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Titel
Erich von Manstein. Vernichtungskrieg und Geschichtspolitik


Autor(en)
von Wrochem, Oliver
Reihe
Krieg in der Geschichte 27
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Ohne Kriege gibt es keine Weltgeschichte, ohne Schlachten und Kriegsherren gibt es keinen Krieg.“1 Bis zum Beginn der 1980er-Jahre legten militärgeschichtliche Untersuchungen ihren Schwerpunkt vor allem auf Taktik, Strategie und militärische Operationen (Schlachten). Auch biographische Arbeiten zu bekannten Generälen standen im Mittelpunkt. Inzwischen zielt das Interesse von Historiker/innen am Thema Krieg besonders auf dessen Funktion als gesamtgesellschaftlicher Erfahrungsraum. Diese Sicht schließt die unterschiedlichen Formen der Erinnerung an Kriege bzw. die Erfahrung von Gewalt und deren Einbettung in die Analyse historischer Hintergründe und Strukturen mit ein. Wie ein kritisches Hinterfragen der persönlichen Handlungsspielräume der Hauptakteure des Krieges aussehen kann, zeigt Oliver von Wrochem in seiner Dissertation am Beispiel Erich von Mansteins (1887–1973), einem der prominentesten Generäle Hitlers, der in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Ausland eine Würdigung als operatives Genie bzw. unpolitischer „Nur-Soldat“ (so Manstein über Manstein) erfahren hat.

Historische Personen manifestieren sich für Wrochem in Überlieferungen, in denen zugleich immer auch Spuren der sie umgebenden und formenden gesellschaftlichen Prozesse enthalten sind. Biographien bilden deshalb tragfähige Indikatoren für die Entwicklung von Konsens- oder Dissenskulturen in Gesellschaften (S. 13) – in anderen Worten: sie lassen sich so auch als Ausgangspunkt geschichtspolitischer Maßnahmen verstehen. Im ersten Teil des Buches skizziert Wrochem Mansteins Werdegang, das heißt schwerpunktmäßig seinen „Weg durch den Vernichtungskrieg“ (S. 28). Nach der Sozialisation im Kaiserreich, dem für seine Generation überaus wichtigen Schlüsselerlebnis Erster Weltkrieg und einer klassischen Karriere nach den Regeln und dem Geist des preußisch-deutschen Offizierskorps näherte sich Manstein ab 1933 dem Nationalsozialismus an.

Im Zweiten Weltkrieg war Manstein ab Herbst 1941 Oberbefehlshaber der 11. Armee auf der Krim und später der Heeresgruppe Süd/Don. Der Streit zwischen Manstein und dem Stab der Einsatzgruppe D (Otto Ohlendorf) um die Verantwortlichkeit für Massenverbrechen an der jüdischen Bevölkerung und russischen Kriegsgefangenen zog sich wie ein roter Faden durch die Nachkriegsprozesse. Wrochem stellt überzeugend dar, dass Mansteins Verhältnis zum Nationalsozialismus bzw. zu Hitler nur in jenen wenigen Fällen wirklich auf die Probe gestellt wurde, in denen Manstein den Erfolg der von ihm geleiteten militärischen Operationen gefährdet sah. Über Stalingrad und das Kriegsende hinaus war das soldatische Ethos des Gehorsams – also auch gegenüber verbrecherischen Befehlen der NS-Führung – für Manstein nicht nur legitim, sondern immer zugleich eine Frage der (Offiziers-)Ehre.

Der zweite Teil der Untersuchung widmet sich ausführlich den inneren Befindlichkeiten der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Mansteins Kriegsgefangenschaft sowie den öffentlichen Kontroversen um die Prozesse gegen die Wehrmachtselite, namentlich die ehemaligen Generäle von Brauchitsch, von Rundstedt, Strauß und von Manstein. Letzterer avancierte in der Kriegsgefangenschaft schnell zum führenden Kopf dieser Gruppe (S. 110). Nachdem das Oberkommando der Wehrmacht im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess nicht als „Verbrecherische Organisation“ eingestuft worden war, wurde Manstein zur wichtigsten Stimme der Deutungen des Vernichtungskrieges, die den Verbrechen der SS und des SD das „saubere“ Vorgehen der Wehrmacht entgegenstellten.

Zeitlich parallel erfolgte die im dritten Teil des Buchs skizzierte Rehabilitation der Wehrmachtselite im Windschatten der öffentlichen Diskussion um die Kriegsverbrecher und der kontrovers geführten Debatte um die Wiederbewaffnung und den Eintritt in das westliche Verteidigungsbündnis. Hier gelingt es Wrochem, die enge Vernetzung von Wehrmachtselite und soldatischen Interessengruppen mit der Medienöffentlichkeit an vielen Beispielen plastisch zu verdeutlichen. Das gekonnt praktizierte Wechselspiel zwischen radikalen Forderungen und pragmatischer Politik – in Form eines klassischen Aushandlungsprozesses – sicherte den Kreisen um Manstein in wichtigen geschichtspolitischen Fragen endgültig die Deutungshoheit. Mansteins frühzeitige Entlassung aus der Haft im Jahr 1953 konnte vor dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund der frühen Bundesrepublik deshalb auch nur als ein deutliches „geschichtspolitisches Signal und erinnerungskulturelles Ereignis“ (S. 248) verstanden werden – zumal Entnazifizierung und Rehabilitation sowie die Rückkehr in die Bürgerlichkeit unmittelbar folgten. Mansteins diesbezügliche Aktivitäten reichten aber weit über seine Freilassung hinaus: Er betrieb aktiv die Umdeutung des Krieges gegen die Sowjetunion hin zu einem legitimen Verteidigungskrieg und erreichte sein Ziel, das Ende der Diskussion um deutsche Kriegsverbrecher, durch Trennung der „soldatischen Ehre“ von den „im deutschen Namen“ begangenen Verbrechen (S. 217), also durch die Unterscheidung zwischen Wehrmachtsangehörigen und nationalsozialistischen Kriminellen bzw. Exzesstätern. Diese Unterscheidung war langfristig wirksam und geriet genau genommen erst durch die beiden „Wehrmachtsausstellungen“ ins Wanken.

Das Geschichtsbild der ehemaligen Wehrmachtsgeneräle fand nicht nur in der Bundesrepublik Anklang, wie die weitreichende Rehabilitierung Mansteins durch Basil Liddell Hart, einen britischen Militärhistoriker, für den angelsächsischen Raum zeigt. Quasi nebenbei entwirft Wrochem im vierten Teil eine Skizze der englischen Nachkriegseliten. Diese weist über den eigentlichen Inhalt des Buchs hinaus und belegt ein „besseres“ Verständnis militärischer Eliten untereinander – auch über nationale Grenzen hinweg.

Die soldatischen Netzwerke in der Bundesrepublik gaben ihre dominante Stellung bei der Ausformung des Nachkriegsgedächtnisses nicht preis; sie bestimmten auch die Gründungsphase der Bundeswehr, zu deren militärischen Beratern Manstein schließlich zählte. So blieb er Zeit seines Lebens gleichzeitig Akteur und Symbol: „Die erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Wegmarken der Verbände und informellen Netzwerke überdauerten ihre Akteure und prägten das westdeutsche Nachkriegsgedächtnis nachhaltig.“ (S. 314) Erst ab den späten 1960er-Jahren gelang es der deutschen Militärgeschichtsschreibung unter den Vorzeichen der Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung allmählich, sich in einem spannungsgeladenen Prozess von ihren „Mentoren“ aus der alten Wehrmachtselite zu lösen.

Wrochem legt den Schwerpunkt nicht direkt auf die Biographie von „Hitlers loyale[m] Gegenspieler“.2 Es ist erklärtermaßen nicht sein Ziel, „Mansteins militärische Karriere und sein militärisches Handeln umfassend darzustellen“ (S. 26). Im Mittelpunkt stehen stattdessen die an Manstein gekoppelte „Erinnerung an den Vernichtungskrieg“ und „die Integration der in diesem Krieg Handelnden in die westdeutsche Gesellschaft“ (S. 15). Diese beiden Vorhaben sind Wrochem durchgehend gelungen, allerdings um den Preis, dass Manstein selbst oft nur indirekt in den Blick gerät – als Verkörperung für den Umgang mit Angehörigen der Wehrmachtselite und deren „gelungene“ Integration sowie als Kristallisationspunkt für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um den Charakter der deutschen Wehrmacht und die Bedingungen des (Vernichtungs-)Krieges in der Sowjetunion. Dies ist etwas bedauerlich, da es neben dem hegemonialen Diskurs der Kriegsverbrecherprozesse und Rehabilitationsbemühungen auch eher unfreiwillige Quellen bzw. Ego-Dokumente zu geben scheint, die, wenn man eine Biographie als sinnhafte Gesamtstrukturierung der Lebensführung einer Person versteht, Mansteins Handeln nach 1945 zusätzlich erhellen könnten. Wrochem hat diesen Aspekt mit dem Bericht über die nahezu triumphale Rückkehr Mansteins nach Allmendingen bei Ulm zumindest angedeutet (S. 258ff.).

Insgesamt überzeugt die Untersuchung damit, die persönlichen Handlungsspielräume Mansteins, die er selbst etwa in den Büchern „Verlorene Siege“ und „Aus einem Soldatenleben“ immer wieder öffentlich beschworen hat, kritisch zu hinterfragen. Die Studie leistet einen weiteren Baustein zur Ausleuchtung geschichtspolitischer Aktivitäten in der frühen Bundesrepublik und einen nicht weniger wichtigen Beitrag zu einer um sozial- und kulturwissenschaftliche Aspekte erweiterten Militärgeschichte.

Anmerkungen:
1 Förster, Stig; Pöhlmann, Markus; Walter, Dierk, Kriegsherren in der Weltgeschichte, in: dies. (Hrsg.), Kriegsherren der Weltgeschichte. 22 historische Porträts, München 2006, S. 7-17, hier S. 17.
2 Müller, Rolf-Dieter, Hitlers loyaler Gegenspieler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.1.2007, S. 8 (Rezension zum vorliegenden Buch).

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