P. Müller: Dramatisierung von Verbrechen

Titel
Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs


Autor(en)
Müller, Philipp
Reihe
Campus Historische Studien 40
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 39.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, Historisches Seminar, Universität München

In seiner am Europäischen Hochschulinstitut Florenz entstandenen Dissertation interessiert sich Philipp Müller für die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung von Verbrechen im wilhelminischen Berlin. Er untersucht, wie Zeitgenossen die Berichterstattung der hauptstädtischen Massenpresse aufnahmen und konkret in Handlungen umsetzten, sei es dass sie der Polizei Beobachtungen mitteilten, vermeintliche Verbrecher anzeigten oder verfolgten. Sein Augenmerk liegt also weniger auf der Kriminalität selbst, als vielmehr auf den öffentlichen und aktiven Wechselwirkungen zwischen allen beteiligten Akteuren: der Polizei, den Journalisten, den Lesern und auch den Tätern. Die Arbeit fügt sich somit in das Feld einer neuen Mediengeschichte, deren Potenzial Historiker zunehmend erkunden. 1 Neben den auflagenstärksten Massenblättern der Metropole selbst stützt Müller sich in erster Linie auf die Akten des Berliner Polizeipräsidiums im Landesarchiv Berlin und auf jene des preußischen Innen- und Justizministerium im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, in denen sich zahlreiche Eingaben und Anzeigen von Zeitungslesern erhalten haben. Dazu treten als Quellen auch die Postkartensammlung und das Bildarchiv des Heimatmuseums Köpenick zum berühmt gewordenen Coup des Schusters Wilhelm Voigt.

Die Arbeit ist in zwei größere Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt (S. 33-172) nimmt Müller den Aufstieg der Massenpresse, die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit sowie Aktionen und Reaktionen der Leser- wie Hörerschaften in den Blick. Der Umbruch der Medienlandschaft lässt sich nicht nur an rasant steigenden Auflagenzahlen messen, vielmehr hebt der Verfasser mit guten Argumenten auch inhaltliche und stilistische Wandlungen hervor. So wurden Lokalnachrichten und die gemeinsame urbane Lebenswelt zum Mittelpunkt der Presseberichterstattungen, und insgesamt ist zu beobachten, dass die Presse ihre Berichte zunehmend dramatisierte und theatralisierte. Parallel zu dieser Entwicklung maß die Polizei vor allem den auflagenstarken Lokalzeitungen einen neuen Stellenwert bei: Zwar dominierte nach wie vor eine obrigkeitlich-hierarchische Sichtweise auf Presse und Journalisten, aber zur Verbrechensaufklärung war man zwingend auf die Kooperation der Massenblätter angewiesen, um ein möglichst großes Lesepublikum zu erreichen. Freilich ließ sich die Mithilfe dieser „Vielen“ – wie Müller sie nennt – dann nur noch bedingt steuern, denn die Teilhabe am sensationellen Verbrechen beschränkte sich keinesfalls nur auf die gewünschte Denunziation oder Verfolgung.

Der zweite Abschnitt (S. 173-354) besteht aus zwei Fallstudien des Jahres 1906, anhand derer Müller das Zusammenwirken, die Interessen und Umdeutungen aller Beteiligten verfolgt. Während dem später hingerichteten Mörder Rudolph Hennig im Februar 1906 kurzzeitig eine spektakuläre Flucht gelang, dürfte die Tat des Wilhelm Voigt noch heute nahezu jedem bekannt sein. Als Hauptmann verkleidet erleichterte er in Begleitung von Soldaten die Köpenicker Stadtkasse um über 3.500 Reichsmark und entlarvte damit ungewollt zugleich die Sonderstellung des Militärs in Preußen-Deutschland. Schon bald darauf geriet folgerichtig auch das militärische Gebaren von Voigts königlichem Vornamensvetter ins Pressekreuzfeuer. In der Zusammenschau beider Fälle wird deutlich – und das war sicher eine Ursache für ihren sensationellen Charakter –, dass sich das von den Tageszeitungen üblicherweise beachtete polizeiliche Informations- und Handlungsmonopol hier teilweise auflöste. Dazu bei trug im Fall Hennig u.a. die Berliner Morgenpost, die eine eigene Belohnung in Höhe von 1.000 Reichsmark auslobte. Nicht zuletzt auch deshalb fanden in der Stadt regelrechte Verfolgungsjagden statt, sobald eine Person Ähnlichkeiten mit dem Gesuchten aufwies. Und auch die Berichterstattung über die Köpenickiade verselbstständigte sich, ebenso die Sichtweisen des Lesepublikums. Voigt wurde zwar zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, aber zugleich war er in den Augen vieler ein hilfsbedürftiges Opfer polizeilicher Willkür. Auch deshalb ließ er sich nach seiner Begnadigung durch Wilhelm II. vorzüglich vermarkten.

Im Resümee fasst Müller seine Überlegungen zusammen: Er deutet die soziale Schichten übergreifende, aktive Rezeption dieser Fälle als lustvolles Vergnügen, als Form der sinnstiftenden und politischen Teilhabe am öffentlichen Leben. Und er formuliert in wenigen dürftigen Sätzen den Grundgedanken, die zuvor entfalteten facettenreichen Aneignungen des aktiven und politisierten Lesepublikums seien nicht rational, sondern vielmehr magisch, weshalb sich hier in Abgrenzung zu Max Webers Entzauberungsthese eine „Verzauberung der Moderne“ (S. 365f.) ausmachen ließe. Das widerspricht in Teilen den zuvor erzielten Ergebnissen und fällt weit hinter den kulturgeschichtlichen Forschungsstand zurück, wonach auch vermeintlich vormodern-magische Weltsichten und Handlungsmuster eine zweck- und erfolgsorientierte Rationalität besitzen. Kennzeichnend für eine „verzauberte Moderne“ ist vielmehr das Neben- und Ineinander vermeintlich vormoderner und scheinbar moderner Aneignungen, das in einem in jeder Konstellation jeweils neu auszulotenden Spannungsverhältnis zueinander steht.

Abschließend sollen einige Ärgernisse nicht verschwiegen werden, die das Erkenntnispotenzial der Studie und das Lesevergnügen schmälern. So fällt es nicht immer leicht, den Gedankengängen des Verfassers zu folgen, denn sprachlich ist die Arbeit streckenweise eine nur schwer verdauliche Kost (vgl. nur S. 91). Zudem lässt die Qualität der Abbildungen zu wünschen übrig (etwa S. 144), und zu allem Überfluss ist auch noch das vierseitige Personen- und Sachregister völlig unbrauchbar, weil unzuverlässig. Zahlreiche der im Text genannten Personen fehlen ganz, wie etwa Walter Benjamin (S. 171), Moritz Bromme (S. 73), Adolf Levenstein (S. 68) oder August Steffen (S. 107). Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Manche Personen findet man nur unter einem anderem Namen, wie einen im Text wiederholt Hüllessem genannten Kriminalinspektor (S. 87f.). Unter Meerscheidt wird nur derjenige suchen, der weiß, dass es sich eben um Leopold Friedrich Wilhelm Freiherrn von Meerscheidt-Hüllessem handelt. Eine sorgfältige Registererstellung wäre nicht nur leserfreundlich gewesen, sondern sie hätte vermutlich dazu beigetragen, Wiederholungen zu vermeiden, die in Details zudem auch noch voneinander abweichen: Das gilt etwa für die ausführlich diskutierten Beobachtungen eines Bahnreisenden namens Dr. Kempel, der teilweise auch als Kemper firmiert (S. 279, 306ff., beide nicht im Register), und auch für den Mord am Nachtwächter Friedrich Braun, der zu dem durch die lex Heinze berühmt gewordenen Prozess gegen Gotthilf und Anna Heinze führte. Braun wird mal am 27. September und mal am 28. September 1887 tot aufgefunden (S. 77, 109). Wann denn nun?

Anmerkungen:
1 Vgl. nur den anregenden Forschungsüberblick von Bösch, Frank, Zwischen Populärkultur und Politik. Britische und deutsche Printmedien im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 549-584.