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Titel
Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des College de Sociologie (1937-1939)


Autor(en)
Moebius, Stephan
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Oldenburg

Wie kaum ein anderes geschichtswissenschaftliches Unterfangen stellt die Geschichte des Denkens eine erhebliche theoretische, methodische und konzeptionelle Herausforderung dar. Egal ob als Wissenschaftsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Ideengeschichte oder Diskursgeschichte konkretisiert, stellt sich hier insbesondere die Frage nach dem Verhältnis des historischen Gegenstands zur gegenwärtigen Forschungspraxis. Der konstitutive Gegenwartsbezug einer Geschichte des Denkens lässt sich dabei in unterschiedlicher Weise realisieren – als Intervention in Prioritäts-, Kompetenz- oder Legitimationsstreitigkeiten zwischen einzelnen Wissenschaften im akademischen Betrieb; als versuchte Steigerung der Beweiskraft der eigenen Aussagen oder aber als Akzentuierung der Wissenschaftsgeschichte als „epistemologisches Labor“.1

Stephan Moebius, der an anderer Stelle bereits eine Konzeption von Soziologiegeschichte vorgelegt hat 2, stellt sich in seiner umfangreichen Studie zum Collège de Sociologie (1937-1939) besagter Herausforderung. Soziologiegeschichte, wie Moebius sie versteht, untersucht Akteure, Praxisformen, wissenschaftliche Ergebnisse, Institutionen und gesellschaftliche Funktionen der Soziologie. Ihre Bedeutung ergibt sich aus dem historischen Charakter soziologischer Gegenstände. Dieser macht es nötig, die „konstitutiven differentiellen Relationen und temporären Verweisungen, die zur Konstituierung der ‚Gegenstände’ und zu den jeweiligen theoretischen Konzeptionalisierungen führen“ zu analysieren (S. 23f.). Diese Perspektive ermöglicht es Moebius, die historische Funktionsweise eines bestimmten (soziologischen) Modus der Wissensproduktion mit dessen spezifischen Aktualisierungspotentialen zu verbinden.3 Dies wird besonders in der detaillierten Rekonstruktion der Wirkungsgeschichte des Collège de Sociologie deutlich, dessen „Nachwirkungen“ sich unter anderem bei Jean Baudrillard, Michel Foucault, Jean-Luc Nancy, Emmanuel Lévinas oder Jacques Derrida zeigen. So rückt Moebius die Arbeiten des Collège dann auch konsequent in einen Zusammenhang mit der unter anderem von ihm zur Diskussion gestellten Konzeption einer „poststrukturalistischen Sozialwissenschaft“ 4, die von der Analyse der Geschichte des Collège de Sociologie insofern profitiert, als dass sich hier ein Instrumentarium sichtbar machen lässt, „das wesentlich zur Analyse gegenwärtiger Gesellschaften, ihrer Denksysteme und ihrer soziokulturellen Exklusionen des heterologischen Anderen beitragen“ kann (S. 481).

Dem Collège de Sociologie, gegründet und wesentlich getragen von Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois, ging es vornehmlich um die Etablierung einer Sakralsoziologie, in deren Mittelpunkt die Erforschung der „vitalen Elemente gemeinschaftlicher Bindungen“ wie kollektiver Erfahrungen und deren „Erweckung“ in der modernen Gesellschaft standen. Der Propagierung von Gemeinschaften lag die individualisierungskritische Annahme zu Grunde, wonach moderne Gesellschaften durch eine weitgehende Zersplitterung, Rationalisierung und den Ausschluss marginalisierter Anderer gekennzeichnet seien. Diese Gesellschaftsdiagnose führte zu der Annahme, moderne Gesellschaften bedürften der Bildung neuer „moralischer“ Gemeinschaften, die sich über kollektive „Erregungen“ zu konstituieren hätten. Propagiert wurden Typen von Gemeinschaftlichkeit, die weder Gesellschaft absolut negieren noch auf Dimensionen traditioneller Gemeinschaften zu reduzieren sind. Die Formierung neuer Gemeinschaften sollte freilich nicht konsolidierende Identifizierung mit bereits bestehenden Gemeinschaften oder Wiederholung früherer Gemeinschaften sein, „sondern versteht sich als Herausforderung sozial zugeschriebener Identitäten, diese – vor dem Hintergrund der bestehenden Gemeinschaft und deren heterologischen Außen – schöpferisch zu modifizieren oder neu zu erfinden. [...] Gemeinschaft ist ständig in wiederholender Praxis; sie ist keine Substanz oder ein Subjekt, sondern ist Mit-Teilung in Praxis“ (S. 151). Trotz seiner spezifischen Neuheit reihen sich diese Überlegungen durchaus in die klassischen soziologischen Diskurse ein, weil das Collège „ebenfalls den unentscheidbaren, offenen und spannungsgeladenen Hiatus zwischen einem angenommenen Gemeinschaftsverlust der Moderne und der als notwendig empfundenen Sozialintegration zu bewältigen sucht. Die Art der Bewältigung macht nicht einfach bei einer Diagnose halt, sondern es werden ‚therapeutische’ und bisweilen nahezu utopische Maßnahmen erwägt, ausgearbeitet und vorgeschlagen, um erstens das Problembewusstsein für die prekäre gesellschaftliche Situation zu schärfen und zweitens Handlungsvorschläge zu unterbreiten“ (S. 117).

Die skizzierte Orientierung des Collège evozierte ein neues Wissenschaftsverständnis sowie eine neue wissenschaftliche Praxis. So brach das Collège zuallererst mit der Unterscheidung von Soziologie, Ethnologie und Anthropologie, indem eine ethnologische Betrachtungsweise auf moderne Gesellschaften bezogen, das heißt Soziologie zur ethnografischen Selbstreflexion moderner Gesellschaften wurde. Angestrebt wurde eine Sakralsoziologie im Dienste der Erforschung und Erneuerung der im Schwinden begriffenen „vitalen“ Elemente moderner Gesellschaften und in Auseinandersetzung mit rationalistisch verkürzten Gesellschaftsvorstellungen. „Das Collège will das gemeinschafts-konstituierende ‚Sakrale’ untersuchen und es damit aus seinem sekundären oder supplementären Status befreien.“ (S. 135) Dies sollte explizit nicht im Rahmen einer Spezialsoziologie geschehen, sondern allgemeine Wissenschaft sein, die auf grundlegender Ebene nach den Bedingungen und der Konstituierung gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen Zusammenlebens blickt. Eine allgemeine Wissenschaft „lebt davon, sich niemals gegen Elemente abzuschließen oder sich zu homogenisieren; vielmehr geht es um eine ständige, rückhaltlose Überschreitung in Richtung heterogener Elemente des Sozialen oder sozialer Sinnsysteme, so dass auch die Soziologie selbst nicht mehr als identitätslogische oder selbstreferentielle Disziplin begriffen wird. Es sind die Randerscheinungen, die Widersprüchlichkeiten oder der Nicht-Sinn sozialer Sinnsysteme, die für eine allgemeine Wissenschaft interessant werden“ (S. 168).

Eine Institution wie das Collège, dies macht Moebius hinreichend deutlich, entsteht nicht aus dem Nichts, und so verwundert es nicht, dass verschiedene Themen sowie die Zusammensetzung des Collège auf vorangegangene politische Gruppierungen wie z.B. „Contre-Attaque“ oder „Acéphale“ verweisen: Erstere eine Gruppe, die sich als außer- und antiparlamentarischen Gegenangriff sowohl gegen Faschismus als auch gegen die aufkommenden nationalistischen Tendenzen verstand, zugleich aber die kleinbürgerliche Moral und revolutionsfeindliche Haltung der Linken kritisierte und eine antibürgerliche Lebenspraxis als Überschreitung bürgerlicher Werte entwickelte; letztere eine von Bataille gegründete Geheimgesellschaft, die nicht nur religiös motiviert war, sondern „in einem gewissen Sinne eine Aufhebung (im Hegelschen Sinne) der Politik ins Religiöse zu praktizieren [versuchte], so dass alltägliches religiöses Leben und Politik keine Gegensätze mehr bilden würden und sich auf diese Weise sowohl neue soziale Kohäsionen als auch insgesamt lebenspraktische Veränderungen der als atomisiert und entfremdet betrachteten Individuen ereignen könnten“ (S. 254). Neben diversen institutionellen Vorläufern und einer Zeitschrift stellen die Sitzungen und Vorträge des Collège den zentralen Institutionalisierungsschritt dar. Die Sitzungen und die dort präsentierten Beiträge waren für die Selbstdefinition und Konstituierung der Gruppe wesentlich, gaben den Rahmen für ihre symbolische Selbstpositionierung ab und stellten soziale Beziehungen her. Zudem boten sie Diskussionsstoff und Forschungsmaterial für weitere Arbeiten.

Stephan Moebius hat eine außerordentliche Arbeit vorgelegt, die Wissen und Wissenschaft im vollen Wortsinn als soziale Praxis bestimmt. Einerseits eine Gesellschaftsgeschichte intellektueller und sozialer Konfigurationen der Zwischenkriegszeit ist seine Studie zugleich ein wichtiger Theoriebeitrag, dem sich weder Soziologie noch Gesellschaftsgeschichte verschließen sollten. Gerade diese doppelte Orientierung bietet wichtige Anschlussmöglichkeiten für eine angemessene Historisierung und analytische Durchdringung dessen, was als Moderne etikettiert werden kann. Deutlich wird dabei, dass die Geschichte moderner Gesellschaften stets die Geschichte diskursiver und sozialer Praktiken ist. Jenseits ihrer Ver- und Bearbeitung, ihrer vielschichtigen Aneignung, die stets gleichzeitig Hervorbringung, Veränderung und Fortschreibung ist, lässt sich so etwas wie die Moderne als Gegenstand der Gesellschaftsgeschichte gar nicht ausmachen. Wissenschaftliche Arbeiten und soziale Praxis des Collège de Sociologie, wie Moebius sie einer überzeugenden Analyse unterzogen hat, sind ein interessanter Teil einer Gesellschaftsgeschichte der Moderne, die zeigen können müsste, dass diese, verstanden als spezifischer Praxismodus, sich auch und vielleicht gerade in den Versuchen ihrer Überschreitung realisiert, dass sie Instrumente bereitstellt, die unterschiedliche Varianten eines „Ordnungsdenkens“ ermöglichen, deren gemeinsames Merkmal der explizit moderne Modus der Durchdringung von Gesellschaften ist. Obwohl Integration und Stabilität zentrale Topoi blieben oder überhaupt erst wurden, ließen sich diese Topoi freilich neuartig füllen. Sie konnten sich, wie die Arbeiten des Collège de Sociologie exemplarisch zeigen, als Effekt eines dynamischen Spiels von Attraktion und Repulsion einstellen – basierend auf einer Ordnung der Überschreitung und des Exzesses. Auch der Rückgriff auf die Kategorie der Gemeinschaft musste nicht zwangsläufig romantische oder reaktionäre Wiederbelebung einer vermeintlichen vormodernen Idylle sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Canguilhem, Georges, Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1979, S. 22-37.
2 Vgl. Moebius, Stephan, Praxis der Soziologiegeschichte. Methodologien, Konzeptionalisierungen und Beispiele der soziologiegeschichtlicher Forschung, Hamburg 2004.
3 Zur begrifflich-theoretischen Präzisierung der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Aktualität, wie es hier in den Blick gerät, böte sich der Begriff des Dispositivs an, wie in Gilles Deleuze im Anschluss an Foucault präzisiert hat, insofern es in jedem Dispositiv gilt, „das, was wir sind (was wir schon nicht mehr sind), von dem zu unterscheiden, was zu werden wir im Begriff sind: den Anteil der Geschichte und den Anteil des Aktuellen. Die Geschichte ist das Archiv, das Muster dessen, was wir sind und aufhören zu sein, während das Aktuelle der Entwurf dessen ist, was wir werden. So dass die Geschichte oder das Archiv das ist, was uns noch von uns selber trennt, während das Aktuelle jenes Andere ist, mit dem wir bereits übereinstimmen.“; vgl. Deleuze, Gilles, Was ist ein Dispositiv?, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt am Main 2005, S. 322-331, hier S. 329.
4 Vgl. Moebius, Stephan, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt am Main 2003.

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