N. Spannenberger: Die katholische Kirche in Ungarn 1918-1939

Titel
Die katholische Kirche in Ungarn 1918-1939. Positionierung im politischen System und "Katholische Renaissance"


Autor(en)
Spannenberger, Norbert
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Freie Universität Berlin, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Unter welchen Umständen und warum machen sich Vertreter der katholischen Weltkirche nationalistische Ideen, Parolen und Deutungsmuster zu eigen? Norbert Spannenberger behandelt diese Frage am Beispiel der ungarischen katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit. Er tut dies in einer mit 168 Seiten zwar knappen, aber äußerst präzisen, zupackenden, gut geschriebenen und fast alle Aspekte des Themas behandelnden Darstellung der Politik der Kirche in der Horthy-Ära. Auch wenn man sich bei dieser sehr quellennahen Darstellung an manchen Punkten vielleicht etwas mehr fachwissenschaftliche Distanz gewünscht hätte, so überzeugt die sehr solide politikhistorische Abhandlung doch, weil sie von neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansätze durchdrungen ist. Spannenberger greift auf archivalisches Material aus einer eindrucksvoll langen Liste von Archiven in Ungarn, Österreich, Deutschland, den USA und Italien zurück. Zudem lässt er immer wieder zeitgenössische Beobachter des Auslands, etwa deutsche oder österreichische Diplomaten die Politik der katholischen Bischöfe Ungarns kommentieren. Eine sehr ungewöhnliche, aber faszinierende Quelle stellen die Gedichte eines engagierten katholischen Priesters dar, der die damalige Entwicklung sehr kritisch betrachtete. In der Zusammenfassung des Buches vergleicht Norbert Spannenberger die Umstände und den Weg, den die ungarische Kirchenspitze in der Zwischenkriegszeit ging, mit den Entwicklungen im deutschen, österreichischen oder tschechischen Katholizismus, und kann auf diese Weise seine Thesen zum ungarischen Fall noch einmal schärfer herausarbeiten.

Wie und warum die führenden Vertreter der katholischen Kirche Ungarns – von einigen wenigen, an den Rand gedrängten Außenseitern wie dem Prälaten Alexander (Sándor) Giesswein einmal abgesehen – so stark ins Fahrwasser des ungarischen Nationalismus und Revisionismus der 1920er- und 1930er-Jahre gerieten, wird in drei Teilen dargestellt und erklärt. Die ersten fünf Kapitel behandeln in chronologischer Reihenfolge die beiden Jahrzehnte zwischen Ende des Ersten und Anfang des Zweiten Weltkriegs und stellen dar, warum die katholische Kirche zur wichtigsten Trägerin des „christlich-nationalen“ Kurses wurde und warum dieser Kurs letztlich scheiterte, da er trotz der Zurückdrängung des Liberalismus nicht zur erhofften Re-Christianisierung der ungarischen Gesellschaft führte. Aufgrund der extrem konservativen Haltung der katholischen Bischöfe, die mit Ausnahme des charismatischen, populären, aber aufgrund seines „modernistischen“ Makels (ein Teil seiner Schriften waren um die Jahrhundertwende auf den Index gesetzt worden) aber doch gescheiterten Bischofs Prohászka die notwendigsten sozialen Reformen zumeist behinderten, gelang es nicht, den Schwung der katholischen „Renaissance“ seit der Jahrhundertwende, die sich anhand zahlloser Laienbewegungen und -vereinigungen sowie an einer deutlichen Zunahme der Frömmigkeit zeigte, zu einer katholischen Gestaltung der nachrevolutionären und nachliberalen Ära zu nutzen. So erwies sich die Kirchenhierarchie zunehmend als Bastion des Großgrundbesitzes und einer autoritären Politik, was die Initiativen der Laienverbände drosselte und nur zu einer oberflächlichen katholischen Einfärbung der ungarischen Gesellschaft führte. Einerseits wurde die katholische neben der intellektuell und politisch lange Zeit tonangebenden kalvinistischen Kirche nun demonstrativ zur Stütze von Staat und politischen Eliten erklärt und erhielt Einfluss auf die Kultur- und besonders auf die sehr erfolgreiche Bildungspolitik. Andererseits führten die zahlreichen Kompromisse, die der Preis für diese offizielle Anerkennung waren, in eine politische Sackgasse, aus der es Ende der 1930er-Jahre, als die Kirchenführung die Fehlentwicklungen allmählich erkannte, keinen Ausweg mehr gab. Die Propagierung eines extrem nationalistischen, „christlich“ codierten Revisionismus, gepaart mit sozialpolitischer Abstinenz, stärkte in der Krisenzeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor allem die aus Deutschland massiv unterstützten Rechtsradikalen. Diesen gelangen mit sozial- und rassepolitischen Parolen Einbrüche in das zuvor von agrar-, sozial- und christdemokratischen Bewegungen besetzte politische Feld.

Im zweiten Teil (Kapitel 6) wird analysiert, wie die Amtskirche vor diesem Hintergrund zur Sakralisierung des Nationalen und zur Nationalisierung der Religion beitrug. Hier kann die Arbeit auch an die in den letzten Jahren am GWZO Leipzig in Zusammenarbeit mit Martin Schulze Wessel (München) zusammengetragenen Projekte zur Kirchengeschichte Ostmitteleuropas anknüpfen, an denen auch der Autor beteiligt war. Die Unterstützung des „christlichen“ Nationalismus durch die Mehrheit der katholischen Bischöfe Ungarns erklärt sich sowohl aus den Verlusten durch den Friedensvertrag von Trianon (1920) als auch den schlechten Erfahrungen mit dem Regime der Räterepublik und dem in fast allen Ländern wie auch im Vatikan verbreiteten Antibolschewismus und Antiliberalismus. Eine Stabilisierung der ungarischen Gesellschaft, ihre „Wiederauferstehung“ nach dem Zusammenbruch von 1918/19 konnten sich die meisten Bischöfe nur im national-konservativen Regime unter dem Kalvinisten Horthy vorstellen. Seit dem Aufstieg der faschistischen und der nationalsozialistischen Bewegungen in Europa klammerte sich die Kirchenspitze umso mehr an dieses autoritäre System. In dieser Zeit musste der Katholizismus seine „nationale“ Zuverlässigkeit nicht mehr nur gegen den ungarischen Kalvinismus, sondern zunehmend auch gegen die „Rasseschützer“ unter Beweis stellen, was zu einer weiteren Steigerung der pathetischen „christlich-nationalen“ Propaganda führte.

Im dritten und letzten Teil seiner Arbeit (S. 137-158) kann Spannenberger am Beispiel des Verhältnisses zwischen Episkopat und deutscher Minderheit noch einmal zeigen, wie sehr sich die katholische Führung in den nationalen Kurs verrannt hatte, weshalb sich selbst eine mehrheitlich katholische und traditionell sehr kirchentreue Bevölkerung – die so genannten „Donauschwaben“ – zunehmend von ihr entfremdete. Hier wird deutlich, wie sehr sich die Oberhirten mehr an der vermeintlichen Stimmung einer fanatisierten magyarischen Mehrheitsgesellschaft orientierten, als an ihren eigenen Lehren, wenn sie etwa trotz Ermahnungen aus dem Vatikan und dem Bildungsministerium verhinderte, dass in deutschen Dörfern auch deutschsprachiger Unterricht in katholischen Grundschulen möglich wurde.

Es ist ein wenig zu bedauern, dass der Autor die sehr aussagekräftigen 16 Abbildungen im Anhang nicht analysiert und in die Darstellung mit einbezogen hat. Sie illustrieren seine Darstellung auf eindrucksvolle Weise. Eine genauere Analyse dieser Bilder hätte aufgrund ihres sehr hohen Quellengehalts zu einer Vertiefung der Darstellung beitragen können. Schade ist auch, dass Norbert Spannenberger die fast zeitgleich erschienene, überarbeitete Dissertation von Paul Hanebrink zum „christlichen Nationalismus“ und besonders dessen antisemitische Elemente nicht hatte einbeziehen können. 1 Nun lassen sich diese beiden Arbeiten als zwei, sich teilweise ideal ergänzende, teilweise auch sehr unterschiedlich akzentuierte Standardwerke zur ungarischen Kirchengeschichte der Horthy-Ära lesen.

Anmerkung:
1 Hanebrink, Paul A., In Defence of Christian Hungary. Religion, Nationalism, and Antisemitism, 1890-1944, Ithaca 2006; vgl. auch meine Besprechung im Journal of Modern History (Spring 2008).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension