Cover
Titel
Gegenansichten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956-1989


Herausgeber
Hamersky, Heidrun
Erschienen
Anzahl Seiten
195 S., 255 SW-Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Genest, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Heidrun Hamersky von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen hat einen wunderbaren und sehr gewinnbringenden Band vorgelegt, in dem sie einige Facetten der osteuropäischen Opposition betont und ausführt, die im gegenwärtigen Forschungsstand keine dominante Rolle spielen. Sowohl die Einführung und der einführende Essay als auch die zusammengetragenen Fotografien aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und der DDR zeigen Aspekte und Knotenpunkte auf, deren Vertiefung neue Aspekte der Oppositionsforschung im Kommunismus eröffnen könnte. Fotobände und Alben stehen bisweilen etwas quer zu anderen wissenschaftlichen Werken; sie passen schlecht ins Bücherregal und werden eher mit einem blätternden Gestus in die Hand genommen. Dies trifft auf das vorliegende Buch nicht zu, das, als kommentiertes Fotoalbum konzipiert, mit Hilfe des Mediums Fotografie einen neuen Blick auf die osteuropäische Oppositionsszene eröffnet.

Die Forschung zur osteuropäischen Opposition und zur Untergrundarbeit ist bis heute stark durch die damaligen Akteure/innen geprägt. Dies birgt neben vielerlei Vorteilen und unmittelbaren Einblicken die Krux, dass bestimmte Subtexte, Gleichzeitigkeiten, Widersprüche, Phasenverschiebungen und Grenzen in der Retrospektive verschwimmen oder schlicht als selbstverständlich mitgedacht und darum nicht mehr hervorgehoben werden. Die eigene Biografie lässt Entwicklungen als kaum erwähnenswert erscheinen, die durchaus gesondert reflektiert werden müssten. Zu diesen Themen gehören in erster Linie die innere Dynamik und die Wechselwirkungen oppositionellen Verhaltens, die Differenzierung von Opposition in ihren unterschiedlichen Facetten, das Bestimmen der Grenzen des eigenen Handelns sowie die Interaktion mit Öffentlichkeiten, die außerhalb der eigenen oppositionellen Kreise standen.

Die von Hamersky zusammengetragenen Bilder ermöglichen zum einen den vergleichenden Blick auf einige Länder Ost- und Ostmitteleuropas, die hier nicht – wie meist – getrennt voneinander, sondern nach bestimmten Kategorien gemeinsam betrachtet werden. In der Schaffung einer selbstbestimmten Gesellschaft kommt dem Medium Fotografie eine vielfältige Bedeutung zu. Die Bilder stellen eine Erinnerung dar, eine Selbstvergewisserung der eigenen Arbeit, aber auch eine Demonstration der oppositionellen Tätigkeit nach außen. Im Bewusstsein dieser Bedeutungen, die die Fotografie haben kann, wurden künstlerische und politische Veranstaltungen bildlich festgehalten. Es wurden sogar eigene unabhängige Fotoagenturen gegründet (vor allem in Polen), deren Bilder in den Untergrundpublikationen und in eigens zusammengestellten Fotomappen publiziert wurden.

Fast alle Bilder in diesem Band lassen sich einer Person oder einer Agentur zuordnen. Die unabhängigen Fotoagenturen gaben ausgebildeten Fotografen die Möglichkeit, ihren Berufen nachzugehen, ohne sich von den staatlichen Zensurbestimmungen abhängig zu machen. Daneben finden sich zahlreiche Beispiele von Laienfotografen, die sich der Fotografie als Medium zur Publikation von Bildern und Texten zugewandt haben. Die in den vorliegenden Bildern gewählten Perspektiven und Motive lassen sich also auf das Interesse von Mitgliedern aus den eigenen Kreisen zurückführen; sie zeigen, was die Gruppen zeigen wollten. Im Gegensatz dazu sind viele der Bilder der Proteste und Aufstände in Ost- und Ostmitteleuropa von staatlichen Stellen aufgenommen worden, womit diese politischen Krisen vielfach aus einer staatlichen Perspektive ins kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben worden sind.

Hamersky hat die Bilder aus den unterschiedlichen Oppositions- und Fotoarchiven sowie aus dem Besitz von Privatpersonen zusammengetragen und damit in der Zusammenstellung eine neue Perspektive auf die Opposition in Ost- und Ostmitteleuropa geschaffen. Auch wenn die Aufmerksamkeit für diese Bilder bislang eher gering war, existiert in Europa (vor allem in Moskau, Warschau, Prag, Budapest, Bremen und Berlin) und den USA eine ganze Reihe von Sammlungen (S. 12f.).

Im ersten Kapitel („Aufbrüche und Ende der Illusionen“) werden Gruppen oder Personen dargestellt, die sich bereits früh in einer kritischen Absicht zusammengefunden haben oder aufgefallen sind. Diese Bilder, die Ende der 1950er- und in den 1960er-Jahren aufgenommen wurden, zeigen frühe Akteure der oppositionellen Szene und gewinnen natürlich an Aussagekraft mit dem Wissen um die spätere Bedeutung dieser Menschen in der sich entwickelnden Bewegung. Es ist kein neuer, aber ein weiterhin wichtiger Befund, dass sich bestimmte politische Zusammenhänge und Kontakte über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt haben.

Im Kapitel „Für Menschen- und Bürgerrechte“ sind es in erster Linie Szenen der Unterstützung, die den Beginn organisierter und programmatischer Arbeit zeigen. Gruppen demonstrieren gegen Inhaftierungen, bilden Menschenrechtskomitees, machen auf politische Prozesse aufmerksam und besuchen Inhaftierte. Aus einigen Lagern und Gefängnissen sind Fotos überliefert. Aus Polen existieren ganze Serien über das Leben und die politische Arbeit in den Gefängnissen. Hier werden die unterschiedlichen Facetten oppositioneller Arbeit angedeutet, die sich in persönlicher Unterstützung, öffentlichen persönlichen oder schriftlichen Protesten, Untergrundpublikationen und -druckereien, Solidaritätskomitees, Treffen mit ausländischen Oppositionellen, aber auch in einem unabhängigen Kulturbetrieb mit Konzerten, Liederabenden, Lesungen und Theateraufführungen zeigten. Die unterschiedlichen Etappen der Arbeit können ebenfalls illustriert werden; während ein Bild die Verkaufsstelle für Untergrundliteratur in der Wohnung des Budapester Künstlers und Architekten Laszlo Rajk zeigt (S. 71), halten andere eine Beschlagnahmung von Publikationen und Fotomaterial in Warschau bzw. eine Räumung von Rajks Wohnung fest (S. 58, S. 71).

Der Solidarność-Bewegung in Polen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Zusammenhang der Proteste von 1970 und 1980 zeigen die Bilder einen triumphierenden Solidarność-Anführer neben dem von der Miliz schwer verletzten Verhandlungsführer Jan Rulewski (S. 78f.). Aufgebaute Büros, Radiosender, Druckereien der 16 Monate zuvor offiziell anerkannten Solidarność wurden mit Verhängung des Kriegszustandes 1980 geschlossen und verwüstet. Die Arbeit wurde von nun an im Untergrund fortgeführt, aber trotzdem nach außen dokumentiert. Ganze Fotostrecken zeigen den Ablauf eines Druckprozesses – mit Druckern, deren Köpfe zum Schutz ihrer Identität bandagiert sind. Die unabhängige Agentur „Fakty“ gab Fotosammlungen zu unterschiedlichen politischen Aktionen heraus; zu sehen ist etwa der Weg eines Flugblatts vom Druck bis zu seiner „Versendung“ inmitten eines Flugblattregens von einem Hausdach auf eine belebte Einkaufsstraße hinab.

Das vierte Kapitel („Gesellschaftliche Initiativen. Bürger für Glaubensfreiheit, Minderheiten, Frieden und Naturschutz“) zeigt unterschiedliche Motivationen und Anlässe, zu denen sich die Menschen in heimlichen und unabhängigen Gruppen zusammenfanden. Dies konnte eine Schweigeminute mitten in Moskau gegen die staatliche Missachtung der Verfassung sein, eine massenweise besuchte Beerdigung, Demonstrationen von Minderheiten, vielfach aber auch Aktionen, die von den Kirchen ausgingen – wie öffentliche Taufen, Gottesdienste oder die Einrichtung des „Kirchentags von unten“, die allesamt für eine Anerkennung Andersdenkender eintraten. Es entstanden Initiativen zum Umweltschutz und gegen den Einsatz mit der Waffe, Friedenswerkstätten und -seminare, Mahnwachen und Treffpunkte, wie beispielsweise die Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde.

Der fünfte und umfassendste Teil zeigt „Widerständige Kultur zwischen Verbot und Duldung“ – ein Bereich, dessen Vielfalt und Bedeutung hier nur angedeutet werden kann. In seiner Kommentierung betont Wolfgang Schlott das weite Spektrum zwischen Verbot und Duldung. Die jeweiligen Handlungsspielräume hingen vom Zeitpunkt und von willkürlichen Entscheidungen ab. Ausstellungen, Theateraufführungen, Vorträge, Konzerte, Lesungen fanden sowohl in völliger Abgeschiedenheit als auch in „Grauzonen“ statt, wie unter dem Dach der Kirche oder in wissenschaftlichen Institutionen.

Der sechste und letzte Teil zeigt unter dem Titel „Beschleunigung der Wende. 10 Jahre – 10 Monate – 10 Wochen – 10 Tage“ Demonstrationen, Mahnwachen und Aktionen am Vorabend der Systemumbrüche in den einzelnen Ländern. Obwohl die meisten Bilder aus den Jahren 1988 und 1989 stammen, illustrieren einige Fotos aus den früheren 1980er-Jahren den langen Prozess, der dieser relativ raschen Entwicklung vorausging.

Eingerahmt werden die reich kommentierten Fotografien von einer Einleitung der Herausgeberin und einem umfassenden Essay Wolfgang Eichwedes, der die Vielfältigkeit der oppositionellen Tätigkeiten in Ost- und Ostmitteleuropa verdeutlicht und der Bedeutung der Fotografie im Untergrund nachgeht. Einen Überblick geben schließlich eine Chronologie der politischen Ereignisse in den Ländern Ost(mittel)europas sowie eine Auswahlbibliografie, die sich in der deutschen Buchfassung allerdings auf Beiträge in deutscher und englischer Sprache konzentriert.

Die Bilder, die vom Dokumentarischen bis hin zu sehr artifiziellen Aufnahmen reichen, vermitteln einen Eindruck der Reichhaltigkeit oppositioneller Tätigkeiten. Ihre Aussagekraft verstärkt sich durch die Bildunterschriften, die den Hintergrund der festgehaltenen Momente beschreiben und erklären. Es sind besonders die Überlappungen und vermeintlichen Widersprüche, die den Band interessant machen. Die Bilder vermitteln einen Zusammenhang von Protestaktionen, Untergrundliteratur, programmatischer Arbeit, Kunst, gesellschaftlicher Selbstorganisation und eigenem Lebensstil, der aus rein textlichen Dokumenten und Analysen sonst kaum zu beziehen ist.

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