Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II, 18. Jahrhundert

Titel
Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. II, 18. Jahrhundert.


Herausgeber
Hammerstein, Notker; Herrmann, Ulrich
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
583 S
Preis
118 €
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Juliane Jacobi, Potsdam

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie der Geschichte, dass als krönender Abschluss des großen Projektes „Handbuch der der deutschen Bildungsgeschichte“ nach zwei Jahrzehnten ausgerechnet der Band über das Zeitalter erscheint, das das „pädagogische Jahrhundert“ genannt wird.

Bereits in den siebziger Jahren konzipiert, reflektierte das sechsbändige Handbuch von Anfang an die „Neue Geschichte“ insofern als die Herausgebergruppe ein breites Verständnis davon entwickelten, was unter „Erziehung“ zu verstehen ist. So, wie sich auch die voran gegangenen Bänden keineswegs auf die Geschichte des pädagogischen Denkens und die Schulgeschichte im engeren Sinn beschränkten, bietet auch dieser Band eine breite Einführung in bildungsgeschichtlich relevante epochenspezifische Kontexte und pädagogische Handlungsfelder. Er setzt das bewährte Konzept der interdisziplinären Kooperation zwischen Erziehungswissenschaftlern, Historikern und anderen Geistes- und Sozialwissenschaftlern aus Volkskunde, Literaturwissenschaft und Medienwissenschaften fort und vermittelt ein sehr komplexes Bild des zu besichtigenden „pädagogischen Zeitalters“.

Barbara Stollberg-Rillinger charakterisiert im einleitenden Kapitel die Signatur des aufgeklärten Zeitalters bis zur Auflösung des Alten Reichs aus rechts-, sozial- und wirtschafts- sowie kommunikationsgeschichtlicher Perspektive. In den beiden folgenden mentalitätsgeschichtlichen Kapiteln beleuchten Michael Maurer und Ulrich Herrmann die Veränderungen der menschlichen Erfahrungshorizonte des 17. und 18. Jahrhunderts und den Wandel von Kindheit, Jugend und Familie im 18. Jahrhundert. Vor diesem Kontext gewinnt die Darstellung der Geschichte des pädagogischen Denkens von Ulrich Hermann eine große Klarheit, auch wenn man dem Autor bei seinem Gang durch pädagogisches Denken im 18. Jahrhundert nicht unbedingt folgen möchte. Die Entwicklung stellt er vielleicht doch etwas zu zielgerichtet und harmonisch dar. Geistesgeschichtlich erweitert wird Herrmanns Darstellung durch den Beitrag von Wilhelm Sparn zu „religiöse[n] und theologische[n] Aspekte[n] der Bildungsgeschichte im Zeitalter der Aufklärung“. Sparns frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Darstellung zeigt besonders eindrucksvoll, welche Bedeutung für das veränderte Verständnis von Erziehung und die pädagogischen Reformansätze des 18. Jahrhunderts die Neologie für das „protestantische Deutschland“ hatte. Diese führende theologische Richtung des 18. Jahrhunderts, die zwischen Vernunft und Offenbarungsglauben zu vermitteln suchte, produzierte die bekannten Ambivalenzen aufklärerischer Reformprozesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die auf Dauer das Auseinandertreten christlicher und säkularer Bildungskontexte nicht aufhalten konnten. Betroffen von diesem Prozess waren nicht nur die männliche Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die jüdische Minderheit und die Frauen, vor allem der mittleren und höheren Schichten. Diesem Faktum wird in zwei gesonderten Abschnitten Rechnung getragen, die den Stand der Forschung zur deutsch-jüdischen Bildung vom Ausgang des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Michael Nagel) und der Erziehung und Schulbilddung für Mädchen (Christine Mayer) referieren.

Das vierte Kapitel ist den Schulen und Hochschulen gewidmet. Es ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Als profunder Kenner der Materie stellt Wolfgang Neugebauer die Zustände des niederen Schulwesens von 1600 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts im Alten Reich dar. In der daran anschließenden Darstellung der Reformen des 18. Jahrhunderts kommt er zu dem Schluss: „Der Reformabsolutismus des theresianisch-josephinischen Typs und die Kulturintensivierung in den Gebieten der Germania Sacra waren, was das niedere Schulwesen anlangt, ungleich wandlungsfähiger als absolutistische oder weniger absolutistische Flächen-‚Staaten’ Mittel-, Nord- und Ostdeutschlands.“ (S. 247) Auch sei die Bedeutung lokal verankerter Reforminitiativen von aufgeklärten Pfarrern und Bürgern sowie bestimmter Gruppen des Landadels um 1800 von größerer Bedeutung für das öffentliche Schulwesens gewesen als staatliche Initiativen. Neugebauer hat damit eine spektakuläre Neuinterpretation der Schulreformen des 18. Jahrhunderts vorlegt und kann durch eine resümierende Interpretation vieler Einzelergebnisse der Lokal- und Regionalforschung den schon lange angezweifelten Mythos von der Vorreiterfunktion protestantischer Staaten, namentlich von Preußen, bei der Entwicklung des öffentlichen Schulwesens im 18. Jahrhundert gründlich widerlegen. Mit diesem Beitrag hat der Autor einen Meilenstein gesetzt, von dem alle weitere Forschung zur Geschichte des niederen Schulwesens in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert ihren Ausgang nehmen wird. Jens Bruning kann, ebenfalls im Rückgriff auf die Geschichte der protestantischen Gelehrtenschulen des konfessionellen Zeitalters überzeugend zeigen, „dass sich gerade diese Bildungseinrichtungen mit einer zum Teil jahrhundertealten Tradition als ein Zentrum der Entwicklung auf dem Weg zum modernen Schulwesen des 19. Jahrhunderts darstellen, da sie „sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts [...] durchaus als reformfähig und reformwillig erwiesen hatten, und […] im Gegensatz zu den experimentellen Philanthropinen auf das engste mit den lokalen Verhältnissen verbunden waren.“ (S. 314) Die datengesättigte Darstellung des katholischen Gymnasialwesens im 17. und 18. Jahrhundert von Notker Hammerstein und Rainer A. Müller korrigiert, an den ersten Band des Handbuchs (15. bis 17. Jahrhundert) anknüpfend, das in der deutschsprachigen pädagogischen Historiographie seit dem 19. Jahrhundert vorherrschende Ungleichgewicht zu Gunsten protestantischer Regionen und deren Schulwesen. Gemeinsam ist beiden Abschnitten über das „gelehrte“ Schulwesen, dass sie nachhaltig verdeutlichen, wie Beharrung und Wandlung im institutionellen Sektor des Bildungssystems nicht erst seit dem 19. Jahrhundert ineinander greifen. Das gut erforschte Gebiet der Universitätsgeschichte wird von Notker Hammerstein zur Darstellung gebracht.

Daneben befinden sich in diesem Kapitel Darstellungen neu entstehender Schulformen. Die Philanthropine (Hanno Schmitt) und die Hohen Schulen (Isa Schikorsky) sind die letztlich an dem Versuch, die alteuropäische Trennung von theoretischer und praktischer Ausbildung auf jeweils zwar unterschiedlichem aber hohem schulischen Niveau zu überwinden, gescheitert und haben das Zeitalter institutionell nicht überlebt. Die Geschichte der Berufsbildung rekapituliert aus der Perspektive gewerblicher und kaufmännischer Berufsbildung die pietistischen und philanthropistischen Reformimpulse und deren vorläufiges Scheitern (Peter Bruchhäuser).

Der Beitrag über Fürsorge und Wohlfahrtswesen (Peter Albrecht) suggeriert durch die aus dem 19. und 20. Jahrhundert übernommene Begrifflichkeit die Einheitlichkeit eines sozialen Sektors, die in dieser Form im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert nicht gegeben war. Neben der volkserzieherischen Herausforderung, die der Pauperismus des 17. und 18. Jahrhunderts sowohl für staatliche wie bürgerliche Initiativen darstellte, werden institutionelle Einrichtungen, die zumeist aus der Frühen Neuzeit stammten, beschrieben. Ärgerlicherweise berücksichtigt der Artikel die Ergebnisse der neueren Waisenhausforschung (z. B. Safley 1997/2005, Meumann 1995, Sträter/Neumann/Wilson 2003) nicht. Dagegen zeigt Reinhart Siegert in seinem weit ausgreifenden und detailliert informierenden Beitrag zur Volksbildung, welche immense Bedeutung das aufgeklärte Zeitalter für das Entstehen einer Bildungsöffentlichkeit gehabt hat, die weit über Reform der Erziehung von Kindern hinausging. Dieses Kapitel enthält den einzigen etwas ausführlicheren Abschnitt in diesem Handbuch zum Problem der Alphabetisierung und Alphabetisierungsforschung, einer Forschungsrichtung, die in Deutschland nicht nur wegen des immer wieder beschworenen Mangels an seriellen Quellen für die Zeit vor 1800 wenig entwickelt ist, sondern auch wegen der Dominanz pädagogischer Fragestellungen in der deutschsprachigen historischen Bildungsforschung, die sich – als immanentes Problem pädagogischen Denkens – weniger für die Wirkungen von Erziehung als für Absichten von Erziehern interessierte.

Im letzten Kapitel werden unterschiedliche Aspekte des für die Bildungsgeschichte relevanten Kulturlebens in vier Abschnitten, die sich zum Teil an Institutionen, zum Teil an Vermittlungsmedien orientieren, dargestellt: Kinder- und Jugendliteratur (Ulrich Hermann), Bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft (Hans Erich Bödeker), Theater (Hans-Jörg Grell) und Museum (Ingeborg Cleve).

Die letzten Sätze der Einleitung der Herausgeber lassen erahnen, dass es Schwierigkeiten bei der Erstellung dieses Bandes gegeben hat. Neben Ungleichzeitigkeiten in Bezug auf das Referat des Forschungsstandes dokumentiert der Band auch weiterhin die Prägung der bildungshistorischen Forschung in Deutschland durch die, „Herrschaft der Pädagogen“, die Marie-Madleine Compère (1995) in ihrem großen wissenschaftsgeschichtlichen Essay zur Bildungsgeschichte in Europa als „deutsche Tradition“ identifiziert hat. Ulrich Herrmann stellt in seiner Schlussbetrachtung die epochalen Tendenzen des Jahrhunderts „vor allem in den protestantischen Gegenden Deutschlands“ ins Zentrum, hebt die Entstehung des Bildungsbürgertum hervor, verweist in diesem Zusammenhang auf die kulturgeschichtliche Bedeutung des protestantischen Pfarrhauses, und stellt Philanthropismus und Pestalozzi als die Zielpunkte der bildungsgeschichtlichen Entwicklung des 18. Jahrhunderts dar. Er schreibt damit eher eine Bildungsgeschichte fort, die das Zeitalter aus der pädagogischen Traditionsbildung und ihrer Legitimation heraus versteht als eine, die nach weiter gefassten Strukturmustern der Erziehungsgeschichte fragt. Pestalozzis Kulturtheorie zu würdigen und ihn in einem Atemzug mit Herder zu nennen, unterstreicht dieses Anliegen. Schade, dass die neuen Perspektiven vor allem der schulgeschichtlichen Artikel des vierten Kapitels hier nicht noch einmal aufgegriffen werden und Bildungsgeschichte trotz anders lautender Programmatik (als „Gesellschaftsgeschichte“) letztlich Geistesgeschichte bleibt. Der letzte Satz des Bandes, der einen Anschluss an Nipperdeys Geschichte des 19. Jahrhunderts markieren soll: „Am Ende stand Napoleon“, ist in dieser Perspektive auf das 18. Jahrhundert kaum zwingend. Handelt es sich bei dieser Epochalisierung nach den Ergebnissen der in diesem Band präsentierten schulgeschichtlichen Forschungen um eine für die Bildungsgeschichte sinnvolle Chronologie? Diese Frage drängt sich nach der Lektüre des Bandes geradezu auf. Schade, dass der Mitherausgeber in seiner conclusio nicht zu neuen Ufern vorgestoßen ist. Das von ihm und Notker Hammerstein vorgelegte eindrucksvolle Werk hätte eine solche Neuinterpretation vielleicht möglich gemacht.

Literatur:

Compère, Marie-Madleine: L’histoire de l’éducation en Europe : essay comparatif sur façon dont elle s’écrit. Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York, Paris, Wien 1995.

Meumann, Markus: Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord: Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. München 1995.

Safley, Thomas Max: Charity and economy in the orphanages of early modern Augsburg. Atlantic Highlands (N. Y.) 1997.

Safley, Thomas Max: Children of the labouring poor: expectations and experience among the orphans of early modern Augsburg. Leiden 2005.

Sträter, Udo/Neumann, Josef (Hg.): Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. in Verbindung mit Renate Wilson. Tübingen 2003.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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