskussionsgegenstand, dem jedoch viele Darstellungen nicht gerecht werden. Etliche Autoren blieben zu sehr ihrem jeweiligen Spezialthema verhaftet, ohne vorangehende oder abschließende Einbettung in den vom Veranstalter vorgegebenen historischen Anlass. Sie bieten in ihrem jeweiligen Forschungsfeld durchaus interessante Falluntersuchungen und Projektvorstellungen. Allerdings ergibt sich für den Gesamteindruck des Bandes ein Bild von zusammenhangloser Stückarbeit bzw. das eines Sammelsuriums von Einzel- oder Zwischenergebnissen aus vielen Richtungen der DDR-Forschung, deren Aktualität jetzt, zwei Jahre nach ihrer ursprünglichen Präsentation, unter Umständen schon wieder eingeschränkt sein könnte.

Diese Wahrnehmung verursacht auch die oben genannte sechsteilige Grobgliederung, da bis auf den Abschnitt Außenbeziehungen und Mauerfall die Zuordnungen der Artikel unter die unspezifischen Oberbegriffe Herrschaft, Gesellschaft oder Kultur/Mentalität oft entweder nicht zwingend oder aber austauschbar erscheinen. Hier hätte sicherlich ein Vorwort oder Einleitungen zu den Kapiteln manche Absichten oder Motive der Zusammenstellung deutlicher machen, aber vor allem auch bestimmte inhaltliche Klammern herstellen können.

Am gelungensten strukturiert ist der Abschnitt über die Außenbeziehungen, der einen gewissen chronologischen Faden aufweist und über dessen Beiträge sich ein Gesamtbild außenpolitischer Konfigurationen der DDR ergibt. Gerhard Wettig untersucht die DDR-Gründung vor dem Hintergrund der stalinschen Deutschlandpolitik, deren ursprüngliche Taktik von der Wahrung der deutschen Einheit ausging. Heike Amos zeichnet die, letztlich erfolglose, Rolle der Nationalen Front für die öffentlich-propagandistische, national ummäntelte Westarbeit der SED bis zum Mauerbau nach. Ausgehend vom ungarischen Volksaufstand 1956 gibt István Horváth aus seiner Sicht einen wertenden, holzschnittartigen Überblick über die Beziehungen zwischen Ungarn und der DDR, der in die sechziger Jahre hineinreicht. Bemerkenswert sind dabei u.a. die Heraushebung der anhaltenden schlechten Kulturbeziehungen zwischen den beiden Staaten und die Position Ungarns als Ort deutsch-deutscher Begegnungen.

Die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, besonders vor dem Hintergrund der Hallsteindoktrin, behandeln die Aufsätze von Michael Lemke und Ulrich Pfeil. Ersterer behandelt und vergleicht die unterschiedlichen Rollen Jugoslawiens und Rumäniens in der SED-Strategie zur Erlangung der internationalen Anerkennung bis zum Jahre 1967, als dieses Problem gerade mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Rumänien eine besondere Brisanz erhielt. Die ostdeutschen Reaktionen auf den Elysée-Vertrag von 1963 und die Bemühungen der SED gegen daraus folgende, mögliche Aufweichungen der östlichen Blocksolidarität stehen dagegen im Zentrum der Ausführungen von Pfeil. Ein sehr instruktive Studie liefert Siegfried Schwarz über das vierzigjährige, sich von völliger Ablehnung über ein Denkwandel hin zur realistischen Akzeptanz entwickelnde Verhältnis der DDR zum westeuropäischen Integrationsprojekt. Den dreistufigen Prozess, der vor allem am Beispiel der Rezeption in der östlichen Publizistik belegt wird und der schließlich 1989/90 sein Ende findet, gliedert der Autor nachvollziehbar in die Phasen 50er/60er, 70er und 80er Jahre.

Während Jana Wüstenhagen die Rolle von Werner Lamberz im Eritrea-Konflikt und damit ein Stück DDR-Engagement in der Dritten Welt beleuchtet, beschreibt Jürgen Nitz, als erklärter Insider, aufschlussreich einige weniger bekannte Projekte und Pläne auf Staatsebene zur Hebung und Etablierung des deutsch-deutschen Verhältnisses in den achtziger Jahren. Ausgehend von der Feststellung, Russland stände momentan vor einem Trümmerhaufen seiner bisherigen Politik der Partnerschaft mit dem Westen, berichtet Igor F. Maximytschew aus persönlicher/sowjetischer Perspektive von der Phase des Umbruchs 1989 bis zur neuen Einheit Deutschlands und Europas sowie den Folgen für sein Land. Dabei geht er hart mit Gorbatschow ins Gericht, dessen damaliger Politik er ruinöse Konzeptionslosigkeit vorwirft, und diagnostiziert, dass Deutschland, als Verfechter der NATO-Expansion und neuerdings Beteiligter an internationalen militärischen Einsätzen, die traditionellen russischen Sicherheitsinteressen missachten und damit erheblich zur Verschlechterung der gegenseitigen Wahrnehmungsmuster beitragen würde.

In den Kapiteln Herrschaft, Gesellschaft, Kultur und Mentalität fällt das besondere Interesse der Autoren an der Untersuchung oppositioneller und reformerischer Bestrebungen bzw. alternativer Frei- und Handlungsspielräume in der DDR-Gesellschaft auf. Das Spektrum umfasst den Strafvollzug (Tobias Wunschik), das kirchliche Umfeld (Beatrice Jansen-de Graf, Christine Koch), die Frauenbewegung (Samirah Kenawi), die SED-Reformbewegung (Lutz Kirschner) und die Oppositionsbewegung (Martin Jander). Die Beiträge lassen mehr oder weniger die Notwendigkeit erkennen, definitorische Abgrenzungen vornehmen zu müssen, so dass die zentrale Frage der Auslegungen von Opposition, Resistenz, Widerstand etc. wiederholt thematisiert wird.

Interessant ist hierbei der Aufsatz von Wunschik, der sieben Formen widerständigen Verhaltens von Häftlingen vorstellt, die er anhand von Ereignissen aus der gesamten DDR-Geschichte belegt. Großen Raum nehmen Studien über die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 einschließlich seines Vorlaufs und seiner Auswirkungen ein: Sie reichen von der Parteigeschichte der LDPD (Jürgen Fröhlich) über die Bürgerbewegungen (Uta Stolle, Karin Urich) und soziale Transformationsfolgen (Heidemarie Stuhler, Juliette Wedl) bis hin zur Medienentwicklung (Thomas Beutelschmidt). Bemerkenswert und kritikwürdig sind dabei die kontrovers anmutenden “Handreichungen für eine Historisierung der Revolutionsgeschichte von 1989/90” von Uta Stolle. Sie spricht sich in einem leidenschaftlichen Plädoyer für die deutliche Hervorhebung der Rolle der Volksbewegung (vor allem der Ausreiser) und der einfachen Bürger, “die eigentlichen Revolutionäre”, gegenüber den damals medienpräsenteren Bürgerrechtlern aus, wobei sie vor allem den Widerstand der letzteren gegen eine schnelle Wiedervereinigung zum Ausgangspunkt ihrer Bewertung macht.

Auch das Kapitel VI, das sich mit Beiträgen von Günter Schabowski, Manfred Wilke, Karl Wilhelm Fricke und Barbara Rowe dem Fall der Mauer widmet, gehört in diesen Themenbereich. Während Schabowski und Wilke die Umstände der Öffnung nachzeichnen, thematisiert Fricke die Bedeutung der Flucht- und Ausreisebewegung und der Untätigkeit des MfS für das Ereignis. Nennenswert ist auch die Arbeit von Rowe, die den Mauerfall aus der größeren historischen Perspektive Großbritanniens heraus analysiert.

Eher den Charakter von aktuellen Statements haben die Beiträge von Achim Preiß, Kurator der NS- und DDR-Kunst in der heftig diskutierten Weimarer Ausstellung “Aufstieg und Fall der Moderne” im Jahre 1999, der hier sein damaliges umstrittenes Konzept vorstellt bzw. rechtfertigt und von Alexander U. Martens, der beim Streit um die deutsche Kultur für Fairness und größere Objektivität plädiert. In diesen Rahmen deutsch-deutscher Dialoge gehört ebenfalls die mehr deskriptive Auswertung von Besucherbüchern dreier Ausstellungen von DDR-Kunst nach 1989 durch Bernd Lindner.

Einen erweiterten historischen Horizont bieten die Aufsätze von Roland Höhne über die Geschichte der Blockpartei NDPD und von Beate Ihme-Tuchel, die einen Zusammenhang zwischen der Fehlinterpretation des Charakters der “Wende” durch ostdeutsche Literaten - nach Wolfgang Lepenies das “Desaster der interpretierenden Klasse” - und der frühen Schriftstellerpolitik der SED herstellt. Gleiches lässt sich auch von Sven Korziliius‘ komparatistischem Ansatz zur DDR-Kriminologie sagen.

Unter vorrangig soziologischem Aspekt untersuchen Cortina Gaumann und Thomas Ahbe die gerade in den alten Bundesländern häufig unverstandenen Phänomene der ostdeutschen Identität und ‚Ostalgie‘. Erstere weist empirisch nach, dass die Ost-Identität auf der Prägung durch Sozialisation und Langzeitwirkung, aber auch auf Negativerfahrungen im Einigungsprozess und dem Anpassungsdruck der ostdeutschen Gesellschaft an das bundesdeutsche Muster basiert. Ahbe interpretiert ‚Ostalgie‘ als Identitäts-Arbeit, d.h. als Versuch der “Selbstvergewisserung, der Re-Vision und Wiederaneignung von eigener Vergangenheit”.

Wenngleich der Band für den Spezialisten sicherlich nützlich ist, kann er jedoch den (nicht formulierten) Anspruch einer wie auch immer gearteten Gesamtschau nicht erfüllen.

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