Cover
Titel
Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Fritzen, Florentine
Reihe
Frankfurter Historische Abhandlungen 45
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Linse, Fakultät 13: Allgemeinwissenschaften, Fachhochschule München

Nach den beiden auch im Wortsinne äußerst gewichtigen ausstellungsbegleitenden Katalog-Bänden „Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900“ (Darmstadt 2001) nimmt man Florentine Fritzens bei Lothar Gall in Frankfurt am Main entstandene Dissertation nicht ohne körperliche Erleichterung in die Hand. Auf knappen 366 Seiten will das Buch eine Geschichte der „Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert“ bieten. Allerdings begreift man bereits bei Lektüre der Einführung, dass solches Abspecken auch Verzicht bedeutet – nämlich auf die angeblich „peripheren“ lebensreformerischen Bewegungen und Vereinigungen der Alkoholgegner, der Kleidungsreformer, der Gartenstadt- und Siedlungsbewegung, der Bodenreformer, der Impfgegner, der Reformpädagogik und Landerziehungsheime, des Natur- und Heimatschutzes, des Tierschutzes und der Vivisektionsgegner, der Nacktkultur und „Rassenkunde“, der Anthroposophen und Freireligiösen, der Frauen- und Jugendbewegung. Nach dieser Gewichtsreduzierung bleiben Vegetarismus und Naturheilkunde übrig, aber diese eher als Vorläufer, während „im Mittelpunkt der Untersuchung“ die Reformwarenwirtschaft steht (S. 12). Sie sei der „kommerzialisierte und langlebigste Zweig der Lebensreform“ gewesen (S. 33).

„Gesünder leben“ heißt die Arbeit im Haupttitel. Das bedeutete für Fritzen die dröge Lektüre von einem Jahrhundert Reformwarenzeitschriften und erweckt beim Leser die – dann auch erfüllte – Erwartung auf durch solche wissenschaftliche Askese gewonnene Erkenntnisse zu Wandlungen des „Gesundheits“-Konzepts und seiner Begründungen sowie auf Einsichten in die sich verändernde Praxis dieses „gesünderen Lebens“ einschließlich der Palette der gesundheitshalber angebotenen Reformwaren. Nehmen wir also dankbar vom Teller, was geboten wird, und erfreuen wir uns daran – das „große Fressen“ war bei diesem Thema ja auch nicht unbedingt angesagt.

Fokussierende Fragestellungen sind bei Fritzen allerdings schwer auszumachen. Mit Ausnahme der ausführlichen Darstellung von Lebensreform-Organisation, Vegetarismus, Reformwarenwirtschaft und Naturheilkunde im Nationalsozialismus (S. 64-106) umgeht sie auch die in bisherigen Geschichten der Lebensreform herausgearbeiteten politischen Aspekte. Und abgesehen vom Hinweis auf Carl Christian Brys Buch „Verkappte Religionen“ (Gotha 1924, Neuausg. München 1979) fehlt eine Analyse dieser eigentümlich diesseitigen „Gesundheitsreligion“ mit teilweise sektiererischer Ausprägung. Zwar zitiert Fritzen Herbert Rätz’ reizvollen Titel „Die Religion der Reinheit“ (Bad Homburg 2001), misst der Veröffentlichung aber keinen weitergehenden Wert zu. Auch hätte man als Leser gern erfahren, was Fritzen an ihrem Thema denn persönlich reizte, welche Erfahrungen sie selbst mit Schrotbrot und Hafermüsli, Reformmargarine und Erbswurst, Bio-Wein und Natur-Haarfärbemittel verbindet. Aber ein solches persönliches Outing verabscheut die heutige sachliche Geschichtswissenschaft offenbar.

Implizit enthält das Buch jedoch sehr wohl eine zentrale und akzeptable These: Die Lebensreform sei auf den Voraussetzungen der „Modernität“ entstanden. Dies gelte für ihre Organisationsformen (Verband, Verein, Genossenschaft, Unternehmen), für ihre Kommunikationsformen (Zeitschriften und andere Publikationen; Reklamestrategie), für ihre gewerblichen Aktivitäten (Erholungsheime, Naturheilanstalten, Sanatorien, Reformwarenhersteller) und ihre Vertriebsmethoden – vom ursprünglichen Vertrieb durch den Hersteller direkt an den Endkunden hin zum Verkauf der Produkte über das Reform(waren)haus als Spezialgeschäft (S. 46), das mit den Jahrzehnten Teil eines über ganz Deutschland sich ausbreitenden „Reformhausnetzes“ wurde (S. 33).

Die Deutung der Lebensreform mittels einer Antimodernisierungsthese lehnt Fritzen deshalb als zu vereinfachend ab und stellt ihr eine differenziertere Sicht entgegen: „Die Lebensreformbewegung war [...] eine Erscheinung der modernen Industrie-, Wissens- und Konsumgesellschaft. Zugleich trat sie immer auch als Kritikerin dieser Gesellschaft auf, sagte der Nahrungsmittelindustrie den Kampf an, beklagte eine zu verwissenschaftlichte Welt, stritt gegen den Verzehr von Fleisch, gegen das Rauchen und das Trinken von Alkohol. Überhaupt kritisierte die Bewegung jede Art von übermäßigem Konsum. [...] Bei all ihrer Konsumkritik bot die Lebensreform ihren Kunden in den Reformhäusern aber eben auch selbst Konsumgüter an. Die Bewegung lehnte den Modernisierungsprozess nicht grundsätzlich ab, begriff aber die tatsächliche Entwicklung als Fehlentwicklung [...].“ (S. 33f.) So sei die Lebensreformbewegung gleichzeitig „modern“ und „antimodern“ gewesen.

Während sich Gesundheits-, Körperkultur- und Reformbewegungen in vielen Industrieländern entwickelt hätten, spricht Fritzen der deutschen Lebensreformbewegung insbesondere des Kaiserreiches ein eigenes Profil zu, habe sie sich doch nicht nur die Verbesserung des Einzelnen zum Ziel gesetzt, sondern in besonderem Maße auch eine gesellschaftliche Reform bezweckt (S. 36). Einen Zusammenhang dieser Intention mit dem Scheitern der bürgerlichen Revolutionen in Deutschland diskutiert sie nicht.

Zeitlich sieht Fritzen in der deutschen Lebensreformbewegung vor allem eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Sie sei getragen worden von einer männerdominierten „Generation Reformhaus“ (S. 139-161), geboren zwischen 1900 und 1906, gestorben zwischen 1980 und 1990 (immerhin ein statistisches Indiz für die Wirksamkeit des „gesünderen Lebens“!). Die Gemeinsamkeit der Biographien mache sie zu „eine[r] Generation des Aufbruchs, eine[r] Generation, deren Leben von Aufbau, Zerstörung und Neuanfang geprägt war“ (S. 159). Eine Verbindung dieser Erfahrungen mit den lebensreformerischen Strategien von Heil und Heilung (einschließlich der ideologischen Vereinnahmung im Nationalsozialismus) wird aber nicht hergestellt.

Für den Leser reizvoll sind die Kapitel über die Reformwarenwirtschaft im Nationalsozialismus, die zwar „gleichgeschaltet“, aber nicht etwa verboten, sondern gefördert wurde. In der DDR konnten sich einige Reformhäuser bis 1989 halten, obwohl dort wichtige Reformwaren wie Quark und Nüsse nicht erhältlich waren (S. 123). In der Bundesrepublik verschärfte sich der Wettbewerb besonders durch die Reformkonkurrenz in Supermärkten und Kaufhäusern. So bot die Edeka-Gruppe bereits 1957 „Wertkost“ an (Diätmargarine, Sonnenblumenöl, Fruchtsäfte; S. 118). Das damalige Selbstverständnis der Reformwarenwirtschaft wird durch die Tatsache erhellt, dass zwar Körperpflegemittel einschließlich „Naturkosmetik“-Produkten vertrieben wurden, dass es in der Branche aber großen Widerstand gab „gegen Kosmetik, die über Hautpflege hinausging und allein der Schönheit diente“ – wie etwa Lippenstifte (S. 121). Das Ende der Lebensreform sei nicht nur mit dem Lebensende der „Pionier“-Generation gekommen, sondern auch mit dem Ende der gesellschaftlich orientierten lebensreformerischen Gesundheits-Utopie und ihrer Ablösung durch die Vorstellung persönlicher Fitness und Wellness: „Das Ziel eines gesünderen Lebens hatte sich individualisiert, vom Weltanschaulichen gelöst.“ (S. 335)

Umfangreiche Teile des Buches befassen sich mit dem Wandel der inhaltlichen Vorstellung und praktischen Umsetzung des Konzepts des „gesünderen Lebens“. Fritzen sieht drei Zeitabschnitte: Eine Phase des „anderen Lebens“ von 1890 bis 1918 war bestimmt durch Vegetarismus und Naturheilbewegung. Eine zweite Phase des „vitalen Lebens“ von 1918 bis 1945 wurde ausgelöst durch den „Katalysator“ Erster Weltkrieg und war geprägt durch Lebensphilosophie, „lebendige Nahrung“ (Vitamine!), Volksgesundheit und Rassenhygiene. Eine dritte Phase von ca. 1950 bis zum Ende der Lebensreform ca. 1980 rückte die äußere Natur ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wünschte sich ein „ökologischeres Leben“.

Trotz dieser zeittypischen Prägungen habe es auch im ganzen 20. Jahrhundert „Kontinuitäten gesünderen Lebens“ gegeben, bestimmt etwa durch „Ganzheitlichkeit“ (einschließlich fernöstlicher Ganzheitskonzepte), „Natürlichkeit“ statt „Zivilisation“ und deren „Zivilisationskrankheiten“. Das Ende solcher Überzeugungen kam nach Fritzen in dem Augenblick, als sich anstelle der „unverfälschten Natürlichkeit“ die Grenzen zwischen „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ immer mehr verwischten: „Die Reformwarenwirtschaft sah sich der Tatsache gegenüber, dass Natur aufgrund des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und neuer technische Möglichkeiten nicht mehr unbedingt natürlich war.“ (S. 327) Anstelle der „neuen Natürlichkeit“, welche die Lebensreformer um 1900 erfunden hatten, sei eine „neue Künstlichkeit“ entstanden, die sich aber als Natürlichkeit tarne. Dies gelte auch für den neuen Körperkult (S. 328). Die Lebensreform habe dem nicht genug entgegensetzen können.

Zum „Lichtgebet“ des Malers Fidus, der zentralen Bildikone der Lebensreform, schreibt Fritzen: „[...] der Jüngling, der sich nach Himmel, Sonne und Luft reckt, gibt nur eine Richtung, eine Orientierung an. Bilder wie das ‚Lichtgebet’ und utopische Texte über eine ideale Gesellschaft waren buntes Beiwerk der zentralen Idee des gesünderen Lebens. Denn die Lebensreformer auch schon der Jahrhundertwende (um 1900) waren nicht realitätsfremd oder radikal.“ (S. 319) Indem Fritzen das Warengeschäft in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt, kann sie – ähnlich wie Andreas Schwab in seiner Dissertation über das gesundheitliche Dienstleistungsgeschäft auf dem „Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht“ (Zürich 2003) – die utopischen Inhalte der Lebensreform zur Quantité négligeable minimieren. Ganz unter den Tisch fällt die offenkundige Tatsache, dass der lebensreformerische Körper- und Gesundheitskult religiöse Züge zeigte – auch wenn er nicht das ewige, sondern nur das verlängerte bzw. „gesündere“ Leben versprach. Die Vorstellung vom „Körper als Tempel Gottes“ wies deutliche Elemente einer hygienisch-diätetischen Selbsterlösungs-Religion auf. Die lebensreformerische Erkenntnis, dass es „ein Leben vor dem Tode“ gibt, ist jedenfalls heute wirkmächtiger denn je.

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