E. Brugger u.a.: Geschichte der Juden in Österreich

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Titel
Geschichte der Juden in Österreich.


Autor(en)
Brugger, Eveline; Keil, Martha; Lichtblau, Albert
Reihe
Österreichische Geschichte - Ergänzungsband
Erschienen
Wien 2006: Ueberreuter
Anzahl Seiten
728 S.
Preis
€ 51,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ellinor Forster, Universität Innsbruck

Die "Geschichte der Juden in Österreich“ schließt als 15. Band die seit 1996 von Herwig Wolfram herausgegebene Handbuchreihe zur „Österreichischen Geschichte“ ab. Anfangs auf zehn chronologische Bände vom Jahr 378 bis 1990 konzipiert, wurde die Reihe um fünf thematische Werke erweitert, die sich mit Wirtschaft, der Urzeit und Römischen Geschichte, dem Christentum und nun mit der jüdischen Geschichte auseinandersetzen.

Der Untersuchungszeitraum reicht von den ersten Spuren von Juden und Jüdinnen im heutigen Österreich bis zum Jahr 2005. Die Periodisierung orientierte sich dabei eher an zentralen Ereignissen der jüdischen Geschichte als an den üblichen historischen Epochen. Solche Einschnitte in der österreichischen jüdischen Geschichte bildeten beispielsweise die Wiener Gesera – die Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden in Wien und Niederösterreich 1420/21 –, Auflösung der Wiener Judenstadt 1669/1671, die beginnende Haskala – jüdische Aufklärung – und die Toleranzgesetzgebung am Ende des 18. Jahrhunderts, die Integration der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert und die Shoah des 20. Jahrhunderts. Dabei sei jüdische Geschichte nicht nur die Reihe der Verfolgungen, sondern auch „der großartige jüdische Beitrag zur Entwicklung“ (S. 14) des Landes, hebt Herwig Wolfram im Vorwort hervor.

Martha Keil gibt im vorangestellten Teil einen umfassenden Überblick über die Grundlagen jüdischen Lebens. Zwischen dem ersten Kreuzzug von 1096 und der Wiener Gesera geht sie detailliert auf die Aspekte der jüdischen Gemeinde ein, zeigt die soziale Schichtung und entstehende Konflikte, die rechtlichen Grundlagen und das durch die Minhagim – Bräuche – bestimmte religiöse Leben. Abschließend thematisiert sie die „Verarbeitung des Traumas“ (S. 119) nach der Wiener Gesera. Nicht nur die Fakten der Ermordung und Vertreibung werden erwähnt, sondern die Verarbeitung dieser Ereignisse und die Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis und die jüdische Geschichtsschreibung. Sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene habe dieses – wortwörtlich übersetzt – „Verhängnis“ auf Mentalität, Emotion, Abwehr- und Bewältigungsstrategien gewirkt.

Eveline Brugger bietet den LeserInnen als Pendant stärker die Blickperspektive „von außen“ an. Sie schildert die jüdische Geschichte in Österreich von den ersten nachgewiesenen Juden im 8. und 9. Jahrhundert an, zeichnet die Entwicklung der jüdischen Gemeinden nach und setzt sich beispielsweise mit der Frage der jüdischen Ortsnamen, wie etwa Judenburg oder Judendorf, auseinander. Ausführlich werden die rechtlichen Grundlagen thematisiert, mit denen nichtjüdische Herrscher versuchten, die Stellung der Jüdinnen und Juden und den Umgang mit ihnen zu regeln.

Das zentrale Thema in Barbara Staudingers Beitrag stellt die Situation der Landjuden nach den Vertreibungen des 15. Jahrhunderts und die Entwicklung der Wiener Judenstadt bis zu ihrer Auflösung im Zuge der Vertreibungen um 1670 dar. Städte waren Jüdinnen und Juden weitgehend versperrt. So kam es vor allem zu Ansiedlungen auf dem Land. Auch wenn sich direkt an den Fürsten- oder Kaiserhof gebundene Juden schon früher greifen lassen, trat das Phänomen der Hofjuden besonders im 17. und 18. Jahrhundert stark auf und führte zu einer weiteren sozialen Abstufung innerhalb der jüdischen Gemeinde. Christoph Lind knüpft hier direkt an Barbara Staudinger an und skizziert die Entwicklung bis zur Haskala und Toleranzgesetzgebung am Ende des 18. Jahrhunderts mit ihren Auswirkungen ins 19. Jahrhundert. Nach wie vor war Juden eine Beamtenkarriere unmöglich und der Anwaltsberuf beispielsweise nur erschwert zugänglich.

Der letzte Teil umspannt die Integration der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert und den zunehmenden Antisemitismus, die Vertreibung und Ghettoisierung bis hin zur Shoah und den Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert. Der Schwierigkeit, „sich der Realität der Shoah zu stellen und diese dennoch so zu fassen, dass sie die Geschichte davor und danach nicht völlig überschattet“ (S. 447), begegnet Albert Lichtblau mit der Konzentration auf einige Schlüsselfelder, die er über den gesamten Zeitraum beobachtet, wie die verschiedenen religiösen, politischen und kulturellen Orientierungen von Juden und Jüdinnen, die sozialen Veränderungen und das Zusammenleben von jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung.

Sorgfältig werden in allen Beiträgen die jeweils herrschenden Stereotype untersucht und in Relation zur sozialen Situation, den rechtlichen Vorschriften und ökonomischen Gegebenheiten gesetzt. Vor allem sind hier die Vorwürfe des Ritualmords und der Hostienschändung zu nennen. Auch die Tätigkeit von Juden und Jüdinnen im Geld- und Kreditgeschäft zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Der Unterschied zwischen Juden und Christen war in diesem Bereich lange Zeit gering; erst ab dem späten 14. Jahrhundert wurden jüdische GeldhändlerInnen durch die christliche Konkurrenz immer mehr eingeschränkt und die Unterschiede in den Geldgeschäften traten deutlicher hervor. Spezielle Zinsenklauseln gab es meist nur bei Juden, während Christen mit verdeckten Zinsgeschäften arbeiteten.

Die Verflechtung jüdischer Geschichte – angefangen von Ansiedlungsmöglichkeiten über rechtliche Freiräume und Einschränkungen bis zu Vertreibung und Ermordung – mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten ist aus keiner Zeitepoche wegzudenken und wird daher in allen Teilen des Buches angesprochen. Dabei konnten sich unterschiedliche Konstellationen ergeben: Häufig waren es die Landesfürsten, die sich von ihren jüdischen Untertanen Profit erhofften und sie mit wechselnder Stärke gegen Forderungen der Stadtbürger nach Vertreibung verteidigten. In anderen Fällen kam der Widerstand gegen landesfürstliche Vertreibungsdekrete von Seiten der Grundherren oder Bürger – wie beispielsweise in Mähren und Ungarn, wo die jüdische Bevölkerung auf verschiedenen Grundherrschaften siedeln konnte, oder von Kaufleuten Antwerpens und Brüssels in den österreichischen Niederlanden, die auf die im Diamanten- und Spitzenhandel unabkömmlichen jüdischen Handelsleute angewiesen waren.

Die AutorInnen legen das Augenmerk jeweils auch auf die Kontakte zwischen der jüdischen und der christlichen Welt und die sich daraus ergebenden Konflikte. Dabei geraten alle Fragen der möglichen Öffentlichkeit von jüdischen Feiern, Bekleidung von Hof- oder öffentlichen Ämtern, Grundbesitz, Mischehen und persönliche Sicherheit ins Blickfeld.

Auch wenn die Konzeption der Reihe „Österreichische Geschichte“ vor allem auf die Geschichte der heutigen neun Bundesländer abhebt, so lässt sich besonders die jüdische Geschichte nicht darauf einschränken, sondern ist stets im Zusammenhang mit den Bedingungen jüdischer Bevölkerung in anderen Teilen des Reiches bzw. den im Lauf der Zeit zur Habsburgermonarchie gehörenden Ländern zu betrachten. Dementsprechend wird in diesem Buch jüdische Geschichte zunächst in ihrem Bezug zum aschkenasischen Kulturkreis dargestellt und das sefardische Judentum beispielsweise zu dem Zeitpunkt behandelt, an dem die Toskana, wo seit dem 16. Jahrhundert eine sefardische Gemeinde bestand, im 18. Jahrhundert zu Habsburg kam. Die Karäer finden bei der Besprechung Galiziens Erwähnung, während die Sabbatianer wie auch Frankisten im Zusammenhang mit ihren Zentren in Böhmen und Mähren thematisiert werden. Die jüdische Geschichte der einzelnen Regionen und Länder Österreichs nimmt in den fünf Teilen insgesamt einen breiten Raum ein und vermeidet so eine Einengung auf die Entwicklung im – quellenreichsten – Wiener Raum.

Vorbildlich ist die selbstverständliche Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht. Das zeigt sich nicht nur im geschlechtersensiblen Sprachgebrauch, indem immer wieder von Juden und Jüdinnen oder Jüdinnen und Juden die Rede ist, sondern vor allem auch daran, dass nicht einzelne Kapitel über die Situation der Frauen an die Hauptkapitel angefügt werden, sondern der Blickwinkel in den meisten Themenbereichen die Ausgestaltung sowohl für Männer als auch Frauen mit einbezieht – seien es Fragen der Wirtschaft, des sozialen Lebens, der Bildung, des Rechts oder der Religion. Somit kann der Befund Kirsten Heinsohns und Stefanie Schüler-Springorums, dass die jüdische der allgemeinen Geschlechtergeschichte noch etwas hinterherhinken würde, für dieses Werk nicht gelten. 1 Das „Tüpfelchen auf dem i“ wäre schließlich noch die konsequente Weiterführung des Sprachgebrauchs im Titel gewesen, indem das Buch dann zu Recht die Bezeichnung des Inhalts – die Geschichte der Juden und Jüdinnen in Österreich – getragen hätte.

Anmerkung:
1 Heinsohn, Kirsten; Schüler-Springorum, Stefanie, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 7-22, hier S. 8.

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