M. Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution

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Titel
Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts


Autor(en)
Schürer, Markus
Reihe
Vita regularis - Abhandlungen 23
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Lützelschwab, Friedrich-Meinecke Institut, Freie Universität Berlin

Das Exemplum ist keine Erfindung des christlichen Mittelalters – auch wenn sich dieser Eindruck im Hinblick auf seine inflationäre Verwendung zumal in Predigten des Hoch- und Spätmittelalters aufdrängen könnte. Doch ist es trotz der scheinbaren Ubiquität des Exemplums bis heute nicht gelungen, zu einer tragfähigen Begriffs-Definition zu gelangen. Für die mediävistische Forschung maßgeblich ist nach wie vor der 1982 von einem französischen Autorenkollektiv herausgegebene Band „L’Exemplum“1, in dem der Versuch unternommen wurde, die Exempelforschung an die damalige Methodendiskussion zu binden. Ergebnis war ein in vieler Hinsicht wegweisender und anregender Band, der seine Ausrichtung auf sozialhistorische Fragestellungen jedoch weder verleugnen konnte noch wollte. Dies führte aber zu einem fast vollständigen Verzicht auf sprach-, rhetorik- und literaturgeschichtliche Fragestellungen, mithin zu einer Engführung der Forschungsperspektive, die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen exemplarischer Rede und vita religiosa unbeantwortet ließ.

Diesem Zusammenhang wird in der an der Technischen Universität Dresden entstandenen Dissertation von Markus Schürer nachgegangen. Der Titel hält, was er verspricht: Es geht um das Verhältnis von Schriftlichkeit und Institutionalität, darum, auf welche rhetorischen Muster zwecks Stärkung der eigenen Institution bzw. Gruppenidentität zurückgegriffen werden konnte. Die Beschränkung auf die beiden zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner erscheint in hohem Maße sinnvoll, waren sie es doch, die sich nach dem Ausscheiden der Gründergeneration der Herausforderung gegenüber sahen, das, was im Orden bisher mündlich überliefert war, zur Legitimation und Stärkung der Institution zu verschriftlichen. Die Arbeit gliedert sich in fünf große Abschnitte. Nach den Prolegomena zu Gegenstand und Fragestellung (S. 15-51) und einem analytischen Blick auf das Exemplum als Kommunikationsmodus (S. 51-103), folgen mit den Untersuchungen zum Exemplum bei den Dominikanern (S. 103-237) und Franziskanern (S. 237-299) die beiden Hauptteile, an die sich eine Synthese nebst abschließenden Bemerkungen anschließt (S. 299-315).

Exempla werden zu Recht als Vermittlungsträger zwischen dem einzelnen Religiösen und dem Ganzen der Gemeinschaft begriffen, was eine weitere zentrale Funktion als didaktisches Medium impliziert. Diese Sichtweise ist nicht neu – auf die Arbeiten Brian P. McGuires 2 und Thomas Füsers 3 wird explizit verwiesen –, und doch folgt die Untersuchung nicht einer ausschließlich ordensgeschichtlichen oder gar monastisch-theologischen Fragestellung. In den Blick geraten gleichermaßen die funktionalen Besonderheiten der rhetorischen Figur „Exemplum“, daneben die Regeln der Kommunikation, Wissensproduktion und Wissensvermittlung im monastischen Kontext, die ihrerseits innovativ mit dem analytischen Instrumentarium der Theorie der Institution verbunden werden.

Der Untersuchung zugrunde liegen fünf Texte. Beim Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré, den Vitas fratrum des Gerardus de Fracheto und einer anonym überlieferten Exempelsammlung im MS Royal 7 D I der British Library handelt es sich um Werke dominikanischer Provenienz, während der anonyme Dyalogus sanctorum fratrum Minorum und die Sammlung B des Codex Ottobonianus lat. 522 der Biblioteca Vaticana franziskanischen Ursprungs sind. Alle Texte bieten hagiografisches Material in Form von Exempla, die zum einen auf herausragende Heiligengestalten als Referenzmodelle verweisen, zum anderen jedoch auch dem Bereich der kollektiven Lebensbeschreibungen zuzuordnen sind. Insbesondere der letzte Punkt ist von überragender Bedeutung bei der funktionalen Bestimmung der Texte. Diejenigen dominikanischer Provenienz entstammen der 2. Hälfte der 1250er-Jahre, diejenigen franziskanischer Herkunft den 1240er-Jahren, einer Zeit also, in der der erste Generationswechsel innerhalb des Ordens zum Abschluss kam. Die Bewältigung dieser Zäsur war deshalb so bedeutsam, weil es darum ging, mündlich tradiertes Wissen für den Orden zu erhalten. Es ging darum, grundlegende Kenntnisse um die Gemeinschaft, ihre Vergangenheit und ihre Eigenart zu verschriftlichen. Ziel war eine institutionelle Stabilisierung durch die Konservierung relevanten Wissens.

Die Frage stellt sich, ob Exempla tatsächlich in der Lage sind, den an sie gestellten Erwartungen gerecht zu werden? In der antiken Rhetorik galten Historizität und Authentizität als diejenigen Elemente, die ein Exempel charakterisieren. Diese beiden Elemente bleiben auch im Mittelalter die grundlegenden Komponenten jeder exemplarischen Rede, werden jedoch durch andere Aspekte ergänzt: Exempla sollen zur imitatio anregen, über eschatologische Weite verfügen und auch als Medium der Wissenstransformation dienen. All diese Punkte werden theoretischen Überlegungen unterzogen, die sich zumeist in den Prologen von Exempelsammlungen und Predigthandbüchern finden und so Zeugnis vom unaufhaltsamen Aufstieg pastoral orientierter Rhetorik ablegen. Humbertus de Romanis konnte so beispielsweise dem Exemplum eine quasi-sakramentale Qualität zuweisen, es gleichermaßen zum Lehr- und Gnadenmittel werden lassen. Aus der Vielzahl der angeführten Belege ergibt sich, dass das Exemplum natürlich der Belehrung bzw. Ermahnung im Zusammenhang der klösterlichen lectio – ob als Lesung im Refektorium oder individuell gestaltet – diente, daneben jedoch auch in der Meditation und im Studium eine wichtige Rolle spielte. Kurz: das Exemplum war im Ordensalltag omnipräsent, begleitete den Novizen vom Zeitpunkt seines Eintritts über sein Studium bis hin zu seiner eigentlichen Tätigkeit als Prediger. Der Verfasser geht wohl nicht zu weit, wenn er feststellt, dass das Exemplum zumindest „im Dominikanerorden den Rang eines wichtigen Mediums der Subjektformierung hatte.“(S. 99) Thomas von Cantimpré benennt als zentrale Funktion der von ihm verfassten bzw. kompilierten Exempelsammlung des Bonum universale de apibus den Transfer hagiografischen Wissens zwischen den einander ablösenden Generationen von Brüdern im Orden und fügt dieses zum allergrößten Teil mittels Exempla transportierte Wissen in seinen konzeptionellen Leitgedanken ein: die Beschreibung und Deutung des Verhältnisses von Vorgesetzten und Untergebenen in religiösen Gemeinschaften mit Rekurs auf die Lebensweise der Bienen. Dass in diesem Text neben den Aspekten von Belehrung und Erbauung auch die Superiorität der dominikanischen Lebensweise aufscheint, kann nicht weiter erstaunen. Auch die Vitas fratrum des Gerardus de Fracheto bewegen sich in diesem Fahrwasser, verfügen jedoch über eine geringere formale und inhaltliche Varianz. Stärker als im Bonum univerale de apibus wird auf die Nahvergangenheit des Ordens eingegangen und diese mit der biblischen Vergangenheit verknüpft. Ergebnis ist eine Einbettung der dominikanischen Lebensweise in die dem momenthaften Geschehen enthobene Struktur der Heilsgeschichte. Damit zeichnet sich ein Selbstverständnis ab, das den Predigerorden als religiöse Elite begreift, die das Jüngste Gericht vorbereitet.

Die funktionale Zweckbestimmung im Bereich der franziskanischen Texte präsentiert sich zunächst ähnlich – und dennoch sind fundamentale Unterschiede festzumachen. Auch im Franziskanerorden versucht man sich am Entwurf einer Art kollektiver Hagiografie und folgt damit den Beschlüssen der Generalkapitel von 1244 und 1276. Doch wird in beiden untersuchten Texten die Geschlossenheit etwa der Vitas fratrum nicht erreicht. Der Dyalogus sanctorum fratrum Minorum zeichnet den Orden als eine Gruppe einzelner visionär bzw. thaumaturgisch Begabter. Was fehlt, ist die Benennung bestimmter Qualitäten bzw. Charismata, die die Gemeinschaft als ganzes auszeichnen würden. Dies hat zwar den Vorteil, dass der Franziskanerorden als eine dem konfliktträchtigen Tagesgeschehen enthobene Institution erscheinen kann, doch täuscht der beharrliche Verzicht auf eine Thematisierung der Armut nicht darüber hinweg, dass eben auch Schweigen ausgesprochen beredt sein kann. Die zum Zeitpunkt der Entstehung des Dyalogus ordensintern und mit dem Papsttum ausgefochtenen Kämpfe um die Deutungshoheit über das den Orden charakterisierende Armutsideal lassen sich nicht durch das Schweigen in von der Ordensleitung angeregten Exempelsammlungen neutralisieren.

Schürer weist schlüssig nach, dass das Exemplum innerhalb der vita religiosa als „fest etabliertes, theologisch reflektiertes und hochgradig konventionalisiertes rhetorisches respektive narratives Medium“ (S. 299) zu gelten hat, das zunächst der Belehrung bzw. Ermahnung im Kloster dient, mit dem Aufkommen der Bettelorden zu Beginn des 13. Jahrhunderts jedoch zu anderen Zwecken instrumentalisiert wird. Im Bereich der Laienpastoral verankert, thematisieren Exempla insbesondere bei den Dominikanern nun Tugenden, die zum normativen Grundbestand mendikantischer vita religiosa gehören und zielen auf eine Typisierung des Verhaltens der Ordensmitglieder. Doch steht nicht allein die Vermittlung von Handlungswissen im Vordergrund, auch das Orientierungswissen erhält den ihm gebührenden Stellenwert. Exempla dienen der Sinnstiftung und liefern Begründungsressourcen im Hinblick auf die Legitimität des eigenen Ordens, stehen somit also auch im Dienst ordensinterner uniformitas. Die Texte franziskanischer Provenienz können hier nur schwer mithalten, berauben sie sich doch durch den Verzicht auf eine Thematisierung des Armutsideals selbst der Möglichkeit, Sinnentwürfe zu liefern, die integrativ wirken könnten. An die beeindruckende organisatorische, logistische und konzeptionelle Leistung, die innerhalb des Dominikanerordens mit der Kompilation der Texte des Thomas von Cantimpré und Gerardus de Fracheto gelang, reichen diese Sammlungen keinesfalls heran.

Die Bibliografie und ein Personenregister – bedauerlich ist der Verzicht auf ein Register der Orte und Sachen – beschließen einen stimulierenden, die Exempla-Forschung ungemein bereichernden Band, dem breite Rezeption zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Bremond, C.; Le Goff, J.; Schmitt, J.-C. (Hgg.), L’Exemplum, Turnhout 1982.
2 McGuire, Brian P., Structure and Consciousness in the Exordium magnum Cisterciense. The Clairvaux Cistercians after Bernard, in: Cahiers de l’Institut du Moyen Age grec et latin 30 (1979), S. 33-90; Ders., Cistercian Storytelling – a Living Tradition. Surprises in the World of Research, in: Cistercian Studies 39 (2004), S. 281-309.
3 Füser, Thomas, Mönche im Konflikt. Zum Spannungsfeld von Norm, Devianz und Sanktion bei den Cisterziensern und Cluniazensern (12. bis frühes 14. Jahrhundert), Münster 2000; Ders.: Vom exemplum Christi über das exemplum sanctorum zum „Jedermannsbeispiel“. Überlegungen zur Normativität exemplarischer Verhaltensmuster im institutionellen Gefüge der Bettelorden des 13. Jahrhunderts, in: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. v. Gert Melville und Jörg Oberste, Münster 1999, S. 27-105.

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