Titel
Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik


Autor(en)
Bergmann, Christian
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
133 S.
Preis
€ 10,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael M. Metzger, Department of Modern Languages and Literatures, German State University

"Der Weg zu Einsichten in das Wesen der Staatssicherheit führt nur über die Auseinandersetzung mit ihren Dokumenten, [...] und der Leser muß nicht die dem Philologen eigene Sensibilität dem Wort gegenüber aufbringen, um dabei Grauen und Entsetzen zu empfinden." (107) Dieser Satz drückt die Arbeitshypothese und die ethische Haltung, auf denen diese Studie beruht, am bündigsten aus. Das Bild, das aus der Analyse einiger Richtlinien, Durchführungsbestimmungen und Akten der Stasi aus den Jahren 1967-1985 hervortritt, ist in der Tat beklemmend: eine nach militärischen Disziplinvorstellungen gestaltete Bürokratie, hauptsächlich von Berufsoffizieren verwaltet, an ihrer Spitze 32 Jahre lang der gefürchtete Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, dessen Photo gespenstisch auf dem Einband erscheint. Dieser sorgte dafür, daß bei den Aktionen der Stasi die politischen Interessen der SED und die "Diktatur des Proletariats" jederzeit den Menschenrechten der Staatsbürger oder den rechtsstaatlichen Vorschriften der Verfassung vorgezogen wurden. In seinem Haus herrschte neben einem brutalen, im Jargon des Kommunismus bemäntelten Willen zur Unterdrückung jeglicher Opposition "Unbildung, Kulturlosigkeit und Borniertheit" (107), die Mielke durch Wort und Tat nicht selten noch zuspitzte. Bergmann faßt das Verhältnis zwischen Wörtern und Handlungen bei der Stasi am treffendsten zusammen mit dem Satz: "Man tut der Sprache Gewalt an und benutzt sie dazu, Gewalt auszuüben." (39)

Im ersten von fünf Kapiteln verschiedener Länge demonstriert Bergmann die Modalität dieser Gewalt an der Sprache, indem er den Umgang der Stasi und der SED mit dem Wort "Aufklärung" kritisch untersucht. Es erweist sich eine "grauenvolle Pervertierung" von der Norm der deutschen Sprache, sowohl von der, welche durch die allgemeinverständliche Verwendung des Begriffs gesetzt wird, als auch von der, die speziellere historische oder philosophische Bedeutungen bestimmen. Das Selbstverständnis der Stasi äußert sich darin, daß "aufklären, Aufklärung" fast ausschließlich im militärischen Sinne verwendet werden, und zwar transitiv in der Bedeutung, "jemanden auskundschaften" usw. Auch wenn dieser Sprachgebrauch hauptsächlich in den geheimen Dokumenten der Stasi auftritt und fast niemals öffentlich, so ist er für Bergmann doch beispielhaft für den Zynismus, vielleicht auch für die dümmliche Ahnungslosigkeit einer weitverzweigten Institution, die fähig war, ein Wort, das Kant zum Leitbegriff für die Befreiung des Menschen gemacht hat, ausgerechnet in den Dienst der dekadenlangen Unterdrückung zu stellen.

Jedes Kapitel verleiht der Studie eine weitere Perspektive, so daß der Leser immer wieder neue Standpunkte gewinnt. Gegenstand des zweiten Kapitels ist die für Geheimdienste typische, bei der Stasi aber besonders markante Neigung, ihren Opfern ihr Wesen als Menschen zu nehmen, sie durch die Sprache aus Subjekten zu Objekten zu machen. Auch dieses ist eine Art, ihnen ihre Menschenwürde zu nehmen, um ihre rückhaltlose Manipulation zu rechtfertigen. Die grammatisch-technische Beschreibung des Tatbestands maskiert das, was im Bereich der Sprachmoral vor sich geht: "Bedeutungsverschiebungen nach Verben mit einem Akkusativobjekt", wobei es sich um Verben wie "bearbeiten / arbeiten an", "nutzen / nutzbar", "schaffen" usw. handelt, aber vor allem um das gezielte und aufwendige "Herausbrechen" und "Zersetzen" von Einzelpersonen und Gruppen durch routinemäßige Erpressung und Verleumdung.

Das ausführlichste, sprachpsychologisch wohl aufschlußreichste Kapitel behandelt "Wortfelder im Sprachgebrauch der Staatssicherheit". Dabei werden die Wortfelder von drei Vokabeln dargestellt, die in eigener Form kaum auftreten, sondern durch Tarnausdrücke ersetzt werden: "lügen", "verleumden" und "Klassenfeind". Das "Konspirieren" ist z. B. der zentrale Begriff, der das anstößige "Lügen" in eine positive Dimension umsetzt. Das "Konspirieren" beherrscht drei nach ihren Funktionen gegliederte Felder, die jeweils die von der Stasi eingesetzten Ausdrücke enthalten: das Feld der Geheimhaltung ("decken", "inoffiziell", "Pseudonym"), das Feld der Tarnung ("Rolle", "Schein", "sich darstellen", "verschleiern", "pro forma") und schließlich das Feld der Täuschung ("fiktiv", "Kombination", "Legende / legendieren", "unwahr", "vortäuschen"). Eine entsprechende Textprobe aus den Stasi-Richtlinien sieht etwa so aus: "Dann wird eine 'operative Kombination' eingesetzt, 'ein Komplex sich bedingender und ergänzender, so aufeinander abgestimmter Maßnahmen', deren 'Hauptbestandteil' aber 'ist der legendierte (i. e., unter einem Vorwand) Einsatz zuverlässiger, operativ erfahrener und für die Lösung der Aufgabe geeigneter IM.'" (35) Ähnlich bürokratisch vertretbar gemacht werden die Wortfelder "verleumden" -- "diskreditieren", "diskriminieren", "hinstellen als" -- und "Klassenfeind" -- "innerer und äußerer Feind", "Feind und feindliche Gruppe", "feindliche und negative Kräfte". Die letzteren Ausdrücke kennzeichnen abstrakter und schonender als "Klassenfeind" eine Opposition, deren Zahl und Macht man nicht ganz erkennt, die man einerseits sprachlich verdammen soll und andererseits das nicht so unwiderrufbar anrichten will, daß ein politisch günstiger Ausgleich unmöglich wird. Allerdings fehlen in den Protokollen von vertraulichen Gesprächen auch nicht Beleidigungen wie "Drecksäcke" usw. für diese Gruppen, sogar in Reden von Mielke selbst. Das ist auch typisch für die Weigerung dieses Staates und seiner Organe, eine politische "Opposition", und sei sie ihm noch so loyal, entstehen zu lassen oder Andersdenkende als "Dissidenten" zu respektieren. Sie durften nur als "Feinde" behandelt werden und mit Schmähwörtern bezeichnet werden.

In diesem Abschnitt spürt man besonders stark die Tendenz, die das ganze Werk bestimmt, die nämlich, daß Bergmann von der stillschweigenden Forderung ausgeht, daß die Leute der Stasi seinen moralischen Abscheu gegen das "Lügen" oder das "Verleumden" hätten teilen müssen und weder den Menschen noch der Sprache solche Gewalt antun. Er scheint, und das ist gewiß nicht negativ gemeint, nicht wahrhaben zu wollen, daß weite Kreise in der Stasi so stark von der Staatsräson der Machthaber oder von Opportunismus durchdrungen waren, daß solche Argumente sie nicht mehr erreichen konnten.

Das Kapitel "Die Struktur des geheimdienstlichen Apparats" arbeitet vom Standpunkt der Soziolinguistik her. Von der Führungsebene, dem Minister und seinem Kreis, gehen fast ausschließlich Befehle aus, die auf der Offiziersebene in Aktionen umgesetzt werden sollen, die dann in minuziösen Akten auszuwerten sind, in denen dann die Berichte der Inoffiziellen Mitarbeiter als Evidenz auftreten. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich deshalb besonders stark in ihrem sprachlichen Verhalten. Die Führungselite verordnet souverän, mit akribischer Rückhaltlosigkeit führen die Untergebenen aus. Einerseits ist das von der Funktion her begreiflich, andererseits aber stellt es wegen des unantastbaren Löwenanteils an der Macht, den die Führungsebene besaß, noch eine weitere Verzerrung gegenüber analogen Strukturen in anderen Ländern dar. Der letzte Satz des Kapitels besticht: "[Die Staatssicherheit wertet fast ausschließlich ab.] Sie urteilt nicht, sie verurteilt [auf eine ... umfassende Weise]." (78)

Das letzte Kapitel behandelt "Einflüsse auf die Sprache der Staatssicherheit". Diese rühren vor allem vom Wesen der Stasi als einer geheimen Organisation her, die unter starker politisch-bürokratischer Kontrolle steht und hauptsächlich von Berufsoffizieren nach militärischen Grundsätzen geleitet wird. Bergmann stellt fest, daß die Stasi in ihrer Verwendung von Geheimzeichen sich an die Traditionen anderer Geheimverbände, z. B. Räuber- oder Schmugglerbande oder der Nachrichtendienste anderer Länder angeschlossen hat, indem sie z. B. mehr oder minder phantasievolle Decknamen für ihre "Aktionen" oder "Mitarbeiter" erfand. Dazu kam eine so unüberschaubare Menge von schwer zu enträtselnden Abkürzungen, daß man nach dem Zusammenbruch der DDR ein besonderes "Wörterbuch der Staatssicherheit" herstellen mußte; zur berüchtigten Kürzel "IM" kamen noch "IMB", "IMS", "IMV", "IM-V", "IM/W", "IME (S)", und "HIM" u. v. a. m., die dazu dienten, Anwendungsweise und Stellung der "Inoffiziellen Mitarbeiter im weitverbreiteten "politisch-operativen" Netz der Stasi zu präzisieren. Euphemismen wie die eben zitierten dienten dazu, für Außenstehende den wahren Tatbestand der Spionage, Erpressung und Unterdrückung zu verheimlichen und verharmlosen. Die Stasi-Akten sind auch wahre Fundgruben für die typischen Stilblüten der Amtssprache, wie z. B. Endlos-Sätze, Genitiv-Treppen, Nominalstil, Doppelformen und Häufungen ("Wachsamkeit, Geheimhaltung und Konspiration").

Schließlich ist der ungewöhnlich aggressive Ton bei der Stasi und ein Wortschatz, der vorwiegend mit Bildern von Angriff und Verteidigung arbeitet, wobei das Gegenüber meistens zum Feind abgestempelt wird, auf die Herkunft vieler ihrer Angehörigen aus den Reihen des Militärs zurückzuführen. Anmerkungen, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Literaturverzeichnis schließen den Band ab.

Trotz ihres knappen Umfangs bietet Christian Bergmanns kritische Studie erstaunlich viele Gesichtspunkte zur Sprache der Stasi, welche die Erkenntnis ihres Wesens im Sinne der Wahrheitssuche, wie sie bereits Victor Klemperer für die Nazi-Zeit anstrebte, begrüßenswert fördern. Historiker, Linguisten und Sozialwissenschaftler finden hier eine nützliche und engagierte Einleitung zur Erforschung vom Dokumenten-Gebirge einer institutionellen Kultur, deren Mentalität immer noch überall zu spüren ist, auch wenn die Stasi selbst, zusammen mit dem Staat, dem sie diente, zur unbetrauerten Vergangenheit gehört.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension