E. Neubert; B. Eisenfeld (Hgg.): Macht - Ohnmacht - Gegenmacht

Cover
Titel
Macht - Ohnmacht - Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR


Herausgeber
Neubert, Erhart; Eisenfeld, Bernd
Reihe
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der Bundesbeauftragten 21
Erschienen
Bremen 2001: Edition Temmen
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Gehrke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Sammelband enthält die überarbeiteten Beiträge einer Tagung, die von der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BSTU) im Jahre 1999 durchgeführt wurde. Wie häufig bei Tagungsbänden, gehen auch hier manche Einzelbeiträge über anderweitig Publiziertes kaum hinaus. Dennoch lohnt der Band. Er enthält einige interessante Neuigkeiten, und vor allem wird eine Selbstreflektion der DDR-Oppositionsforschung sowie ein seit mehreren Jahren geführter Streit über historische Bedeutung und demokratischen Stellenwert der DDR-Opposition in konzentrierter Gestalt vorgestellt.

Eine Vielfalt unterschiedlicher Herangehensweisen kennzeichnet den noch jungen Zweig der DDR-Oppositionsforschung, „in der erst langsam Konturen einer systematischen Klärung sichtbar wurden.“ Zur Fortführung dieses Klärungsprozesses wurde die erwähnte Tagung durchgeführt. „Das Anliegen der Veröffentlichung ist es,“ so die Herausgeber, „die derzeit diskutierten theoretischen Aspekte der Forschungen zu Opposition/Widerstand in der SBZ/DDR vorzustellen und diese Debatte weiterzuführen“(10).

20 Aufsätze sind in vier Themenkomplexe eingeordnet. Der erste Komplex zur Typologisierung und Methodendiskussion beginnt mit den Beiträgen von Rainer Eckert (Widerstand und Opposition: Umstrittene Begriffe der deutschen Diktaturgeschichte), Uwe Thaysen (Die ausgelieferte Opposition), Ilko-Sascha Kowalczuk (Verschiedene Welten. Zum Verhältnis von Opposition und „SED-Reformern“ in den achtziger Jahren) und Martin Jander (Opposition in einer totalitären(Um-)Erziehungsdiktatur). Eckert und Kowalczuk setzen sich mit den in den letzten Jahren diskutierten politikwissenschaftlich und soziologisch geprägten Begriffen zur Typologisierung und Klassifikation von Opposition/Widerstand auseinander. Eckert differenziert dabei die vorgeschlagenen Ansätze von Opposition nach „Unreflektierten“, „Unsystematischen“ und „Kategorienbildnern.“ An Hand des Begriffes der „politischen Dissidenz“ setzt er sich mit der These Janders und anderer auseinander, die DDR-Opposition wäre wegen ihrer SED-Nähe unfähig zu wirklicher Opposition gewesen.

Kowalczuk zielt vor allem auf den Nachweis der Gegensätze von Opposition und „SED-Reformern“ in den achtziger Jahren. Thaysen betont die weite Verbreitung der Ideale des „demokratischen Sozialismus“ in der Opposition, differenziert letztere aber an Hand eines wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Schemas. Er unterstreicht ihren demokratischen Charakter und den „antitotalitären“ Konsens. Jander, der verschiedentlich den Vorwurf erhoben hatte, die Opposition wäre selbst vom „totalitären Geist“ geprägt und wegen ihrer sozialistischen Utopien „SED-nah“ gewesen, wiederholt die Notwendigkeit, die politischen Ideen der Opposition genau anzuschauen und die Vorwürfe aus Ost- und Westeuropa ernst zu nehmen, DDR-Opposition und westliche Friedensbewegung hätten „neutralistisch“ auf einen „deutschen Sonderweg“ gesetzt. Für alle vier Beiträge ist die Auseinandersetzung um den Stellenwert und die Demokratiefähigkeit der Opposition von zentraler Bedeutung.

Die folgenden Beiträge von Reinhard Buthmann (Widerständiges Verhalten und Feldtheorie) und Ingrid Miethe (DDR-Opposition als Neue Soziale Bewegung?) wählen einen sozial-psychologischen Zugang, der die individuelle(n) Motivbildung(en) von Opposition/Widerstand in den Mittelpunkt stellt. Buthmann plädiert für die sozialpsychologische Feldtheorie Kurt Lewins; durch Bestimmung psychologischer Lebensräume will er widerständiges Handeln rekonstruieren. Er wirbt für die Feldtheorie als Schlüsselmethode zur Erarbeitung der Datenbank über politischen Gegnerschaft in der BSTU. Miethe stellt ihre Rekonstruktion individueller Motive oppositionellen/widerständigen Handelns in den Kontext einer Kritik der Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen. An Hand der von ihr untersuchten Motive von DDR-oppositionellen Frauen kritisiert sie die motivationalen Vorannahmen und das Verbleiben der Theorie der Neuen Sozialen Bewegungen auf der Makroebene.

Den zweiten Themenkomplex „Opposition/Widerstand und die Teilung der Nation“ eröffnet Hubertus Knabe (Opposition in einem halben Land) mit einem Überblick über die tatsächlichen Beziehungen von DDR-Opposition und Bundesrepublik in den verschiedenen historischen Phasen. Er votiert für die unbefangene Untersuchung jenseits der noch immer bestehenden Kalten-Kriegs-Vorbelastungen des Themas.

Roger Engelmann zeigt in seinem Beitrag (Ost-West-Bezüge von Widerstand und Opposition in der DDR der fünfziger Jahre), dass zu Beginn dieses Jahrzehnts der politische Widerstand gegen das SED-Regime einherging mit dem gegen die Staatlichkeit der DDR. Die antikommunistischen Organisationen im Westen wurden als Teil einer gesamtdeutschen Politik und deshalb als Teil des Widerstands in der DDR betrachtet. Erst nach dem 17. Juni schwächte sich diese Konstellation mit dem wachsenden Eigengewicht der DDR kontinuierlich ab. Mit der Einbindung der beiden Staaten in das internationale Blocksystem ab 1955 und dem Verschwinden der Wiedervereinigung als Nahperspektive bildete sich stärker eine Opposition mit „systemimmanentem Selbstverständnis“, die vom Regime als nicht weniger gefährlich begriffen wurde. Ludwig Mehlhorn (Die DDR-Opposition und die nationale Frage in den achtziger Jahren) widerlegt in seinem Beitrag Behauptungen, die DDR-Opposition hätte sich nicht mit der nationalen Frage beschäftigt und keine gemeinsamen Diskussionen mit der osteuropäischen Opposition geführt.

In den folgenden Beiträgen kommen drei westdeutsche Journalisten zu Wort, die durch ihre frühere Tätigkeit eine besondere Bindung zu diesem Thema haben. Karl Wilhelm Fricke (Der Deutschlandfunk als Medium politischer Gegnerschaft) und Gunter Holzweißig (Informations- oder Interventionssender) stellen jeweils aus der Sicht von für die DDR-Opposition engagierten Journalisten des Deutschlandfunks dessen Tätigkeit und Bedeutung für das kritische Denken und Handeln in der DDR dar. Gerhard Rein (Diamonds are girls best friends oder Korrespondenten lieben Dissidenten) setzt sich als in der DDR akkreditierter Korrespondent mit dem Vorwurf auseinander, die Westkorrespondenten hätten aus der DDR Hofberichterstattung betrieben. Dabei weist er Generalisierungen zurück und schildert die Schwierigkeiten der Gewinnung von objektiven Informationen, aber auch die Kompliziertheit des Zugangs zu oppositionellen Gruppen.

In dem unglücklich getitelten Komplex „Sonder- und Grenzbereiche des Themenfeldes“ finden sich einige interessante Forschungsergebnisse. Patrik von zur Mühlen untersucht in seinem Beitrag (Die Opposition aus der Herrschaftsperspektive) historische Veränderungen der Einschätzung der Opposition durch das Regime sowie einzelner Institutionen. Während sich das Politbüro zu keinem Zeitpunkt mit dem Thema beschäftigte, die Opposition als polizeiliches Phänomen dem MfS überließ, setzte das Staatssekretariat für Kirchenfragen durchaus differenzierte Akzente. Bernd Eisenfeld stellt in seinem Beitrag (Formen widerständigen Verhaltens in der Nationalen Volksarmee und bei den Grenztruppen) detailliert die Sicherung von NVA und Grenztruppen durch das MfS vor und gibt auf der Grundlage der Deliktkartei der zuständigen MfS-Linie I für die Jahre 1956-1980 einen Überblick über die Deliktgruppen. In seiner Darstellung wird besonders das Ausmass rechtsradikaler Aktivitäten deutlich.

Widerständigem Verhalten auf einem ebenfalls bisher noch nicht erschlossenen Terrain widmet sich auch der Beitrag von Tobias Wunschik (Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug). Er diskutiert den Widerstandsbegriff, arbeitet besonders die Rolle der Handlungsmotive heraus und gibt einen Überblick über Formen von politischem Widerstand in den Haftanstalten. Auch er zeigt den erheblichen Umfang von rechtsradikal motiviertem Widerstand.

Mathias Braun („Dieser blutige November schlug viele Knospen ab“) beschäftigt sich mit dem Berliner „Donnerstagskreis“ im Herbst 1956. Dieser Diskussionskreis von Intellektuellen war im Gegensatz zu anderen in jener Zeit nicht an eine Institution gebunden und agierte im öffentlichen Raum, unter Kenntnis und zum Teil in Kooperation mit dem ZK. Man diskutierte Vorstellungen wie die Abschaffung der Zensur u. a. Braun nimmt den „Donnerstagskreis“ als Indiz des Paradigmenwechsels in der Opposition der 50er Jahre von der „bürgerlichen Demokratie“ zum „demokratischen Sozialismus.“

Den vierten Themenkomplex zum gesellschaftlichen Kontext oppositionellen Handelns eröffnet Stefan Wolle mit einem Beitrag über Alltagsverhalten und Systemkonformität („Es geht seinen sozialistischen Gang“). In Anknüpfung an gegensätzliche Erinnerungen betonte er den ganz und gar nicht idyllischen Zusammenhang von totalitärer Diktatur und Kleinbürgerglück. Die Privatisierung des Politischen und die Politisierung des Privaten führten zu Agonie und Untergang. Selbst die alternative Kulturszene, im Kern unpolitisch, erwartete nichts mehr und befand sich auf der mentalen Ausreise.

Der Beitrag von Martin Sabrow (Der Wille zur Ohnmacht und die Macht des Unwillens) stellt den Zerfall der fiktiven Wirklichkeitsordnung der kommunistischen Diktatur
in den Mittelpunkt seines Beitrages. Nicht materielle Krise oder fehlende Unterstützung der Sowjetunion hätten den „revolutionären Zusammenbruch“ des Regimes bewirkt. Entscheidend wäre vielmehr „eine substanzielle Verschiebung des Bewusstseinshorizontes“ von Staat und Gesellschaft gewesen, die einen Zerfall der Binnenlegitimität zur Folge hatte. Er kennzeichnet die Etappen dieses Verfalls bis hin zu systemnahen Eliten und Politbüro.
Detlef Pollack (Kulturelle, soziale und politische Bedingungen der Möglichkeit widerständigen Verhaltens in der DDR) begründet im Rückgriff auf verschiedene Ansätze der Bewegungsforschung auf drei Ebenen die Bedingungen für die Entstehung einer Opposition: Auf der Makroebene sieht er einen direkten Zusammenhang zwischen einer niedrigen „Exit“-Schwelle und einer zunehmenden Liberalisierung des Regimes. Auf der Mesoebene seien die evangelischen Kirchen entscheidende Voraussetzung gewesen und auf der Mikroebene bestimmte Mechanismen individueller Motivationsbildung auf der Grundlage spezifischer DDR-Erfahrungen.

Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Erhart Neubert (Vorgeschichte und Geschichte der Revolution als zivilisatorischer Konflikt). Er stellt mit einem kulturgeschichtlichen Ansatz das oppositionelle Handeln in den Kontext eines „zivilisatorischen Konflikt(es) zwischen Kommunismus und Demokratie“ mit epochengeschichtlicher Dimension. In der demokratischen Revolution habe sich die demokratische Kultur der Opposition offenbart. So sei die Opposition der DDR zur Mitbegründerin der „Berliner Republik“ geworden. Die geistige Vorgeschichte der Revolution könne aus der Revolutionsgeschichte nicht ausgeblendet werden. Da der Marxismus über keine Ethik verfüge und unfähig sei zur Antizipation einer demokratischen Republik, wie an Robert Havemann gesehen werden könne, wurde der politische Protestantismus zum ethischen Träger von Menschenrechten und Demokratie.

Die Reflektion des Standes der Oppositionsforschung wurde leider nur in den Beiträgen von Eckert und Kowalczuk zum Thema gemacht, bei beiden allerdings ausschließlich bezüglich der politikwissenschaftlichen Begriffsbildungen. Nur Pollack hat einen mehrdimensionalen Ansatz vorgeschlagen. Doch Überblicke über den kultur- und sozialgeschichtlichen Forschungsstand oder den der Bewegungsforschung fehlen. Insofern kann das Anliegen der Herausgeber, „die“ derzeit diskutierten theoretischen Aspekte vorzustellen, als nur eingeschränkt verwirklicht angesehen werden. Darüber hinaus fällt auch in diesem Band das Desinteresse für widerständiges Verhalten in den Betrieben auf. Das wird dann besonders problematisch, wenn unqualifizierte Behauptungen wie die von Wolle über „paradiesische Sitten und Gebräuche“ in den DDR-Betrieben, die wie vom SED-Management diktiert klingen, unwidersprochen bleiben.

Die in diesem Band dokumentierte und ihn prägende Debatte um historische Rolle und Demokratiefähigkeit der DDR-Opposition stellt auch die Beiträge außerhalb dieser Diskussion in eine Art Themenrahmen. Es wird deutlich, dass diese Debatte vor allem ein bis in die Gegenwartspolitik reichender Streit unter den Anhängern von antitotalitär und dezidiert antisozialistisch ausgerichteten Konzeptionen ist. Wenn Eckert die Einführung von Analysebegriffen westlicher Geheimdienste wie „Extremismus“ in die Untersuchung der DDR-Opposition als „interessanten Forschungsansatz“ begrüßt, Jander das NATO-Bekenntnis zum Kriterium der Demokratiefähigkeit von DDR-Opposition erhebt, Eisenfeld rechtsradikale Delikte teilweise zum antikommunistischen Widerstand für die Demokratie aufwertet oder Wolle die oppositionelle Kulturszene der DDR als unpolitische Leistungsverweigerin kennzeichnet, um Angehörige der politischen Opposition wegen antikapitalistischer Äußerungen nach 1989 zu kritisieren, werden politische Kontexte und entsprechende Aufladungen in diesem Band fassbar. Die Widersprüche einer antitotalitär-antisozialistischen Geschichtspolitik mit einer – auch in diesem Band von Thaysen oder Pollack – empirisch belegten Ausrichtung der Mehrzahl von DDR-Oppositionellen am Ideal eines „demokratischen Sozialismus“ finden sich in der kontrastierenden Geschichtsdarstellung beider Seiten entweder als tendenzielle Selektion der „demokratischen“ oder der „sozialistischen“ Attribute der Opposition wieder.

Die Überformung dieser Diskussion durch außerwissenschaftliche Selektionsmuster wirkt sich leider nachteilig auf die Oppositionsforschung insgesamt aus, denn eben diese Denkschule prägt stark die politikwissenschaftliche Begriffsbildung. Allein die fehlende Genauigkeit der Definition von Begriffen wie „System“ oder „Regime“ bei der inzwischen verbreiteten Verwendung von Bezeichnungen wie „Fundamental- bzw. Systemopposition“ für die antikommunistische Opposition in der Frühzeit der DDR oder „Reformopposition“ für die sozialistische ist durch die Vermischung von ideologisch-politischen und handlungsstrategischen Kriterien höchst problematisch.

Aber auch die belegten Zusammenhänge von sich verändernden politischen Verhältnissen zwischen Regime und Opposition waren bisher kein Anlass zur Suche nach einem politikwissenschaftlichen Begriff für jene Phase des Regimes, in der eine von Neubert konstatierte „legalistische“ Opposition möglich wurde. Das Beschweigen der Kluft zwischen einer ikonisierten Hannah Arendt einerseits und deren theoretischer Hinterlassenschaft zum Begreifen „posttotalitärer kommunistischer Parteidiktaturen“ nach 1953 andererseits lässt sich nur durch den Vorrang geschichtspolitischer Sinnstiftung erklären. Gerade Arendt hatte gezeigt, dass eine „antitotalitäre“ politische Soziologie sehr wohl zu einem wissenschaftlich induzierten Diktaturenvergleich und einer differenzierten Begriffsbildung verschiedener Typen von „modernen Diktaturen“ in der Lage ist. So ist zu hoffen, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter anderer Forschungsansätze künftig stärker auch in die politikwissenschaftliche Debatte einmischen, um mit dem Rüstzeug der Methodenvielfalt sowohl der nüchtern-bilanzierenden Analyse Vorrang zu verschaffen, als auch um der notwendigen Weiterentwicklung politikwissenschaftlicher Begriffe einen neuen Schub zu verleihen.

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