T. Binder: Semen est sanguis Christianorum

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Titel
Semen est sanguis Christianorum. Literarische Inszenierungen von Macht und Herrschaft in frühchristlicher Passionsliteratur


Autor(en)
Binder, Timon
Erschienen
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 40,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Weiß, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die frühchristlichen Märtyrerakten sind eine durchaus problematische Literaturgattung, über die Timon Binder ein nicht minder problematisches Buch vorlegt. Hätte Binder sich in seiner Arbeit, einer altphilologischen Dissertation in Konstanz, mit einer literarischen und motivgeschichtlichen Analyse der Texte begnügt, hätte er der Altertumswissenschaft einen anerkennenswerten Dienst erwiesen. Seine zentrale und erkenntnisleitende These, "dass in der vorkonstantinischen christlichen Passionsliteratur ein scharfer Antagonismus zwischen Christen und heidnischem römischem Staat aufgebaut und in der Darstellung der Geschehnisse um die Märtyrerhinrichtungen dramatisch in Szene gesetzt wird" (S. 9), zielt jedoch weit darüber hinaus und trifft in das Herz der immerwährenden Frage nach dem Verhältnis zwischen den Christen und dem römischen Staat in vorkonstantinischer Zeit. Wer an diesem Thema interessiert ist, wird von den 'Ergebnissen' Binders kaum profitieren können.

Man muss zunächst konstatieren, dass Binder grundlegende philologische Arbeiten nicht durchführt, die gerade für seine These unabdingbar sind. Richtet man wie Binder den Fokus auf die vorkonstantinische Zeit, muss man zunächst einmal feststellen, welcher der vorliegenden Texte denn in dieser Epoche verfasst wurde. Dies ist auch dann abzuklären, wenn man wie Binder die Frage der 'Historizität' der Märtyrerakten für überflüssig hält, denn die in nachkonstantinischer Zeit entstandenen Texte, die mit ihrer epischen Ausgestaltung der Martyrien Kinder ihrer Zeit sind, dürfen nicht als ideengeschichtliche Zeugnisse des von Binder konstatierten vorkonstantinischen Antagonismus zwischen Christentum und römischem Staat herangezogen werden. Wollte man sie für Binders Fragestellung heranziehen, müsste man zeigen, dass und inwiefern die spätantiken Acta und Passiones vorkonstantinisches Gedankengut verarbeiten. Dies ist die alte Suche nach dem historischen Kern, der zwar oftmals vorhanden ist, jedoch vielfach nur in geringem Umfang, weshalb die spätantiken Akten als Spiegel des 4., 5. oder eines späteren Jahrhunderts aufzufassen und für Binders Untersuchung zu verwerfen sind.

Mit Erschütterung stellt man nun fest, dass Binder sich nicht allein auf die 28 von Musurillo zusammengestellten Texte beschränkt, sondern darüber hinaus ohne jegliche Diskussion ihrer Entstehungszeit weitere Texte aus der alten Sammlung der Acta sincera von Ruinart heranzieht, die mittlerweile niemand mehr als vorkonstantinisch einschätzt.1 Und auch in Musurillos Sammlung befinden sich höchst umstrittene Stücke wie die Acta Apollini. Dass die Frage der Entstehungszeit der Texte alles andere als nebensächlich ist, verdeutlicht auch ein neuerer Beitrag von R. Jakobi, der zeigt, dass die bei Musurillo enthaltene und von Binder vielfach zitierte Passio Maximiliani frühestens in der Mitte des 4. Jahrhunderts entstanden und donatistisch gefärbt ist.2 Dass es umgekehrt auch neuere, von Binder nicht berücksichtigte Märtyrerakten gibt, die wohl aus vorkonstantinischer Zeit stammen, sei nur im Vorübergehen notiert.3 Des Weiteren muss man auch für die vorkonstantinischen Texte verschiedene Schichten trennen, und es ist immer mit späteren, oft nachkonstantinischen Ergänzungen oder redaktionellen Bearbeitungen zu rechnen. Als Beispiel sei die Passio Crispinae genannt, deren zweite Hälfte die kreative Leistung eines nachkonstantinischen, donatistischen Hagiografen darstellt.4 Man vermisst weiteres philologisches Handwerkszeug. Gehört es nicht zu den Aufgaben eines Philologen, zunächst die jeweilige Textgrundlage zu sichern? Binder zitiert die Märtyrerakten nach Musurillo, doch ist für zahlreiche Texte die jüngere Ausgabe von Bastiaensen 5, die Binder kennt, schon allein wegen des umfangreicheren textkritischen Apparates vorzuziehen. Insbesondere für den Text der Acta Phileae ist Binders Entscheidung fatal. Musurillo konnte für die Acta Phileae auf eine lateinische Recensio und den unvollständigen griechischen Papyrus Bodmer XX zurückgreifen. Nun liegt allerdings mit dem (leider ebenfalls unvollständigen) Papyrus Chester Beatty XV ein weiter griechischer Zeuge vor, der den Text der Phileasakten auf eine neue Grundlage stellt.

Binder entledigt sich all dieser philologischen Kärrnerarbeit mit leichter Hand: "Bei einem form- und motivkritischen Ansatz steht die Frage nach dem eigentlichen Entstehungsdatum der (ursprünglichen) Akten und nach den verschiedenen (postulierten) Stadien der Überarbeitung eher zurück hinter den Untersuchungen zur Motivik und Topik." (S. 38) Bei diesem methodischen Ansatz hätte er in seiner These nicht mehr zwischen vor- und nachkonstantinischer Zeit differenzieren dürfen, was wiederum zu anderen Schwierigkeiten geführt hätte. Da er jedoch selbst einen historischen Unterschied zwischen den beiden Phasen anerkennen muss (S. 226ff.), hätte er fragen sollen, warum denn auch in der christlichen Spätantike - in einer Zeit, als der Antagonismus zwischen Christentum und römischem Staat längst aufgehoben war - noch Märtyrerakten produziert werden, die dem von ihm postulierten Antagonismus das Wort reden. Aber, wie erwähnt, das Entstehungsdatum der Texte ist Binder gleichgültig, ebenso die Frage nach der Historizität der Texte.

Man wird Binder ohne weiteres zugeben, dass die Märtyrerakten literarisch gestaltet sind. Ebenso kann man für manche Fragen das Problem der Historizität der Texte als nachrangig behandeln. Aber man kann aus der literarischen Gestaltung nicht eine fast völlige Ahistorizität der Texte ableiten, eine weitgehende Fiktionalität postulieren, die historische Frage als irrelevant abtun und dann seiner Arbeit eine zutiefst historische These aufsatteln. Zwei Beispiele aus Binders Arbeit seien angeführt: Einige der Märtyrerakten schildern die Prozesse gegen die Christen wie Gerichtsprotokolle. Man hat diese Texte bisweilen als zuverlässige Auszüge aus den authentischen Gerichtsprotokollen betrachtet, denen ein christlicher Herausgeber einen kurzen Prolog und einen ebenso knappen Epilog hinzugefügt hat. Heute ist man zu Recht in der Frage der Zuverlässigkeit solcher Texte etwas vorsichtiger geworden. Binder jedoch kehrt hier mit eisernem Besen und macht tabula rasa: "In Wirklichkeit ist nur das Faktum der Verhandlung historisch und es findet quasi eine christliche Apologie in Form eines Gerichtsprotokolls statt." (S. 39) Als ein Argument für die Fiktionalität der protokollarischen Akten wird angeführt: "Dass ein vom römischen Staat zum Tode Verurteilter noch Gelegenheit erhält, seinen Glauben detailliert darzulegen, eventuell ihn gar abzuwägen gegen den heidnischen Polytheismus, erscheint kaum glaubhaft." (S. 42) Abgesehen davon, dass die Märtyrer in den Texten nicht nach, sondern vor dem Todesurteil vielfach in geraffter Form christliche Glaubensinhalte darlegen, ist die Sache an sich völlig glaubwürdig. Der christliche Glaube war ja Gegenstand der Gerichtsverhandlung und musste es sein, weil die Christen aufgrund ihres Christseins verurteilt wurden. Manchmal konnte die Verhandlung zum theologischen Disput ausarten, wie im Prozess des Märtyrers Iustin vor dem praefectus urbi Rusticus. Berücksichtigt man, dass Rusticus Neffe eines führenden Stoikers und selbst Leiter der stoischen Schule in Rom war, wird der philosophisch-theologische Disput zwischen den beiden völlig nachvollziehbar. Aber auch die anderen Richter in den Gerichtsprozessen entstammten als Senatoren der gebildeten römischen Oberschicht und standen aufgrund ihrer philosophischen, vielfach stoischen Prägung in schärfstem intellektuellem Widerspruch zu den Christen. Vor diesem Hintergrund ist ein polemisch-apologetischer Schlagabtausch vor Gericht durchaus vorstellbar. Binder scheint hier völlig falsche Vorstellungen davon zu haben, wie ein Prozess vor einem römischen Gericht aussehen konnte.

Das zweite Beispiel, an dem man die unglücklichen Folgen einer ungenauen Beobachtung des historischen Kontextes illustrieren kann, findet sich in Binders exemplarischer Interpretation der Passio Mariani et Iacobi. Die beiden Märtyrer starben im Jahre 259. Binder schreibt in diesem Zusammenhang: "Die Handlungen des römischen Statthalters bzw. der einzelnen Provinzstatthalter werden als Angriffe aufgefasst. Auch hier besteht eine Stilisierung insofern, als historisch betrachtet nicht von Angriffen auf die Christen gesprochen werden kann." (S. 74) Das ist "historisch betrachtet" für die Passio Mariani et Iacobi schlicht falsch. Die dort geschilderten Ereignisse stehen sehr wohl im Kontext staatlicher Maßnahmen gegen die Christen, nämlich der beiden gegen den Klerus und gegen christliche Angehörige der ordines gerichteten Edikte des Valerian, in deren Folge Iacobus als Diakon und Marianus als Lektor inhaftiert und hingerichtet werden. Weiterhin stammt ein großer Teil der Märtyrerakten, wie Binder selbst feststellt, aus diokletianischer Zeit. Auch hier bilden staatliche Maßnahmen den Hintergrund der Verfolgungen. Wenn in diesen Texten von staatlichen Angriffen gegen die Christen die Rede ist, so handelt es sich nicht um eine "Stilisierung", sondern um historische Wirklichkeit.

Schon diese Beispiele zeigen die Fragwürdigkeit von Binders Schlussfolgerungen. Weitere Beispiele wenig sorgfältiger historischer Exegese wären anzuführen. Binder zeigt kein rechtes Verständnis der juristischen Hintergründe der Christenprozesse. Die Feststellung, dass "das Bekenntnis zum Christentum von Anfang als Staatsverbrechen geahndet worden" sei, ist nicht richtig. Dies ist frühestens seit dem Jahre 64 der Fall.6 Sein Postulat, der "Militärdienst war für die frühen Christen abzulehnen" (S. 98), ist ebenso falsch. Die Acta Maximiliani 2,9 lehnen den Militärdienst von Christen zwar ab, bezeugen ihn andererseits aber auch. Eine historisch adäquate Interpretation der Stelle liefe darauf hinaus, dass es unter den Christen divergierende Ansichten in dieser Frage gegeben hat, die vom radikalen Pazifismus bis zur Akzeptanz des Dienstes an der Waffe reichten. Tertullians rigoristische Äußerungen als normativ für 'die Christen' anzusehen, ist sicher verfehlt.

Letztlich strapaziert Binder die Märtyrerakten über alle Maße, wenn er allein auf der Grundlage dieser Literaturgattung einen grundsätzlichen und ausschließlichen Antagonismus zwischen Christentum und römischem Staat postuliert. Die Texte schildern Extremsituationen und entwerfen - hier ist Binder zuzustimmen - vielfältige Strategien, welche den Tod der Märtyrer umdeuten als christlichen Triumph. Eine politische Dimension hat dies - gegen Binder - nur für die paganen Römer und dann auch für den römischen Staat, nicht für die Christen, auch wenn man zugibt, dass die Haltung der Christen zum römischen Staat ambivalent ist. Aber sie ist eben ambivalent und nicht eindimensional oppositionell. Für viele der paganen Römer hingegen war das Verhältnis zu den Christen klarer abgesteckt. Für sie war die enge Verbindung zwischen Staatskult und Politik unabdingbar. Da die Christen sich vom Kult fernhielten, wurden sie als hostes publici gebrandmarkt. Dieser paganen Perspektive geht Timon Binder gründlich auf den Leim. Wer in die Märtyrerakten eine politische Zielsetzung der Christen hineinliest, betreibt Eisegese, nicht Exegese.

Anmerkungen:
1 S. 12, Anm. 5: "Zitiert wird in dieser Arbeit nach der Ausgabe von Musurillo; Akten, zu denen keine moderne Edition verfügbar ist, werden nach Ruinart zitiert." Ausführlich Gebrauch gemacht wird dann vor allem von der Passio Epipodii, der Passio Bonifacii, den Acta Acacii und etwa fünf weiteren Akten, die nicht bei Musurillo, aber in Ruinarts Sammlung enthalten sind. Die 3. Auflage von Ruinarts Acta martyrum stammt von 1859 (1. Aufl. 1689), Musurillos "Acts of the Christian Martyrs" von 1972.
2 Jakobi, Rainer, Zwischen Authentizität und Intertextualität. Die Passio S. Maximiliani, in: Wiener Studien 117 (2004), S. 209-217.
3 Aubineau, M., La passion grecque inédite de Saint Thérinos, martyrisé à Buthrote en Épire, in: Analecta Bollandiana 100 (1982), S. 63-78; Maraval, Pierre, La Passion inédite de S. Athénogène de Pédachthoé en Cappadoce (BHG 197b). Introduction, édition, traduction (Subsidia hagiographica 75), Bruxelles 1990; Chiesa, Paolo, Un testo agiografico africano ad Aquileia. Gli acta di Gallonio e dei martiri di Timida Regia, in: Analecta Bollandiana 114 (1996), S. 241-268.
4 Rosen, Klaus, Passio Sanctae Crispinae, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 40 (1997), S. 106-125.
5 Bastiaensen, A. A. R. u.a., Atti e passioni dei martiri, Mailand 1987.
6 Zum Verhältnis zwischen Staat und Christen vor 64 s. Molthagen, Joachim, Die ersten Konflikte der Christen in der griechisch-römischen Welt, in: Historia 40 (1991), S. 42-76.

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