S.-L. Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie

Titel
Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914


Autor(en)
Hoffmann, Stefan-Ludwig
Reihe
Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Fred E. Schrader, Paris

Der Autor ist bereits mit einer Dissertation über Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918 (Göttingen 2000) hervorgetreten, für die er den Hedwig-Hintze-Preis des VHHD 2002 erhalten hat. Jene Arbeit war noch archivorientiert. Diese will, davon eher abgehoben, einen Vergleich der sozialen Praxis geselliger Vereine der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der deutschen Staaten einschließlich Österreich-Ungarns und schließlich Russlands vorlegen, und dies alles von der Mitte des 18. bis zum 20. Jahrhundert. Unterteilt wird das in Epochen.

Ausgangspunkt der Überlegungen Hoffmanns ist Tocquevilles Buch über die Demokratie in Amerika – dem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Danach zerstört die Demokratie die hergebrachten „natürlichen“ Bindungen zwischen den Menschen und atomisiert diese. Bestenfalls die Familie bleibe bestehen. Darüber erhebe sich eine anonyme, bevormundende und perspektivisch tyrannische Macht des Staates und seiner Verwaltung. Die Geselligkeit in allen ihren Formen diene dazu, die von der Demokratie zersetzten menschlichen Beziehungen wieder neu aufzubauen. Es handelt sich also um eine synthetische Selbstorganisation der Gesellschaft.

Im Anschluss an Philip Nord geht Hoffmann weiterhin davon aus, dass es von Boston bis St. Petersburg eine Civil society before Democracy gegeben habe, eine Bürgergesellschaft durch Geselligkeit als „Teil eines gemeineuropäisch-transatlantischen Diskurses und daran gebundener sozialer Praktiken“ (S. 12). Es ist der Diskurs, der soziale Praktiken an sich bindet, wenn nicht gar schafft.

Wie Nord unterteilt Hofmann das Ganze in vier Phasen: die Hochzeit der europäischen Aufklärung, dem „goldenen Zeitalter“ der bürgerlichen Vereine ca. 1820-1849, eine Phase der Liberalisierung, Nationalisierung und sozialen Demokratisierung der Vereine ca. 1860-1880, eine Phase höchster Verbreitung, Verdichtung und Differenzierung bis 1914. Darüber hinaus geht es Hoffmann um die Frage nach der „Bedeutung zivilgesellschaftlicher Traditionen in Staaten, die nicht als bürgerliche Gesellschaften verfaßt waren“ (S. 16). Vereinswesen wird also als zivilgesellschaftliche (oder bürgergesellschaftliche) Veranstaltung verstanden, und Staaten sind gesellschaftlich verfasst – was man sich auf der Zunge zergehen lassen muss –, aber eben nicht alle sind es zivilgesellschaftlich. Bürgerlich wird hier als civil ohne Blick auf das Bürgertum als Klasse verstanden. Und schließlich fragt Hoffmann nach den Vereinen als Schulen der Demokratie, und zwar durch die in ihnen herrschenden Statuten und Regeln. Nicht zuletzt spielt zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch der Nationalismus in diesen Komplex hinein. Das ist das systematisch-begriffliche Raster. Und dann geht die Reise los, von der Aufklärung bis zum I. Weltkrieg und mit einem Ausblick ins 20. Jahrhundert. Dazu zieht Hoffmann die einschlägige Literatur der einzelnen Länder heran, die, wie er selbst einräumt, von unterschiedlichen Fragestellungen ausgeht, unterschiedliche Ziele verfolgt und vor allem unterschiedlich quellengestützt ist.

Bei einem solch großen Bogen in einem kleinen Band stecken die Teufel in den Details. Um nur den ersten und vergleichsweise am besten erforschten Teil über die Aufklärungssoziabilität zu nehmen: Hier nützt Tocqueville wenig, weil es um ein Assoziationswesen in einer nichtdemokratischen Gesellschaft geht. Es wird als „staatsnah“ beschrieben, vermutlich weil auch Vertreter der Verwaltung und des Adels daran teilnehmen. Hoffmann versucht, praktisch alle Forschungspositionen miteinander zu versöhnen, mit Ausnahme der Verschwörungstheorien. Man findet alles wieder – moralische Internationale, Grenzüberschreitung in jeder Hinsicht, Reformutopien, praktische individuelle Vorteile, keine/doch eine protodemokratische Schule. Fluchtpunkt bleibt die Konzeption der Zivilgesellschaft der „neueren Forschung“. Nur findet sich keine einzige Überlegung darüber, warum diese Männer das alles eigentlich veranstalten. Sicherlich, es sind viele, aber bezogen auf die lokale und regionale Bevölkerung handelt es sich nur um eine schmale Schicht, die sich wechselseitig als Elite anerkennt. Das Problem besteht hier und auch weiterhin in dem Versuch, recht disparate Literatur unter einem gemeinsamen Hut zu arrangieren, der von vornherein unhinterfragt feststand – den der bürgergesellschaftlichen Diskurse und Praktiken.

Das Resultat der Arbeit überrascht nicht: Verallgemeinerung der geselligen Vereine, ihre Demokratisierung, ihre Politisierung. Das Spiel von Inklusion/Exklusion von Eliten/Nichteliten wird schließlich in allen gesellschaftlichen Schichten bis in ihre letzten und feinsten lokalen Verästelungen hinein durchgeführt. Von der utopischen Perspektive bleibt nicht mehr viel übrig, am ehesten wohl noch in der Sozialdemokratie. Die Demokratie wird weiterhin unter dem Vorzeichen des „als ob“ praktiziert. Das wurde von Simmel bis Nipperdey und anderen bereits ausgeführt. Die dargelegten Arbeitsperspektiven bleiben spekulativ vage und abstrakt. Unter dem abschließenden Kapitel „Grundlinien der Forschung“ wird alles Mögliche an Theorien verhandelt, nur ein Desiderat fehlt: ein Meer an notwendiger Quellenforschung und Quellenkeuzung.

Bei Hoffmann geht es um Männer und Frauen, die in geselliger Assoziation Ziele und Zwecke verfolgen, die sie aus objektiven Umständen nicht alle erreichen. Sachlich war die sozialhistorische Forschung schon insofern weiter, als sie die Assoziationen als faits sociaux in der Definition Durkheims behandelte. Hoffmann sieht nur das protodemokratische Tun, doch das Rituelle und geradezu Pathologische daran entgeht ihm ebenso wie das Verhältnis oder die Spannung dieser Elitenpraxis zu Generation, Familie, Sexualität, Konfession, Geschäft und Karriere.

Man kann sich seine Begrifflichkeit nicht leichtfüßig selbst schmieden, ohne auf die klassische Begriffs-, Theorie- und Politikgeschichte Rücksicht zu nehmen. Das zerstört jegliche Kommunikationsgrundlagen und historische Referenzen. Vielleicht ist das postmodernistisch auch so gewollt. Jedenfalls herrscht jetzt totale begriffliche Konfusion: Wir haben die societas civilis, civil society, société civile, bürgerliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution, dann die Hegelsche und Marxsche, der schottisch-englischen Konzeption nahestehende bürgerliche Gesellschaft, dann die der jungen Soziologie – Durkheim und Weber, aber auch Cochin –, weiterhin das von Habermas wärmstens begrüßte Konzept civil society der amerikanischen Politologie, das vor ein paar Jahren in Berlin modifiziert als Zivilgesellschaft adaptiert wurde, und nun die Bürgergesellschaft des Autors. Die Begrifflichkeit der Frühen Neuzeit und noch Hegels, Marxens, Simmels, Durkheims und Webers ist sachlich sehr präzise, die unserer unmittelbaren Gegenwart ausdrücklich nicht historisch-analytisch, sondern ein modisches, zukunftsgerichtetes politisches Programm einer Selbstorganisation von Gesellschaft, das noch lange nicht zur Quellenarbeit gefunden hat und dies wohl auch zu meiden sucht.

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