R. Tschapek: Bausteine eines zukünftigen deutschen Mittelafrika

Titel
Bausteine eines zukünftigen deutschen Mittelafrika. Deutscher Imperialismus und die portugiesischen Kolonien, Deutsches Interesse an den südafrikanischen Kolonien Portugals vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Tschapek, Rolf Peter
Reihe
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 77
Erschienen
Stuttgart 2000: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
144,00 DM
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bußmann, Düsseldorf

Rolf Peter Tschapeks Buch über die Bestrebungen für ein "deutsches Mittelafrika" vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist nicht die erste Analyse der deutsch-englischen Verhandlungen über die portugiesischen Kolonien. Wohl aber ist seine Dissertation die umfassendste Untersuchung dieser Materie, weil sie beide Phasen (1898 und 1912-14) analysiert; vor allem aber weil sie die konkrete ökonomische Durchdringung der erstrebten Kolonien einbezieht. Dieser tiefergehendere Ansatz rechtfertigt die Wiederaufnahme eines in den 1970er und 1980er Jahren mehrfach behandelten Teilthemas wilhelminischer Außenpolitik.1 Tschapek findet dabei die richtigen Ansatzpunkte und liefert die passenden Deutungsmuster.

In dem Schicksal der zweifachen deutsch-englischen Verhandlungen von 1898 und 1912-1914 über eine mögliche Aufteilung des portugiesischen Kolonialbesitzes spiegeln sich Entwicklungschancen und das (in diesem Fall: außenpolitische) Potenzial, das selbst nach Abschluss der britischen Ententen dem Kaiserreich noch innewohnte. Deutlich zeigen sich aber auch die Unentschlossenheit und Konzeptionslosigkeit, ja die Unfähigkeit der deutschen Führung, einen ihr gewiesenen Ausweg aus der durch Prestige- und Flottenfixierung sowie Anglophobie eigenverursachten Selbstblockierung zu finden. Um die Jahrhundertwende wie auch kurz vor Ausbruch des Weltkriegs überschätzte man die eigene Macht und vernachlässigte es sträflich, die europäische Gesamtkonstellation realistisch einzuschätzen, sowie daraus die entsprechenden praktischen Konsequenzen zu ziehen.

Kurz nach Beginn der neuen Ära Bülow-Tirpitz mit ihrem Streben nach dem "Platz an der Sonne" schien sich angesichts eines drohenden Staatsbankrotts in Portugal gleich eine günstige Gelegenheit zu ergeben, im Verein mit der Welt- und portugiesischen Schutzmacht England den Kolonialbesitz der Südeuropäer zu beerben. In Verhandlungen zwischen dem britischen Premier Lord Salisbury (später dessen Neffen, Lord Balfour) und dem deutschen Botschafter, Paul Graf Hatzfeldt, wurde ein am 30.8.1898 unterzeichnetes Geheimabkommen ausgehandelt, das eine Aufteilung des portugiesischen Kolonialbesitzes unter die beiden Großmächte vorsah. Die Voraussetzung für eine Umsetzung, nämlich dass sich das revolutionsgeschüttelte, wirtschaftlich ausblutende Land einer Finanzkontrolle der europäischen Mächte unterstellen musste, trat jedoch niemals ein: Portugal konnte sich stabilisieren. Zudem gelang es kaum, deutsches Kapital und deutsche wirtschaftliche Interessen für eine Durchdringung der Kolonien zu mobilisieren. Selbst der Fall war, verstand es die deutsche politische Führung unter Bülow (wie auch auf anderen Feldern, z.B. der Flottenrüstung) nicht, maßvoll zu agieren. Statt eine geschickte pénetration pacifique zu verfolgen und sich zunächst mit einer informellen Einflusszone in Südangola zu begnügen, "mißachtete [sie] grob portugiesische Interessen" (269) und bestand auf einer exklusiven deutschen Einflusssphäre, überspannte damit den Bogen der Forderungen - und stand schließlich mit leeren Händen da.

Die Wiederaufnahme der Verhandlungen begann bereits 1911. Der Wechsel des Personals brachte dabei auch eine Änderung der Stoßrichtung mit sich. Statt wie Bülow auf Prestige und unmittelbare Annexion zu setzen, wollte unter der Kanzlerschaft Bethmann Hollwegs der hauptsächliche deutsche Unterhändler Richard von Kühlmann über den Umweg der Ökonomie politische Vorteile erringen und damit zugleich die deutsche Selbstisolation durch Juniorpartnerschaft mit Großbritannien aufbrechen. "Mittelafrika" lautete das Ziel - nicht nur zur Mehrung deutscher Kolonialmacht, sondern auch als Schlüssel zur Minderung der Spannungen in Mitteleuropa. Die handfesten Vorteile erschienen den Akteuren damals äußerst vielversprechend: Waren Angola und Mozambique erst einmal zwischen England und dem Kaiserreich aufgeteilt sowie Deutsch-Südwest und Deutsch-Ostafrika entsprechend vergrößert, dann sollte auch der "unentbehrliche Schlußstein im Gewölbe" erworben werden, nämlich das belgisch kontrollierte Kongobecken als "gewaltigstes und nach allen bisherigen Forschungen auch reichstes Stück des mittleren Afrikas".2 Dann wären die beiden genannten Kolonien des Kaiserreichs sowohl miteinander als auch (seit dessen Vergrößerung im deutsch-französischen Ausgleich nach der Zweiten Marokkokrise 1911) mit Kamerun verbunden gewesen. Aus unrentablem Streubesitz wäre so ein zusammenhängendes und potentiell sehr ertragreiches Gesamtreich entstanden; und man hätte durch ein konkretes Projekt, das verhandelbar war und über das ein Ausgleich möglich gewesen wäre, zugleich England beruhigt, das die nervöse deutsche Allgegenwart auf der Welt mit großer Sorge verfolgte.

Eingefädelt werden sollte alles durch eine wirtschaftliche Durchdringung des portugiesischen Besitzes. Nun verstand man sich auf das indirekte Spiel 'über die Bande' und in Teilschritten, aus denen man nicht mehr, wie unter Bülow, "unmittelbar innenpolitisch Kapital zu schlagen" (452) gedachte. Stattdessen sicherte sich nach Paraphierung des neu verhandelten Abkommens ein deutsches Bankenkonsortium mit Unterstützung des Reiches am 28.5.1914 die Aktienmehrheit der Nyassa Consolidated Ltd., außerdem plante man im Juli 1914 eine portugiesische Staatsanleihe zu übernehmen und dafür als Sicherheit Angolas Zolleinnahmen einzusetzen. Anstatt jedoch diesen ersten Fuß in die Tür zu bekommen, und damit dem (laut Tschapek) "nicht unrealistisch[en]" Ziel einer Übernahme weiter Teile der portugiesischen Kolonien näherzurücken (19), setzten sich die Stiefel der Soldaten in Europa in Bewegung. Damit aber waren alle deutschen Mittelafrika-Träume zu Ende. "Im Moment des vollständigen Durchbruchs ... de[s] deutschen Finanzimperialismus in den südafrikanischen portugiesischen Kolonien" (445) machten sich die Eliten des Kaiserreichs wesentlich selbst einen Strich durch die Rechnung.

Sehr erkenntniserhellend sind die Schlaglichter, die Tschapek auf die informellen Beziehungsgefüge, auf die "deutsche 'pénetration pacifique'" (330-353) und auf das Geflecht zwischen "Politik und Bankhäuser" (354-432) wirft. Dieser finanzimperialistische Teil der Mittelafrikapolitik wird hier erstmals in Breite behandelt - mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass selbst unter Bethmann Hollweg noch die Banken alles andere als der treibende Faktor waren. Souverän hält der Autor die Balance zwischen einer Charakterisierung der politischen Akteure und deren Zielen (besonders S. 272-302 und 326-329, etwas verstreuter im ersten Teil des Buches) sowie den institutionellen und korporativen Aktivitäten und Absichten.

Ist es wesentlich zu präzisieren, dass mit Kühlmann einer der entscheidenden "Väter" der Neuverhandlungen nicht Ende 1909 oder erst 1910 (wie Tschapek auf S. 282f vermutet), sondern bereits am 29.11.1908 die Stelle des ersten Sekretärs / Botschaftsrats an der deutschen Vertretung in London übertragen bekam, die er acht Tage später antrat? Derartige Ungenauigkeiten ändern nichts an der Richtigkeit der zentralen Aussagen und meiner Zustimmung zu der Darstellung Tschapeks, der den Quellenwert von Kühlmanns Memoiren nüchtern abwägend diskutiert und darauf seine Thesen aufbaut. Ähnlich sind die gelegentlichen Tippfehler einzuschätzen: Der "Walther Goertz" von Seite 283 heißt natürlich Walter Goetz, eine Reihe anderer Verschreiber erklären sich von selbst. Angesichts der wichtigen, quellengesättigten Inhalte und der zumeist verständlichen Sprache des Autors ist die augenscheinlich fehlende, zumindest aber fehlerhafte Lektorierung des Textes sehr bedauerlich, aber keine entscheidende Wertminderung des Buches.

In der Politik mögen vor allem Ergebnisse relevant sein. "was hinten herauskommt". Spätestens aber wenn sie zu Geschichte geronnen ist, wird ebenso interessant, was beinahe herausgekommen wäre - insbesondere wenn, wie in diesem Fall, Gründe und Hintergründe sowohl des Erstrebten wie des Scheiterns kompetent dargestellt, analysiert und erklärt werden. Tschapeks Buch ist eine Detailstudie, die kein grundsätzlich neues Thema aufgreift oder umstürzende Interpretationen liefern will, noch aufgrund der speziellen Thematik einen größeren Leserkreis ansprechen wird. Wer sich jedoch intensiver mit der Außenpolitik des Wilhelminismus auseinander setzen möchte, der sollte an diesem Werk nicht vorbeigehen - und dürfte dabei wohl zu einer ähnlichen Einschätzung kommen, wie sie Tschapeks Doktorvater Wolfgang J. Mommsen in seinem Geleitwort formuliert, dass nämlich "die mächtepolitischen Konstellationen vor dem Kriegsausbruch 1914 für mögliche deutsche weltpolitische Erwerbungen günstiger gewesen sind, als man lange angenommen hat."(10)

Anmerkungen:
1 Zu nennen sind vor allem die im Vorlauf seiner Studie zu "Imperialismus und Gleichgewicht, Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914" (München 1984) entstandenen Aufsätze "Richard von Kühlmann und das deutsch-englische Verhältnis 1912-1914, Zur Bedeutung der Peripherie in der europäischen Vorkriegspolitik", in: Historische Zeitschrift 230(1980)293-337 und "Die Unbotmäßigen? Des Kaisers Londoner Botschafter", in: Neue politische Literatur 24(1979)384-398. Außerdem die beiden Dissertationen von Dirk Oncken "Das Problem des 'Lebensraums' in der deutschen Politik vor 1914" (Freiburg 1948) und Gerald Deckart "Deutsch-englische Verständigung, Eine Darstellung der nichtöffentlichen Bemühungen um eine Wiederannäherung der beiden Länder zwischen 1905 und 1914" (München 1967). Auch in der englischsprachigen Literatur wurde das Thema behandelt: P.H.S. Hatton "Harcourt and Solf, The search for an Anglo-German understanding through Africa 1912-1914", in: European Studies Review 1(2/1972)123-142; Richard Langhorne "Anglo-German negotiations concerning the future of the Portuguese colonies 1911-1914", in: The Historical Journal 16(1973)361-387; J.D. Vincent-Smith, "The Anglo-German negotiations over the Portuguese Colonies in Africa 1911-1914, in: Ebd. 17(1974)620-629.
2 Kühlmann an Bethmann Hollweg, 8.1.1912, in: Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914, Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, hg. v. Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme, Bd. 31, Nr. 11345.

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