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Titel
NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie (1952-1960)


Autor(en)
Thoss, Bruno
Erschienen
München 2006: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 774 Seiten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Detlef Bald, München

Die Atomwaffen sind nichts anderes als die Weiterentwicklung der Artillerie und moderne, beinahe ganz normale Waffen – dieses Plädoyer vom April 1957 für die Akzeptanz der Atombewaffnung machte Bundeskanzler Konrad Adenauer berühmt. Wenn die Bonner Republik sich gegen die Bedrohung aus dem Osten bewaffnen müsste, benötige sie doch „moderne Waffen“. So einfach präsentierte der Kanzler seine Politik der militärischen Machtausgestaltung und suchte durch Verharmlosung der Atomwaffen öffentliche Zustimmung zu gewinnen. Denn die Atombewaffnung der Bundeswehr war das Kernstück der Wiederaufrüstung, die Adenauer wie die Spinne im Netz (Hans-Peter Schwarz) betrieb.

Diesem Thema der westdeutschen Sicherheitspolitik der fünfziger Jahre widmet sich Bruno Thoß in einer intensiven, auf sehr breiter nationaler und internationaler Quellenbasis erarbeiteten Studie, die von frühen geheimen Planungen im Amt Blank bis zur verdeckten nuklearen Ausstattung der Bundeswehr in der Aufbauphase reicht. Die militärischen Vorstellungen werden ausgiebig vorgestellt, die Bundeswehr als deutsche Armee im Verbund der NATO zu entwickeln. Spannungen und Kontroversen zwischen Bonn und dem Bündnis waren an der Tagesordnung ebenso wie innerhalb der Führung der Bundeswehr zwischen den Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe. Daneben traten zum Teil heftige Kontroversen innerhalb der obersten Führung selbst auf. Auf der Hardthöhe, dem Sitz des Bonner Verteidigungsministeriums, wurden in Abstimmung mit dem Kanzleramt nukleare Interessen verfolgt, die dem Parlament und der Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieben oder erst nach längeren Zeitspannen bekannt wurden. Die sich etablierende Militärelite stand voll in der Tradition des operativen Denkens der Wehrmacht und des Ostfeldzugs, nun gegen die Sowjetunion ausgerichtet. Die überlieferten Vorstellungen eines „totalen Krieges“ und einer unbedingten Vernichtungsdoktrin wirkten daher in der Bundeswehr weiter und wurden schließlich für die nukleare Ausrichtung politikbestimmend. Im Ergebnis setzten Heer und Luftwaffe auf die Integration der Atomwaffen in die konventionelle Verteidigung und Kriegführung. Im System der „massiven Vergeltung“ fanden Minister Strauß und seine führenden Generale Resonanz, als sie für einen deutschen Beitrag in der NATO „mit der größtmöglichen Zahl an Stärke und Waffen“ plädierten. Es erscheint fantastisch, wie man sich an den realistischen Szenarien eines Atomkrieges als Revolutionierung der Kriegführung berauschte und erkannte, herkömmliche Landoperationen seien nur noch Illusion, da nach dem Einsatz dieser Massenvernichtungswaffen nichts mehr übrig blieb. General Graf Baudissin hatte später mahnend das Wort von der Friedhofsruhe in Deutschland geprägt.

Doch etwa zeitgleich mit dem Aufbau der Streitkräfte in der Mitte der fünfziger Jahre entstand eine partielle Erosion der deutschen Verteidigungsdoktrin. Militärs, konservative im besonderen, befürchteten, das Konzept der nuklearen Verteidigung zerstöre all das, was es zu verteidigen gelte. Auch wenn nur auf der obersten Ebene der Führungshierarchie die tatsächlichen Einsatzpläne bekannt waren, gaben die in die Öffentlichkeit gedrungenen Informationen über den Einsatz von Hunderten von taktischen Atomwaffen in Manövern einen ausreichenden Einblick in die flächendeckende Zerstörung des Landes. Vielen Offizieren wurde angesichts ihres Eides und ihres Berufsverständnisses bange. Daher drohte, wie Thoß anmerkte, „statt Abschreckung beim Gegner mithin Selbstabschreckung im eigenen Lager um sich zu greifen“. Diese Diskurse um den rechten Weg einer Verteidigung – mit mehr Atomwaffen oder mit weniger, mit mehr Integration ins Bündnis oder mit ausschließlich konventionell gerüsteter Armee – werden in der Studie langatmig präsentiert. Dabei schimmert die Grundhaltung des Autors durch, die Plausibilität und die Glaubwürdigkeit jener nuklearen Abschreckungsdoktrin akzeptieren zu können. Daher klingt sein Urteil über die deutsche Atombewaffnung in der Zusammenfassung ungewöhnlich positiv: „Politik hatte solches Denken einer vorrangig atomaren Ausrichtung westlicher Verteidigungsplanung Anfang der fünfziger Jahre in Gang gesetzt und anschließend in Allianzvorgaben umgesetzt.“ Und Thoß fährt fort mit dem Gedanken: „Es konnte denn auch nur die Politik sein, seit Ende dieses Jahrzehnts solches Denken und Planen in die Bahnen einer wieder wesentlich stärker politisierten Bündnisstrategie zurückzulenken.“

So zutreffend diese Darlegung den Wandel hin zur Strategie der „flexiblen Reaktion“ beschreibt, so offenbart sie den positivistischen Charakter dieser Studie. Jenes betonte „Zurücklenken der Atombewaffnung in politische Bahnen“ an der Wende zu den sechziger Jahren bedeutete für die Bundeswehr, dass sie als Ergebnis dieser dezidierten Bonner Machtpolitik und nicht nur als Erfüllung von „Allianzvorgaben“ bis über 1990 hinaus mit Tausenden von Atomwaffen ausgestattet wurde. Allein das Heer verfügte über 2.000 Sprengsätze etwa der Gewalt der Hiroshima-Bombe, zu verwenden zumeist für Kanonen und Haubitzen mit einer Reichweite von bis zu 35 Kilometern. Verteidigung bedeutete per definitionem militärischer Einsatzplanung bereits auf der unteren Ebene der Truppenverbände, Atomwaffen von deutschen Soldaten auf deutschem Territorium einzusetzen, mit allen Konsequenzen. Das wussten die Beteiligten. Dieses Strukturdilemma der Existenz und des Überlebens der Bevölkerung ist Bestandteil der Geschichte der Bundeswehr, aber auch der Geschichte der Bonner Republik insgesamt. Dem ist Aufmerksamkeit zu widmen. Ethik und Interesse der Politik sind zu analysieren. Auskunft ist zu geben über die gewählten Entscheidungen der die Geschichte für Jahrzehnte bestimmenden Politik, die Sicherheit mit militärischen Mitteln versprach, aber dieses Versprechen nicht einlösen konnte. Gleichwohl muss das politische Werteverständnis und ihre Werteorientierung angemessene Konturen in der Geschichtswissenschaft finden.

Die materialreiche und in militärpolitischer Hinsicht beachtenswerte Studie von Thoß wäre ausgereift zu nennen, wenn sie diesen Aspekt militärkritischer Analyse mehr mit berücksichtigt hätte. Denn Atombewaffnung ist nicht irgendeine Bewaffnung wie andere auch (mit der entsprechenden normativen Bindung), es handelt sich um die Ausstattung mit nuklearen Massenvernichtungswaffen. Es wäre ein leichtes gewesen, anlässlich der öffentlichen Auseinandersetzung um die Atombewaffnung 1957 die friedensethische und –politische Dimension besser auszuleuchten und die berechtigte Kritik an der nuklearen Verteidigungskonzeption entsprechend zu Wort kommen zu lassen. Das „Göttinger Manifest“ der Naturwissenschaftler beispielsweise hätte Thoß die Chance gegeben, sachlich die desaströsen Wirkungen der Atomwaffen angemessen zu präsentieren und weitere Dimensionen dieses unlösbaren Dilemmas auszuleuchten; denn das „ganze Ding“ der Atomwaffenpolitik muss in seiner vollen Wirklichkeit deutlich werden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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