M. Görtemaker: Thomas Mann und die Politik

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Titel
Thomas Mann und die Politik.


Autor(en)
Görtemaker, Manfred
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: S. Fischer
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Goll, Fachbereich Erziehungswissenschaften und Soziologie, Universität Dortmund

Das Jahr 2005 war eines des Großgedenkens. Albert Einstein und Friedrich Schiller beherrschten die Gedächtnislandschaft. Nach dem Willen des S. Fischer Verlags durfte auch Thomas Mann, dessen Todestag sich im August zum fünfzigsten Male jährte, nicht fehlen. Doch was sollte – um nur einige Werke der letzten Jahre zu nennen – nach den umfassenden Biografien von Donald A. Prater, Klaus Harpprecht und Herman Kurzke1, nach Hans Wißkirchens und Heinrich Breloers Beschäftigung mit der Familie Mann2, nach den Veröffentlichungen von Inge und Walter Jens sowie Hildegard Möller zu den Frauen der Familie Mann3 noch die Aufmerksamkeit des Mann-gesättigten Publikums wecken? Der Verlag beschloss also, es mit der Politik zu versuchen. Dazu verpflichtete er den Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker. Der Name hat einen guten Klang. Görtemaker ist ausgewiesen durch zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen und europäischen Geschichte. Und auch das Thema ist durchaus reizvoll. Kaum ein deutscher Schriftsteller war zu seiner Zeit politisch so umstritten und umkämpft wie Thomas Mann.4

Der Klappentext verheißt Großes. Nichts anderes als ein „neues Licht“ auf das Verhältnis Thomas Manns zur Politik sei zu erwarten. Doch kann dieses Versprechen eingelöst werden? Die Antwort lautet: Nein. Görtemaker entwickelt keine originelle Sicht auf Thomas Mann. Sein auf vier Textseiten knapp daherkommendes Urteil nach 234 elegant geschriebenen und flüssig zu lesenden Seiten ist konventionell und folgt dem Mainstream der Thomas-Mann-Forschung. Görtemaker kennt und nennt wesentliche Autoren/innen, aber Ansätze, die andere Akzente auf Thomas Manns Schaffen setzen, ignoriert er.5 Er lehnt sich zum Beispiel über weite Strecken an Klaus Harpprecht an, wenn es um Thomas Manns Einschätzung der USA und der Sowjetunion geht, und er unterfüttert das Urteil mit einer Darstellung der politischen Überlegungen in Washington und London. Dazu zitiert er aus Kabinettsvorlagen und Memoranden im Kontext des entstehenden Kalten Krieges (S. 208ff.). Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem: Görtemakers Urteil macht sich häufig an Thomas Manns Tagebucheinträgen fest. Damit kontrastiert der Autor seine Forschungserkenntnisse als Historiker. Doch wird man Thomas Mann gerecht, wenn man aus den Tagebüchern zitiert und alle Irrtümer auflistet, die einem im Nachhinein und mit wesentlich besserer Quellenkenntnis immer als solche auffallen? Sind Tagebücher überhaupt eine zuverlässige Quelle für das Unterfangen des Buches? Ist es die Korrespondenz, die primär andere Aufgaben hatte, als politische Weisheiten zu verkünden? Und – viel wichtiger – darf man bei der Beurteilung des Verhältnisses eines Schriftstellers zur Politik sein literarisches Werk weitestgehend ignorieren? Dabei geht es weniger um „Missachtung“ (S. 10), sondern um ein grundlegendes Missverstehen. Gerade das künstlerische Werk gehört zum politischen Wirken Thomas Manns, dem Görtemaker doch gerecht werden will.

Um Thomas Mann als politischen Schriftsteller zu beurteilen, müsste Görtemaker erst einmal klären, was einen politischen Menschen ausmacht. Wird darunter verstanden, dass man ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Politik hat, dann blieb Thomas Mann in der Tat ein „Unpolitischer“. Er fühlte sich in der Welt der Politik nicht heimisch. Aus seiner künstlerischen Grundhaltung erwuchs ein schillerndes Umgehen mit politischen Begriffen. Wer Definitionen für ein politisches Lexikon sucht, wird bei Thomas Mann nicht fündig.6 Nicht verschwiegen werden darf auch, dass vieles, was er sagte, durchaus mit dem Begriff „Worthülsen“ belegt werden kann. Was in einer Gesellschaft mit ausgeprägtem Grundkonsens die Repräsentanz bestärken würde, musste in der fragmentierten politischen Kultur der Weimarer Republik das Gegenteil bewirken. Weil viele sich bei ihm wiederfinden sollten, fanden sich am Ende nur wenige an seiner Seite ein. Alle Appelle an die Vernunft fruchteten nichts, weil sie zwar gut gemeint waren, aber die politischen Realitäten nicht hinreichend berücksichtigten. Obendrein vertraute Thomas Mann den Selbststeuerungskräften der Demokratie kaum. Er akzeptierte den starken Staat, sofern er ihm die Freiheit zur künstlerischen Betätigung gewährte. Insofern blieb er der „Unpolitische“, der er anfänglich war.

Andererseits stellte er sich in der Weimarer Republik hinter den Staat und verteidigte ihn mit großem publizistischen Einsatz gegen den immer stärker werdenden Nationalsozialismus. Er tat es, eingedenk seiner eigenen Unsicherheit. Er wollte nicht der Repräsentant einer Partei sein. Dennoch nahm er Partei – für die Humanität. Diese Entscheidung war eine moralisch und politisch richtige, auch wenn er in der Rolle des Repräsentanten primär eine kulturelle sah. Manns Ideal war das Prinzip der Mitte, des Ausgleichs, der Balance. In der Politik bedeutete das für ihn die Ablehnung von Extremismus und Totalitarismus. Und Thomas Mann entwickelte Einsichten, die andere erst auf dem Weg der Erfahrung machen mussten: sei es über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus, sei es über die verfehlte Appeasement-Politik des Westens. Seine kulturgeschichtliche Grundorientierung ermöglichte Einblicke in das Wesen deutscher bürgerlicher Kultur, wie sie heute in vielen Arbeiten zur Politischen Kultur der Deutschen bestätigt werden. Maßgeblich für sein Engagement war ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, das er aus der bürgerlichen Tradition seiner Vaterstadt Lübeck übernahm. In diesem Sinn war er kein „Unpolitischer“.

Für Görtemaker dagegen blieb Thomas Mann Zeit seines Lebens ein „unwissender Magier“ (S. 9), der stets „künstlerisch-emotional“ statt „politisch-rational“ dachte. Und weiter: „Thomas Mann hat unendlich viel Kluges über die Deutschen, ihre Geschichte und politischen Führer sowie über die Dispositionen ihrer politischen Kultur gesagt und geschrieben – und ebenso viel Unsinniges“ (S. 235). Besonders seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seien weder weise noch vorausschauend gewesen. Immerhin habe er aber „Einsichtsfähigkeit“ gezeigt und sich in der Weimarer Republik vom „Unpolitischen“ zum „Vernunftrepublikaner“ gemausert, dem allerdings jegliches Verständnis für die Demokratie als Staatsform gefehlt habe (S. 236). Seine einzige politische Weisheit habe darin bestanden, von Anfang an ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen zu sein – ein Gegner allerdings nicht aus politischen Gründen, sondern „aus elitärer Verachtung“ (S. 237). Er sei durch Zufall ins Exil geraten und zwangsweise darin verblieben, nicht aus politischer Überzeugung. Mehr noch: „Persönlichen Mut kann man Thomas Mann dabei kaum unterstellen: mutig war er stets nur mit der Feder“. Er sei – welche verbale Entgleisung! – ein „Schreibtischtäter“ gewesen (S. 237). Nach dem Krieg habe er schließlich „eine gewisse politische Naivität“ erkennen lassen (S. 238). Immerhin attestiert Görtemaker dem Schriftsteller an gleicher Stelle Wirkung und lobt sein „hohes Verantwortungsbewusstsein“ bei seinem Einsatz für die Humanität (S. 236).

Was ist das Fazit? Thomas Manns Ausflüge in die Politik haben ihm wenig Freude, aber viel Unbehagen eingebracht. Aber welchem deutschen Schriftsteller wäre es anders ergangen? Einen deutschen Tocqueville sucht man vergebens. Man sollte deshalb auch von Thomas Mann nicht verlangen, was er aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht erfüllen konnte. Im Gegenteil: Gerade weil er nicht für die Welt der Politik geboren war, ist seine Entscheidung, in einer Notzeit für die Humanität Stellung zu nehmen, als politisch-moralische Leistung genauso anerkennenswert wie seine schriftstellerische. Görtemaker freilich formuliert es anders. Er nennt Thomas Mann am Ende seines Buches eine „verantwortungsbewusste Persönlichkeit, die den schwierigen Anforderungen, die von der Zeit an sie gestellt wurden, gerecht zu werden versuchte oder sich zumindest darum bemühte“ (S. 238). Welche Formulierung für ein Arbeitszeugnis! Wird Manfred Görtemaker damit Thomas Mann gerecht? Zweifel sind angebracht. So gilt für den Historiker in Bezug auf sein Buch, was er selbst Thomas Mann ins Stammbuch schreibt: Das Bemühen ist zu loben – „auch wenn […] dies nicht in jedem Fall gelang. Aber wer kann das schon von sich behaupten?“ (S. 238)

Anmerkungen

1 Harpprecht, Klaus, Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 1995; Kurzke, Hermann, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, München 1999; Prater, Donald A., Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biographie, München 1995.
2 Breloer, Heinrich; Königstein, Horst, Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Frankfurt am Main 2001; Breloer, Heinrich, Unterwegs zur Familie Mann. Begegnungen, Gespräche, Interviews, Frankfurt am Main 2001; Wißkirchen, Hans, Die Familie Mann, Reinbek bei Hamburg 1999.
3 Jens, Inge und Walter, Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim, Reinbek bei Hamburg 2003; Möller, Hildegard, Die Frauen der Familie Mann, München 2004.
4 Vgl. dazu: Goll, Thomas, Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der Politischen Kultur Deutschlands 1898-1955, Baden-Baden 2000.
5 Genannt sei nur: Mehring, Reinhard, Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001.
6 Man kann zum Beispiel Thomas Manns Demokratiebegriff untersuchen, nur um festzustellen, dass man am Ende nicht wesentlich schlauer ist, was Thomas Mann unter Demokratie versteht; vgl. dazu: Fechner, Frank, Thomas Mann und die Demokratie. Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers, Berlin 1990.

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