Cover
Titel
Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier


Herausgeber
John, Jürgen; van Laak, Dirk; von Puttkamer, Joachim
Erschienen
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Um einen „essayistischen Beitrag von überschaubarer Kürze“ hatten die Herausgeber dieser Festschrift für Lutz Niethammer zum 65. Geburtstag gebeten; um einen Beitrag, der sich an jene „zeitgeschichtlichen Interventionen“ anlehnen sollte, für die das Werk Niethammers steht. Den immerhin 50 AutorInnen, die schießlich dieser Aufforderung nachkamen, ließ das viel Spielraum. Die nach AutorInnennamen alphabetisch geordneten Beiträge spiegeln das ganze Spektrum möglicher Auslegungen sowohl von „zeitgeschichtlicher Intervention“ als auch von „überschaubarer Kürze“. Dabei sind manche zu echten Glanzstücken essayistischer Kurzprosa geraten, während andere eher jenen Anekdoten ähneln, die man lieber in der mündlichen Form des „Conference-Gossip“ hören möchte.

Letztere sind aber Ausnahmen. Insgesamt versammelt der Band in der Tat das, was der Titel verspricht: kurze, vom wissenschaftlichen Apparat befreite Reflexionen, Fallstudien und Argumentationen zu jenen Themenfeldern, die Niethammer selbst in einer fast immer unorthodoxen, anregenden und bisweilen provokanten Weise bearbeitet, zum Teil auch ganz neu erschlossen hat: die Zeitgeschichte, die Oral History, das Verhältnis von DDR und Bundesrepublik in Geschichte und Gegenwart, die Geschichtstheorie sowie jene Zäsuren und historischen Erinnerungsräume, die mit den Jahreszahlen 1945, 1968 und 1989 markiert sind. Nicht wenige der Beiträge legen dabei die im Titel des Bandes angesprochene „Manier Niethammers“ in einem Sinne aus, der – dem historischen Denken des Geehrten durchaus entsprechend – an Walter Benjamins „Tigersprung ins Vergangene“ erinnert. Angeregt durch Persönliches, Erlebtes, Zufälliges oder Gefundenes greifen sie scheinbar willkürlich eine historische Episode, einen Quellenkorpus, eine historische Konstellation oder auch ein theoretisches Problem heraus, um in verdichtender Darstellung die Gegenwartsrelevanz des Beschriebenen jenseits der großen historischen Entwicklungen aufscheinen zu lassen.

So beginnt etwa Ute Daniels Text mit einem autobiografischen Rückblick auf ihr Studium und die damals gestellte Frage „Warum Zeitgeschichte?“, um dann in einer schlagenden Komposition von Zitaten deutscher Historiker und Politiker aus der Entstehungsphase der Bundesrepublik 1948/49 die Pathogenese des westdeutschen Demokratiebewusstseins aus einem völlig entstellten Vergangenheitsbild präzise auf den Punkt zu bringen – darum Zeitgeschichte! Auch Dan Diner skizziert eine historische Konstellation über Entwicklungszusammenhänge hinweg, indem er in radikalerer Weise als üblich die Konsequenzen bedenkt, die das Ende der bipolaren Welt des Kalten Kriegs für die Erforschung und Erinnerung des Zweiten Weltkriegs bereithält – Sichtweisen nämlich, die unsere gewohnten so sehr herausfordern, dass erinnerungspolitisch ein „Ende“ des Zweiten Weltkriegs noch gar nicht abzusehen ist. Noch größere Sprünge machen Achatz von Müller und Helmut G. Walther, die beide einigen hochinteressanten Verweisungszusammenhängen zwischen Zeitgeschichte und Mediävistik nachgehen. Jürgen Osterhammel wiederum reflektiert die eigentümliche Gegenwärtigkeit jener Teile der Welt, die bis heute kaum anders denn als auf dem Wege der „Nachholung“ modernisierungstheoretischer Ansprüche des Westens gedacht werden.

Diese kleinen „Denkstücke“ haben in ihrem eingreifenden, die historische Chronologie unterbrechenden Umgang mit Geschichte in der Tat etwas von Benjamins „Tigersprüngen“ an sich. Doch so wie es bei Benjamin nicht eigentlich die Historiografie, sondern zunächst einmal die Mode ist, die ins Vergangene springt, so wirkt auch diese Zusammenstellung historiografischer Weit- und Quersprünge bisweilen allzu modisch. Der Band hat etwas von einem Laufsteg, auf dem einmal Kurzes und Gewagtes vorgeführt wird, mit dem im Alltag aber niemand in die Öffentlichkeit gehen würde. Der Tigersprung ins Vergangene wird von einigen der Texte durchaus vollzogen, aber eben nicht – wie von Benjamin gefordert – „unter dem freien Himmel der Geschichte“, sondern im sicheren Rahmen einer experimentellen Festschrift.

Anregend und unterhaltsam sind diese essayistischen Übungen allemal – nicht zuletzt dort, wo die zeitgeschichtlichen Interventionen in handfeste politische Bekenntnisse übergehen, wie etwa in Heinz-Dieter Kittsteiners an Marx angelehntem „Pamphlet“ zum „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“, in Klaus Tenfeldes Stellungnahme zur aktuellen Mitbestimmungsdebatte anläßlich der jüngsten Arbeitskämpfe in den Bochumer Opel-Werken oder auch in Hans-Ulrich Wehlers Plädoyer für eine Erneuerung des Modernisierungsparadigmas. Hinzu kommt eine Reihe von eher persönlich gehaltenen Texten: Begegnungen mit dem Geehrten werden beschreiben, bisweilen wird er auch selber zum Gegenstand etwa der Frage gemacht, ob er nun ein „'68er“ sei oder nicht, oder es werden die jeweils eigene Biografie und Herkunft zeitgeschichtlich reflektiert. Wieviel neue Einsicht und Erkenntnis in diesen und anderen Texten nun steckt, muss dem Urteil der Leser überlassen bleiben. Interessant ist der Band vor allem deshalb, weil er eine ganze Reihe überwiegend deutscher HistorikerInnen im ungewohnten Genre des Kurzessays vorführt – im gewagten kleinen Schwarzen, sozusagen.

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