Titel
"Mehrung der Volkskraft". Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933


Autor(en)
Weipert, Matthias
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anette Schlimm, Oldenburg

Die teilweise hysterischen Diskussionen, die gegenwärtig über den „demographischen Niedergang“ geführt werden, sind keineswegs die ersten dieser Art. Auch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war das Thema Bevölkerung in aller Munde. Bezugspunkt der Diskussionen war stets die Vorstellung, in einer „Gesellschaft im Umbruch“ zu leben; verknüpft wurde „die Bevölkerung“ implizit oder explizit mit Begriffen wie „Volk“, „Nation“ oder „Rasse“. In seiner Dissertation bemüht sich der Siegener Historiker Matthias Weipert, in dieses Diskurs-Dickicht eine Schneise zu schlagen: Anhand von Bevölkerungsdebatten in bürgerlichen Rundschauzeitschriften und Konversationslexika 1 stellt er eine Systematik des bürgerlich-öffentlichen Diskurses vor, den er überzeugend mit dem wissenschaftlichen Bevölkerungsdiskurs verknüpft, aber dennoch von diesem zu differenzieren vermag. Weipert rekonstruiert den bürgerlichen Diskurs über Bevölkerung anhand von vier eng miteinander verflochtenen Argumentationssträngen: dem quantitativ-bevölkerungspolitischen, dem siedlungs-, dem gesundheits- und dem rassenpolitischen Bereich (S. 17). Alle vier Argumentationsweisen bezögen daraus ihre Relevanz, dass es ihnen um mehr gehe als nur um die Bevölkerung an sich: „Letzten Endes zielten die Diskussionen auf die Bevölkerung als Leistungsgemeinschaft und damit als Machtressource, die für das Überleben der Nation im ‚Kampf ums Dasein’ unerlässlich war.“ (S. 17) Diese Vorstellung eines Überlebenskampfs, so Weipert, müsse in engem Zusammenhang mit einem Bewusstsein der Krise gesehen werden, das sich aus modernen Entwicklungen wie Industrialisierung, Urbanisierung, Binnenwanderung oder Geburtenrückgang gespeist habe.

Das Phänomen der sinkenden Geburtenziffern wurde für die Wissenschaft wie für Politik und Öffentlichkeit erst ab circa 1900 ein Thema. Während jedoch die wissenschaftliche Auseinandersetzung von der Suche nach den Ursachen des Geburtenrückgangs geprägt war, interessierte das in der bürgerlich-öffentlichen Diskussion offenbar wenig. Vielmehr ging es, so Weipert, im öffentlichen Diskurs, ungleich stärker als im wissenschaftlichen, um den Überlebenskampf der Nation im Kampf mit den Nachbarn. Die Beschäftigung mit den innenpolitische Folgen eines Bevölkerungsrückgangs kann Weipert in den von ihm untersuchten Quellen nicht erkennen, die Beiträge konzentrierten sich größtenteils auf die Imagination eines Geburtenkampfes zwischen den europäischen Völkern. Dies, so Weipert, könne auch der Grund dafür sein, dass die Geburtenrückgangsdiskussion ihren Höhepunkt erst während und nach dem Ersten Weltkrieg erlebte, während die sinkenden Geburtenziffern bereits längere Zeit die Wissenschaft vor ein Rätsel stellten.

Vor dem Hintergrund der realen Erfahrung von Industrialisierung, Urbanisierung und Binnenwanderung, so Weipert, entwickelte das siedlungspolitische Argumentationsmuster seine Schlagkraft. Die öffentliche Diskussion in bürgerlichen Medien wurde von drei unterschiedlichen Diskussionen stark beeinflusst: von der nationalökonomischen Debatte um Agrar- oder Industriestaat, von Überlegungen zur „inneren Kolonisation“ sowie von Vorstellungen, durch eine umfassende Reform des Lebens könne ein „neuer Mensch“ geschaffen werden. Diese drei Diskussionen, die ursprünglich recht wenig miteinander zu tun hatten, verquickten sich im bürgerlich-öffentlichen Diskurs zu einem Strang, in dem offensive Siedlungspolitik die Rolle eines wirkungsvollen Instrumentes für vielfältige gesellschaftliche Probleme spielte: Durch das Leben auf dem Land sollte der (in den Augen der Zeitgenossen) fortschreitende qualitative wie quantitative Niedergang der Bevölkerung eingedämmt werden, ebenso wie die Siedlungen einen Schutzwall gegen eine befürchtete erneute Völkerwanderung aus dem Osten Europas bilden sollten. Zudem wurde in die Förderung der Landbevölkerung die Hoffnung gesetzt, der Nahrungsmittelknappheit und der Arbeitslosigkeit, insbesondere in der Zwischenkriegszeit, Herr werden zu können.

Das gesundheitspolitische Argumentationsmuster ist nicht leicht zu charakterisieren, da sich unter seinem Namen eigentlich zwei verschiedene, ein gesundheits- und ein krankheitsbezogener Ansatz verbergen. Gemeinsam war diesen Argumentationen, die ihr Material zum einen aus den Gesundheitswissenschaften, zum anderen wiederum aus der Lebensreformbewegung bezogen, jedoch die auf die Dichotomie von Krankheit und Gesundheit bezogene Kritik an der modernen Industriegesellschaft sowie am großstädtischen Leben. Die Bevölkerung wurde als gesundheitlich gefährdet beschrieben, ihre Genesung war jedoch nicht Ziel an sich, sondern Mittel zur Stärkung der Nation.

Das letzte Argumentationsmuster, das Weipert beschreibt, ist auch dasjenige, das zeitlich gesehen das Späteste ist: Erst seit Beginn der 1920er-Jahre setzt in der bürgerlichen Öffentlichkeit die Rezeption der rassenhygienischen Forschungen ein. Auf der Grundlage realer Erfahrungen (Weipert spricht von der Verelendung der Arbeiter, der Ausbreitung von Volkskrankheiten, Prostitution und Geisteskrankheiten – S. 161) war die These von der zunehmenden Rassendegeneration in der Wissenschaft etwa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert diskutiert worden. Im öffentlichen Bevölkerungsdiskurs setzte sich bis Ende der 1920er-Jahre eine zustimmende Haltung zu den Axiomen der Rassenhygiene durch, die sich vor allem in der Diskussion von möglichen eugenischen Maßnahmen zeigte. Da die Degeneration der Bevölkerung gleichgesetzt wurde mit einer Bedrohung der Nation, gleichzeitig aber die Eugenik und Rassenhygiene die Vorstellung forcierten, man könne zukünftige Generationen verbessern, zeigte sich das rassenpolitische Argumentationsmuster als zugleich fortschrittsoptimistische und -pessimistische Haltung. Diese Vermischung könne, so Weipert, ihre große Anziehungskraft erklären.

Nachdem Weipert die einzelnen Diskursstränge sehr materialreich und überzeugend rekonstruiert hat, bemüht er sich um eine Kontextualisierung des bürgerlich-öffentlichen Bevölkerungsdiskurses. In diesem sehr knappen zusammenfassenden Kapitel führt er jedoch weniger die gemeinsamen Elemente der vier Argumentationsweisen zusammen. Stattdessen bietet er einen knappen Forschungsüberblick zur Bürgertumsforschung. Neben einem kurzen und nicht überzeugend angebundenen Exkurs zur Nationalismusforschung behandelt er auch die Krisenwahrnehmung, die er – ohne dabei den Begriff der Krise ausreichend zu reflektieren – pauschal als „Sinnverlust“ darstellt.2 Damit entgeht ihm ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Diskussionen über Bevölkerung in ihrer Stoßrichtung auf die Gestaltung einer alternativen Zukunft analysieren zu können. Zwar betont er noch im Abschnitt über das quantitative Argumentationsmuster, dass es nicht „die gegenwärtigen demografischen Entwicklungen [waren], die Anlass zur Sorge gaben, sondern die für die Zukunft erwarteten“. Doch gerade dieser wichtige Aspekt der eigentümlichen Zeitlichkeit der Bevölkerungsdiskussion wird nicht wieder aufgegriffen, wenn es lediglich darum geht, die Erosion bürgerlicher Werte als die „Krise“ des Bürgertums in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu beschreiben.

Spätestens in diesem letzten Kapitel werden auch die methodischen Schwierigkeiten der Untersuchung deutlich, die vorher bereits aufscheinen: Bereits in den Analysekapiteln fallen die teils abschätzigen Bemerkungen zu den Quellen auf: Weipert spricht z.B. von einer „verqueren Logik“ der Argumentation (S. 69), von „unkomplizierte[m] Eklektizismus“ (S. 146) oder von einer „perfide[n] These“ (S. 172), die die Diskutanten vertreten hätten. So angemessen diese Bewertungen in einer politischen oder ethischen Diskussion sein mögen, so unangemessen erscheinen sie mir in einer historischen Studie, die Diskursanalyse sein will. Insbesondere, weil Weipert immer wieder seinen Quellen vorhält, das Individuum nicht ausreichend hoch zu bewerten, ist es ihm nicht möglich, die Eigenlogik der diskursiven Verknüpfungen ausreichend zu analysieren – insbesondere auch deshalb, weil er mit einem ahistorischen Begriff des Individuums operiert, der im abschließenden Satz der Studie kulminiert: „[S]ie [die Ansichten über Bevölkerung – AS] sollten, dies sei betont, stets ihr Korrektiv in der Orientierung an den Menschenrechten finden, die geeignet sind, einer menschenverachtenden bevölkerungspolitischen Praxis entgegenzusteuern.“ (S. 241)

Trotz der genannten Schwachpunkte ist Weiperts Studie sehr lesenswert und informativ. Die systematische und materialreiche Entschlüsselung des bürgerlichen Bevölkerungsdiskurses hat er in weiten Teilen überzeugend geleistet, und so bleibt nur noch zu betonen, dass die Erforschung der Bevölkerungsdiskussion zwar längst nicht abgeschlossen sein kann – insbesondere deshalb, weil noch immer transnationale Studien fehlen –, aber doch einen guten Schritt voran gekommen ist.

Anmerkungen
1 Im Einzelnen sind dies der Brockhaus und Meyers Konversationslexikon sowie die vier Rundschauzeitschriften „Deutsche Rundschau“, „Freie Bühne/Neue Deutsche Rundschau“, das „Hochland“ sowie „Die Tat“. Ausführlicher zu diesen Zeitschriften vgl. S. 22ff. 2 Deutlich überzeugender stellt sich in diesem Zusammenhang der folgende Sammelband dar: Föllmer, Moritz; Graf, Rüdiger (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt 2005.