R. v. Bruch: Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich

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Titel
Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich.


Autor(en)
vom Bruch, Rüdiger
Herausgeber
Liess, Hans-Christoph
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Historisches Seminar, Geschichte und ihre Didaktik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Es gilt einen Aufsatzband zu besprechen, der in doppelter Hinsicht von großem Interesse ist. Zum einen ist der Autor einer derjenigen Historiker, die sich am intensivsten mit der Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert - und hier speziell des Bildungsbürgertums - beschäftigt haben. Zum anderen legt der Autor mit diesem Band gewissermaßen „Rechenschaft“ ab über seine mehr als zwanzig Jahre andauernde Beschäftigung mit diesem Sujet. Interessant ist dabei, ob und inwieweit es durchgehende Entwicklungslinien gibt, ob und inwieweit den Verfasser die Ergebnisse der allgemeinen Bürgertumsforschung in seinen maßgeblichen Schriften beeinflusst haben und inwieweit er seinen Ausgangsüberlegungen im Ganzen doch weitgehend treu geblieben ist. Dies ist umso spannender, als die Bürgertumsforschung gerade in den letzen Jahrzehnten rasante Fortschritte gemacht hat, manche Publikation daher schnell „veraltet“ sein könnte. Zu diesem Aspekt jedoch kann der Sammelband nur bedingt etwas beitragen: Die meisten der Aufätze stammen aus den späten 1980er-Jahren, einer Zeit, in der die Bürgertumsforschung gewissermaßen noch in ihrer „Formierungsphase“ steckte. Das gilt insbesondere für den ersten Teil des Bandes. Dort stammen die Texte – mit einer einzigen Ausnahme – alle aus einem einzigen Jahr (1989), stellen uns also den Forscher vom Bruch punktuell vor 15 Jahren vor. „Veraltet“ jedoch ist kein einziger dieser Aufsätze.

Ausgangspunkt (fast) aller der in diesem Band abgedruckten Essays ist die Affinität zum Modernisierungsparadigma des Kaiserreichs. Vom Bruch hat bereits in seinen frühen Studien die Auffassung kritisch betrachtet, dass das deutsche Kaiserreich politisch unrettbar verkrustet und praktisch nicht mehr reformierbar gewesen sei. Er hat demgegenüber immer die Chancen eines in Richtung bürgerlicher Demokratie und moderner Industriegesellschaft abzielenden Potentials erkannt: Vor allem, er hat diesen Aspekt bereits betont als das noch keineswegs historiografische Mehrheitsmeinung war. Diese Ansicht ist insbesondere durch seine frühe Beschäftigung mit der Kultur im späten Kaiserreich entstanden und „befestigt“ worden. Der „kulturgeschichtliche Blick“ brachte aus seiner Sicht – und dafür gibt er in diesem Band überzeugende Beispiele – neue Tiefenschärfe nicht nur für die Interpretation der Politik, sondern auch für die gesellschaftlichen Dispositionen und Entscheidungen im späten Kaiserreich. Objekt dieser „kulturellen Sonde“ sind ihm dabei immer wieder die Impulse aus dem Bürgertum und dort vor allen die, die von den bürgerlichen Sozialreformern ausgegangen sind.

Mit Fragen nach der sozialen Verortung des Bürgertums und der Definition von Bürgerlichkeit hat er sich hingegen weniger intensiv beschäftigt. Ihm ging es – wenn man in diesen Kategorien bleiben will – vor allem um Bürgerlichkeit und um den Weg des Kaiserreichs in eine „bürgerliche“ Gesellschaft, weniger um die soziale Formation „Bürgertum“. Sein Ansatz scheint allerdings umso bedeutender und geradezu „hellsichtig“ gewesen zu sein als „Bürgertum“ gegenwärtig mehr und mehr als kulturelles Ensemble und weniger als soziale Gruppe verstanden wird.

Der erste Teil des Bandes behandelt Themen, die sich im weitesten Sinne mit der Kultur und ihren Veränderung im Kaiserreich beschäftigen. Es geht etwa um „Den wissenschaftlichen Menschen“ und den „Kulturstaat“, um „Kaiser und Bürger“ und nicht zuletzt um „Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bürgertums im Wilhelminischen Reich“. Untersucht werden kulturelle Umbrüche, die Erfahrungen mit ihnen – und ihre Folgen. Dabei wird diese Sphäre jedoch – wie immer bei vom Bruch – in konkrete Politik und in ökonomische Rahmenbedingungen eingebettet. Auf der einen Seite gilt das Interesse der nationalen, nach innen wirkenden, zugleich aber auch der international, nach außen wirkenden Geltung von Kultur als wesentlichem Element deutschen Selbstverständnisses, aber auch deutscher Weltgeltung und Dominanz. Auf der anderen Seite steht die sozial ausgleichende Gerechtigkeit im Mittelpunkt, die in den von ihm diskutierten Themen immer einen entscheidender Bestandteil des so verstandenen deutschen Kulturstaates darstellte. Beides gehört notwendigerweise zusammen. Bei diesem Verständnis ergibt es sich nahezu von selbst, dass die „Schmoller-Richtung“ innerhalb der deutschen Sozialtheoretiker ihn in besonderem Maße beschäftigt (S. 103).

Im zweiten, umfangreicheren Teil kreisen die Aufsätze vom Bruchs – hier auch zeitlich diversifiziert zwischen den Jahren 1981 bis 2002 – schwerpunktmäßig um bürgerliche Reformimpulse und die Problematik der Modernisierung im deutschen Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg. Aber auch dabei bleibt der „kulturelle Faktor“ von erheblicher Relevanz. Kultur ist bei vom Bruch immer angebunden an Politik und Ökonomie – das unterscheidet ihn von manchem Vertreter eines modernen kulturgeschichtlichen Zugriffs, der die Ökonomie schlichtweg aus den Augen verloren hat, wenn er sie nicht sogar bewusst am liebsten ganz „verbannt“ sähe. Vom Bruch präsentiert sich insofern als früher Wegbereiter einer Auffassung, die das Bürgertum zwar auch in hohem Maße kulturell verortet, zugleich aber immer auch auf dessen gesellschaftlich-ökonomischen Funktionen und politische Bedeutung abhebt. Darin – so zeigen die vorliegenden Aufsätze – ist er sich über den Zeitraum von zwanzig Jahren treu geblieben.

Ganz zweifellos sind die Beiträge vom Bruchs zur bürgerlichen Sozialreform, ihren Grenzen, aber auch ihren Potentialen, von besonderer Eindringlichkeit. Bereits in dem frühen Aufsatz von 1981 über das Thema „Streiks und Konfliktregelung im Urteil bürgerlicher Sozialreformer 1872-1914 (S. 150-165) steht dieses Thema, kritisch aber zugleich doch auch die modernen Optionen betonend, im Mittelpunkt. Mit großer Feinfühligkeit werden dabei Motivation und Interessen der bürgerlichen Sozialreformer herausgearbeitet, die Bedeutung wissenschaftlicher Positionen bei der realen Durchsetzung dieser Ideen verdeutlicht, wird nach den verbindlichen Grundmustern zur wissenschaftlichen Reflexion sozialer Konfliktregelungen gefragt und deren komplexer Zusammenhang dargestellt. Und immer wieder wird die bedeutende Rolle des Staates analysiert. Es geht dabei häufig auch um die „Ehe“ des Protestantismus mit dem preußischen Staat und um deren reformhemmende Folgen, aber auch um die trotzdem bestehenden Möglichkeiten sozialen Agierens, also um die bürgerlich protestantischen Bemühungen, Staat, Arbeiterschaft und Unternehmer miteinander zu versöhnen.

Kritik zu üben fällt nicht leicht. Formal stimmt in diesem Band alles: Die Aufsätze sind sorgfältig überarbeitet, in ihrem Anmerkungsapparat „modernisiert“ – und nach wie vor gut lesbar, in einer Sprache, die nicht von vornherein die Nichtbildungsbürger ausschließt. Auch das ist sicherlich ein Anliegen des Verfassers. Vom Inhaltlichen ist nur zu bedauern, dass die Aufsätze zeitlich nicht breiter gestreut sind. Die wissenschaftlichen Entwicklungslinien vom Bruchs während seiner mehr als 20-jährigen Forschungsarbeiten können so leider nicht immer ganz nachvollzogen werden. Insgesamt aber ist es höchst erfreulich, dass viele weit verstreut liegende und nach wie vor aktuelle Arbeiten des Verfassers nun so zentral und leicht greifbar sind.

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