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Titel
Der Nordirland-Konflikt. Von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart


Autor(en)
Kandel, Johannes
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Keisinger, SFB 437 - "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Lange Zeit sprach man in der historischen und politikwissenschaftlichen Forschung – nicht anders als in der internationalen Presse – verharmlosend von „troubles“ („Unruhen“), wenn die blutigen Auseinandersetzungen um die nationale und staatsrechtliche Zugehörigkeit Nordirlands diskutiert wurden. Dabei kamen dort im Zuge der Auseinandersetzungen seit 1968 mehr als 3700 Menschen gewaltsam ums Leben, weit über 50.000 wurden verletzt. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl der Region (gerade einmal 1,5 Millionen) bedeutet dies, dass ein Fünftel der nordirischen Bevölkerung den Konflikt am eigenen Leib zu spüren bekam.

Worum es in der Auseinandersetzung jedoch geht, wie der Konflikt entstand und wer hier eigentlich wen bekämpft, darüber scheint sowohl in der Presse als auch in der Wissenschaft alles andere als Klarheit zu herrschen. In den wenigen Arbeiten in deutscher Sprache, die sich mit dem Konflikt bisher wissenschaftlich auseinandergesetzt haben, ist zumeist abwechselnd von „politischem Machtkampf“, „Religionskrieg“, „kriminellem Bandenterrorismus“ oder „anti-kolonialistischem, anti-imperialistischem Befreiungskampf“ die Rede. Es scheint gar, als wisse man nicht so recht, was man mit nationalen Konflikten nach nordirischem Muster in Zeiten anfangen soll, in denen sich Europa erneut anschickt, als geeinter Akteur in die Weltpolitik einzugreifen, sei es in Afghanistan, im Nahen Osten oder im globalen Kampf gegen den Terrorismus.

Daher entbehrt es keiner Grundlage, wenn der Berliner Politikwissenschaftler und Referatsleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, Johannes Kandel, in seinem umfassenden Buch zur Geschichte des Nordirland-Konfliktes von der Region als dem „Hinterhof Europas“ spricht, „für den sich jenseits der grünen Insel nur wenige interessieren“ (S. 9). Im Gegensatz zu einem anderen europäischen „Hinterhof“, dem Balkan, handelte es sich im Falle Nordirlands um eine Problematik, die stets als eine dezidiert britische wahrgenommen wurde.

Kandels umfassende und mit reichlich Literaturverweisen versehene Arbeit schließt nicht nur auf hohem Niveau eine Lücke in der Forschungslandschaft. Sie besitzt zudem die wertvolle Eigenschaft, über Lehrbuchcharakter zu verfügen, eine Kombination, die durchaus nicht selbstverständlich ist. Der Leser wird über Ereignisverläufe und aktuelle Forschungsstände der unterschiedlichen Nordirland-Problematiken seit den späten 1960er-Jahren ebenso kompetent wie ausgewogen informiert, so beispielsweise über die unterschiedlichen Lesarten des „Bloody Sunday“ von 1972. Gleichzeitig scheut Kandel nicht davor zurück, eigene Positionen durchaus überzeugend einzubringen. So macht er aus seiner Abneigung gegen die unionistische Galionsfigur und den fundamentalistischen Eiferer Ian Paisley kein Geheimnis. Eine den Kapiteln angehängte Ereignischronologie wie auch die Hervorhebung von Schlüsselbegriffen im Fließtext unterstreichen den Lehrbuchcharakter des Werkes und erleichtern dem an schneller Informationsgewinnung interessierten Leser das Arbeiten.

Inhaltlich geht Kandel streng chronologisch vor, wobei er seinen Blick weit, vielleicht ein wenig zu weit, in die Geschichte zurückschweifen lässt. Im ersten (und schwächsten) von insgesamt drei Großkapiteln wird das lange „historische Erbe“ (1169-1969) des Nordirland-Konflikts skizziert. Dabei bemüht sich Kandel einerseits darum, diesem zweifellos wichtigen Thema mit immerhin knapp 100 Seiten gebührenden Platz einzuräumen, stößt dabei jedoch aufgrund der schlichten Fülle des Stoffes oftmals an seine Grenzen. Dies wird unter anderem bei der Behandlung der 1916er Rebellion deutlich. Der für die weitere Entwicklung so zentrale Aspekt der gesellschaftlichen und politischen Militarisierung in den Jahren vor dem ‚Easter Rising’, die gerade auch im Norden der irischen Insel ihren Ausdruck in der Formierung zahlreicher paramilitärischer Verbände fand, wird kaum erwähnt. Von einer phasenweisen Loslösung von der strikt chronologischen Erzählweise zugunsten eines etwas problemorientierteren Vorgehens hätte das erste Kapitel profitiert. Demnach handelt es sich beim Nordirlandproblem um einen dezidiert politischen Konflikt zwischen zwei konfessionell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Kandel weist zu Recht darauf hin, dass die protestantische wie auch die katholische Kirche im Lauf der 20. Jahrhunderts wiederholt die Gewaltsamkeit der Konfliktaustragung verurteilt und zu Schritten der Aussöhnung gemahnt haben.

Auch im stärkeren zweiten Teil des Buches, der die Radikalisierung des Konflikts von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre bis zum beginnenden Friedensprozess sowie dem Abschluss des anglo-irischen Abkommens von 1985 behandelt, macht Kandel aus seiner Abneigung gegen die radikalen Positionen keinen Hehl. Dies trifft sowohl die nationalistische Irisch Republikanische Armee (IRA) und Sinn Fein, als auch die Ulster Volunteer Forces (UVF) und die Ulster Defence Association (UDA) sowie deren politischen Arm, der von Paisley 1971/72 ins Leben gerufenen Democratic Unionist Party (DUP) auf Seiten der Unionisten. Gemäßigte Kräfte, wie der reformorientierte nordirische Premier Terence O’Neill, oder die 1970 aus der Bürgerrechtsbewegung erwachsene und von John Hume ins Leben gerufene Social Democratic Labour Party (SDLP), hatten in den Jahren der gewalttätigen Eskalation einen nahezu aussichtslosen Stand. Mit der gerade für diese Thematik zwingend notwendigen Unparteilichkeit sowie eindrucksvoller Detailfülle zeichnet Kandel diese gut fünfzehn Jahre zum Teil exzessiver Gewalt anschaulich nach. Die Lesbarkeit wird nicht zuletzt durch das Einstreuen von den Text auflockernden Kurzportraits, wie denjenigen des Hungerstreikers Bobby Sands oder auch des charismatischen Anführers der Sinn Fein, Gerry Adams, immer wieder gewährleistet.

Der dritte und letzte Teil des Bandes behandelt schließlich „Nordirland am Rande des Friedens“. Ausgehend von vorsichtig sich annähernden Dialogen in den späten 1980er-Jahren (die so genannte „Irish Peace Initiative“ durch Adams und Humes) über erste Friedensbekundungen von Seiten der IRA in den Jahren 1994/1997 wird der lange und wechselvolle Prozess bis hin zum „Good Friday Agreement“ des Jahres 1998 nachgezeichnet, mit welchem alle beteiligten Parteien ihren Willen zur demokratischen und friedlichen Beilegung ihrer Differenzen festschrieben. Dass dieser eingeschlagene Weg kein leichter sein würde und bis heute als nicht abgeschlossen gelten darf, muss nicht betont werden. Denn nach wie vor gilt: Unionisten und Nationalisten bleiben bei ihren grundlegend gegensätzlichen politischen Zielvorstellungen, dem Verbleib im Vereinigten Königreich versus ein Vereinigtes Irland. Dementsprechend zurückhaltend verhält sich Kandel mit einer Prognose für die weitere Entwicklung der nordirischen Frage. Von zentraler Bedeutung jedoch erscheint ihm das weitere Vorantreiben zivilgesellschaftlicher Initiativen, ohne deren Engagement in Form von unzähligen Friedensinitiativen und deren Beitrag zur Aussöhnung zwischen den Konfliktparteien die Spirale der Gewalt nicht hätte durchbrochen werden können. Sie waren es, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Radikalität der Auseinandersetzung, die den Konflikt zwischen den späten 1960er- und den 1980er-Jahren für knapp 20 Jahre so leidvoll prägte, in weitgehend moderate Bahnen gelenkt werden konnte. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die den politischen Dialog in Nordirland prägenden politischen Akteure oftmals dieselben geblieben sind.

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