M. Puhle (Hg.): Otto der Große, Magdeburg und Europa

Titel
Otto der Große, Magdeburg und Europa. Katalog-Handbuch in zwei Bänden


Herausgeber
Puhle, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIV + 584 Seiten, 394 Abb. bzw. VIII + 616 Seiten, 522 Abb.
Preis
DM 165,-, EUR 84,50 (Ausstellungsausgabe DM 98,-)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Willich, Akademie der Wissenschaften in Mainz

Als der Verfasser dieser Rezension Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts 18 Monate kaserniert in Magdeburg verbrachte, gab es ein festes Ziel seiner seltenen „Ausgänge“: den gotischen Dom. Von dessen Inventar war es vor allem das Antikriegsdenkmal Ernst Barlachs, dessen Botschaft er nicht nur situationsbedingt suchte und verstand. Hingegen konnte der frischgebackene Schulabgänger trotz Reifezeugnis mit dem Grab im Chor nur wenig anfangen. Der dort beigesetzte Kaiser Otto der Große spielte im Geschichtsbild der DDR so gut wie keine Rolle; in der Schule war er allein zu Beginn der Oberstufe als Repräsentant der feudalen Ausbeuterklasse erwähnt worden, der sich in seinem Größenwahn 962 im fernen Rom zum Kaiser krönen ließ und damit der deutschen Geschichte eine schwere Hypothek verschaffte. Eine Festschrift zum 1000-jährigen Jubiläum des auf Wunsch und Initiative Kaiser Ottos gegründeten Erzbistums Magdeburg kam 1968 nur unter großen Schwierigkeiten zustande 1. Doch auch im Westen war die durch nationalistische Verzerrungen belastete Erinnerung an Otto und sein Memorialzentrum Magdeburg offenbar sehr verblasst. Hagen Keller stellte jüngst fest, dass die „Wissenschaft für Jahrzehnte fast unter sich“ blieb, „während sie ein neues Panorama der ottonischen Epoche erarbeitete“ 2. Noch 1997 resümierte Dieter Bartetzko in der FAZ, die sich gerade wegen ihrer ottonischen Vergangenheit auszeichnende Stadt Magdeburg sei die „terra incognita in der deutschen Seelenlandschaft und allenfalls als Schauplatz fremdenfeindlicher Brutalität in aktueller Erinnerung“ 3. Es macht daher Sinn, dass das Thema „Otto der Große und Magdeburg“ in den von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen „Deutschen Erinnerungsorten“ fehlt 4.

Das Kulturhistorische Museum in Magdeburg unter der Leitung von Matthias Puhle hat in den vergangenen Jahren mehrere Ausstellungen präsentiert, die der Erinnerungslosigkeit gegenüber der Geschichte der Stadt und ihres Umlandes gegenzusteuern suchten (u.a. über Erzbischof Wichmann sowie über die Zerstörungen von 1631 und 1945). Den Höhepunkt dieser verdienstvollen Aktivitäten bildet jetzt die von der Politik hochrangig geförderte, der Öffentlichkeit weithin durch Werbung und Presse bekannt gemachte Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“. Zusammen mit der Ausstellung „Europas Mitte um 1000“ 5 handelt es sich um die 27. Ausstellung des Europarates, zugleich um eine Landesausstellung Sachsen-Anhalts. Der Verlag Philipp von Zabern hat dem „Ausstellungsereignis des Jahres“ in seinem Programm breiten Raum gegeben 6. Während Alfons Zettler in seiner am 26. November 2001 von H-SOZ-U-KULT publizierten Rezension die Ausstellung selbst in den Mittelpunkt stellte, soll im Folgenden der Schwerpunkt bei deren Katalog liegen, der in zwei großformatigen (21 x 28 cm), gebundenen Bänden erschienen ist.

Den Ausstellungskatalog im engeren Sinn bietet Band 2 mit den den Bereichen der Ausstellung entsprechenden Kapiteln „Geschichte und Überlieferung“, „Die ottonische Königslandschaft in Sachsen“, „Otto der Große und seine Familie“, „Herrschaft und Reich“, „Magdeburg - ,die königliche Stadt‘“, „Das ottonische Kaisertum in Europa“. Zu jedem Ausstellungsstück werden die notwendigen Angaben zur Pertinenz und Aufbewahrungsort, ein sachkundiger Kommentar und (wenigstens) ein Foto geboten; zudem wird auf weitere Fotos im ersten Band verwiesen; es folgen Literaturhinweise. Die Bebilderung ist von so hoher Qualität, dass man in Gefahr gerät, die Kommentare nicht zu lesen. Was ein Verlust wäre. Denn was hier (um ein Beispiel zu nennen) von Wolfgang Huschner zu ottonischen und päpstlichen Urkunden geboten wird, stellt den Forschungsstand nicht nur berichtend dar, sondern führt über diesen mit neuen Erkenntnissen hinaus. Leider im Inhaltsverzeichnis nicht eigens ausgewiesen sind kurze, sachkundige Einführungen zu einzelnen (nicht zu allen) Themenbereichen, von Martina Hartmann zur „ottonischen Historiographie“ (mit dem Versuch, das saeculum obscurum von eben diesem Beinamen zu befreien), zur „Pfalz Werla“ von Edgar Ring, zum „Bergbau“ von Lothar Klappauf, zu „Brandenburg (Havel)“ von Klaus Grebe, zu „Wiesenau“ von Reinhard Probst, zu „Religionen und Volksfrömmigkeit einer Übergangszeit“ von Ingo Gabriel, zu „ungarischen Reitern der Landnahmezeit“ und „fränkischen Reitern des 10. Jahrhunderts“ von Erik Szameit, zu „oberitalienischer Kunst im 10. Jahrhundert“ von Fabrizio Crivello, zu „ottonischen und angelsächsischen Metallgussarbeiten“ von Leslie Webster, zum „Kalifat von Cordoba zur Zeit der ersten beiden Kalifen (912-976)“ von Almut von Gladiss und zu „Dänemark“ von Heide Eilbracht.

Eine Aufzählung, die der Vielfalt und Qualität der in Magdeburg gezeigten Objekte gerecht zu werden suchte, müsste zu Überlängen führen. Wenigstens genannt sei das Kuriosum von Obstkernen, mutmaßlich ausgespuckt von menschlichen Mündern des 10. Jahrhunderts (II. 3 j). Höhepunkte des Katalogs sind sicher die Magdeburger Elfenbeintafeln, in der Magdeburger Ausstellung zusammengeführt aus dem Metropolitan Museum of Art (New York) sowie aus sieben europäischen Museen (V. 35), und die prachtvolle Heiratsurkunde der Theophanu (III. 16). Aber selbst diese Hervorhebung bereitet dem Rezensenten Unbehagen ob der hervorragenden Präsentation antiker, von Otto dem Großen aus Italien nach Magdeburg gebrachter Spolien, frühmittelalterlicher Handschriften und Urkunden (darunter viele Stücke, die dem Historiker dieser doch recht quellenarmen Zeit zuvor zwar aus Editionen, aber oft nicht durch Abbildungen bekannt waren), prachtvollen Schmucks, archäologischer und baukundlicher Dokumentationen etc. etc.

Im ersten Band des Katalogs werden laut Titel „Essays“ geboten, doch wird sich der Leser auf eine Reihe von Spezialstudien gefasst machen müssen, die den Diskursen ihrer Fächer verhaftet bleiben. Indes gibt Matthias Puhle in seinem einführenden Beitrag „Otto der Große, Magdeburg und Europa“ den historischen Überblick, den der interessierte Laie suchen wird. Allerdings gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass diese Europa eine Dame ist, die nicht recht weiß, wie sie sich dem Paar Otto und Magdeburg zuordnen soll. Auf das Problem kommen die Autoren des Bandes an verschiedenen Stellen zu sprechen. Nicht immer überzeugen die Deutungen, wie etwa jene von Gerhard Streich, Magdeburg habe beim Tod des Kaisers 973 „eine allgemein anerkannte europäische Spitzenstellung erreicht“ (S. 79). Hätten dem der westfränkische König, der Papst in Rom oder der Kalif in Cordoba zugestimmt? Die Kaiserkrönung, ein Ereignis, das zweifelsohne Folgen für die europäische Geschichte hatte, trug, wie Bernd Schneidmüller herausarbeitet, eher zur Entzweiung der werdenden Nationen bei, als dass sie Verbindendes schuf (S. 515). Johannes Fried weist darauf hin, dass man in Italien dem sächsischen Barbaren mit Abscheu begegnete (S. 540). Fried ist es auch, der die Geschichte der Erinnerung an Otto den Großen in überzeugend essayistischer Form schreibt und am deutlichsten von allen Autoren des Bandes vor Aktualisierungen warnt. Ottos Denk- und Handlungshorizont stellt sich der gegenwärtigen Forschung als von christlich-apokalyptischen Vorstellungen geprägt dar, Europa war darin ebenso wenig eine Größe wie Deutschland.

Der erste Band des Katalogs beginnt mit Grußworten der Politik, die Otto für die europäische Idee vereinnahmen möchten, und schließt mit Frieds provozierenden Fragen: „Sollte Europa - mit seinen Nationen, mit seiner Wissenschaft, mit seinen Ängsten - eine Frucht derartiger Apokalyptik sein? Und Otto der Große ein Herrscher, der nachhaltig diese fruchttragenden Baum zu hegen verstand? Ein Kaiser am Ende der Zeiten?“. Diese Skepsis ist unbedingt angebracht. Andere Beiträge des Katalogs zeigen das geographische Europa des 10. Jahrhunderts als ein durch kulturelle Vielfalt geprägtes und nicht als Einheit zu begreifendes, lediglich durch kaum regelmäßige und oft feindselige Kommunikation innerlich verbundenes Gebiet, das slawische Reiche, Teile von Byzanz, Ost- und Westfrankenreich, Italien, England und Dänemark ebenso umfasste wie das Kalifat in Spanien.

Den Blick kritisch auf die europäische Dimensionierung der Ausstellung und des Katalogs zu fokussieren, würde aber bedeuten, die wichtigen Beiträge zu übersehen, die aus Politik-, Sozial- und Kunstgeschichte, Archäologie und Numismatik geboten werden. Eine gewisse Sensation stellt der Beitrag von Babette Ludowici dar, in dem die bisherige Annahme einer auf dem Magdeburger Domplatz ergrabenen Königshalle Ottos des Großen problematisiert wird. Eine Beschreibung des Grabes Ottos des Großen im Dom, wie sie Ernst Schubert und Uwe Lobbedey bieten, lag bisher nicht vor. Erhellend sind die Ausführungen von Joachim Ehlers zu angelsächsisch-sächsischen Beziehungen im 10. Jahrhundert; weiterführend ist die Beobachtung Klaus Zernacks, dass die Gründungsurkunde für das Bistum Brandenburg von 948 bei der Beschreibung des Diözesangebietes um Köpenick eine Lücke aufweist, die vielleicht durch polnische Herrschaft in diesem Gebiet zu erklären ist. Mitunter vertreten die Autoren verschiedene Standpunkte (etwa bei der Beurteilung des karolingischen Erbes durch Timothy Reuter und Eckhard Müller-Mertens oder bei der Auswertung von Grabungsbefunden im Dombereich durch Ernst Schubert und Gerhard Leopold sowie Cord Meckseper), aber dies verdeutlicht nur, dass Forschung zum 10. Jahrhundert allein Diskussion und nie letztgültige Definition sein kann.

Claus-Peter Hasse bietet einen „Versuch“ zur Rezeptionsgeschichte Ottos des Großen in Magdeburg. Der Beitrag bringt einen gelungenen Überblick auf dem Stand der Forschung, macht aber auch deutlich, dass man derzeit nur wenig über die liturgische Memoria des Kaisers weiß, obgleich die Überlieferung von Erzbischöfen und Domkapitel im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt doch einige Hinweise bietet. Bemerkenswert ist auch, dass Otto der Große laut seiner 1501 beschriebenen Grabinschrift in Magdeburg als „summus honor patriae“ gefeiert wurde (Schubert/Lobbedey, S. 387). In diesem Zusammenhang sei auf den erzbischöflichen Rat Hans von Hermansgrün hingewiesen, der in seinem reichsreformerischen „Traum“ von 1495 einen Reichstag im Magdeburger Dom stattfinden und dort Otto als den „major Romanorum imperator“ neben dem „magnus“ Karl und dem als Restaurator „rei publicae Germanorum“ gelobten Kaiser Friedrich Barbarossa mahnend auftreten lässt 7. Auch wenn Fried in seinem oben schon genannten Beitrag wohl mit Recht ausführt, dass Otto bis in das 19. Jahrhundert hinein kein deutscher National-Heros war, an den man sich in gleicher Weise wie an Karl den Großen erinnert hätte, so sah man dies in Magdeburg wohl immer etwas anders.

Obgleich die von Alfons Zettler bemängelten Schwächen der Konzeption unübersehbar sind, befriedigen die beiden Katalogbände in hohem Maße bibliophile Wünsche ebenso wie das mediävistische Fachinteresse. Offenkundig sind aber die Diskrepanzen zwischen der Politik, die die Ottonenzeit „als frühes Beispiel europäischer Einigung“ (Bundespräsident Johannes Rau als Patron der Ausstellung in seinem Grußwort) feiern möchte, und der Wissenschaft, die sich jeder Bemühung um politische Identifikation mit dem Hinweis auf die unaufhebbare Distanz von 1000 Jahren verschließt. So bleibt zu wünschen, dass die Ausstellung und der Katalog zwar den Zusammenhang zwischen Magdeburg und Otto den Großen einem breiten Publikum ins Gedächtnis rufen, aber nicht zu einer falschen Gleichsetzung von politischen Strukturen des 10. Jahrhunderts mit denen der europäischen Gegenwart führen.

1 Franz Schrader: Erfahrungen mit der Herausgabe einer wissenschaftlichen Festschrift zum 1000jährigen Jubiläum der Gründung des Erzbistums Magdeburg. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, in: Wichmann-Jahrbuch für Kirchengeschichte des Diözesangeschichtsvereins Berlin NF 2 (1992/93) S. 147-155.
2 Hagen Keller: Die Ottonen, München 2001 (= C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2146), S. 11.
3 Dieter Bartetzko: Wunderkammer im Schatten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. August 1997, Nr. 188, S. 31.
4 Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.
5 Vgl. die Rezension von Ralf Blank in H-SOZ-U-KULT, 18. November 2001.
6 Vgl. www.zabern.de/neuerscheinungen.
7 Heinrich Ulmann, Der Traum des Hans von Hermansgrün. Eine politische Denkschrift aus d. J. 1495, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 20 (1880) S. 67–92. Jetzt auch in: Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter, ausgewählt und übersetzt von Lorenz Weinrich, Darmstadt 2001 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 39), S. 380–411.

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