Titel
Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung


Autor(en)
Kennedy, Paul
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Kunkel, Visiting Fellow, Harvard University

Neue Bücher von Paul Kennedy sind immer besondere publizistische Ereignisse. Das galt schon für den „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ (1989). Provokant in seiner Voraussage einer amerikanischen imperialen Überdehnung und entsprechend kontrovers diskutiert, machte es rasch internationale Karriere und liegt mittlerweile in über 20 Sprachen vor. Das galt auch für das 1993 folgende, ebenfalls mehrfach übersetzte „In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert“. Und das gilt für Kennedys neuestes Buch – nicht weil es nun auch bemerkenswert schnell übersetzt wurde, sondern weil es ein Feld erschließt, das die internationale Geschichtswissenschaft bisher konsequent gemieden hat: die Geschichte der Vereinten Nationen.

Kennedy-Leser dürften zwar einige Bekannte wieder treffen. So geht es dem berühmten Historiker aus Yale in dieser Untersuchung erneut um die großen Konturen der Geschichte – „the big picture“. Auch der „overstretch“ tritt wieder auf, wie gewohnt begleitet von Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft. Aber diese Wiedererkennungsmerkmale sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kennedy im Vergleich zu seinen früheren Werken einen kuriosen Perspektivwechsel vornimmt. Ging es ihm vorher darum, die Gesetzmäßigkeiten der internationalen Beziehungen zu entschlüsseln, untersucht er nun, wie jene durch die Vereinten Nationen außer Kraft gesetzt werden sollten. In diesem Sinne stehen nicht mehr die strukturellen Determinanten des internationalen Systems im Mittelpunkt, sondern die „sich wandelnden Vorstellungen von internationalen Strukturen und die Frage, wie sie eingesetzt wurden, um Ziele, die die ganze Menschheit betreffen“ (S. 14) in neuen und alten politischen Handlungsfeldern durchzusetzen.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Ursprünge, Geschichte und Gegenwart/Zukunft. Nach einer kurzen historischen Zusammenschau internationaler Institutionalisierungsversuche, die den Leser vom Konzert der Mächte über den Völkerbund bis in die UN-Gründungsdiskussionen des Zweiten Weltkriegs führt, entfaltet Kennedy die Geschichte der Vereinten Nationen in mehreren thematisch organisierten Kapiteln. Seine These: es gibt nicht eine, sondern viele verschiedene Vereinte Nationen.

Die bekannteste ist jene des Sicherheitsrats – aber auch die komplizierteste. Denn mehr als alle anderen Organe des UN-Systems sieht Kennedy diesen vor dem grundsätzlichen Dilemma, kooperative internationale Maßnahmen mit konträren nationalen Interessen versöhnen zu müssen. Tatsächlich gelang dies nur selten. Ab 1946, als die Sowjetunion erstmals ein Veto einlegte, blockierten Ost-West-Gegensätze den Sicherheitsrat. Immerhin übernahmen die Generalsekretäre der UN in der Folgezeit die Initiative, um aus dem Sicherheitsrat doch noch einen weltpolitischen Mitspieler zu machen. Dag Hammarskjöld gelang dies in der Suez-Krise am Ehesten, als er „nahezu ein Wunder“ (S. 81) vollbrachte, aber auch dessen Nachfolger bemühten sich um eine größere Handlungsfähigkeit, besonders durch verschiedene Vermittlungsmissionen. Mit der Transformation des internationalen Systems Ende der 1980er-Jahre öffnete sich ein kurzer Zeitkorridor für einen effektiven Sicherheitsrat (siehe Irak), aber bald vervielfachten sich die Probleme infolge unzureichender Ressourcen bei gleichzeitig steigenden Kosten. Dies führte zu einer chronischen Überlastung der UN.

Die komplexe Rolle des Sicherheitsrats spiegelte sich in der Geschichte der UN-Friedensmissionen wider. Frühe Einsätze waren von untergeordneter Bedeutung und beschränkten sich auf die Beobachtung von Friedensabkommen. Ein wichtiger Wendepunkt war die bereits erwähnte Suez-Krise, in der es Hammarskjöld gelang, erstmals eine schlagkräftige UN-Kriseneinsatztruppe zu schaffen. Mit Ausnahme des verheerenden Kongo-Einsatzes blieben die Mandate der UN-Friedenstruppen in den Folgejahren jedoch auf „weiche“ Operationen begrenzt, mit relativen Erfolgen auf Zypern, in El Salvador und in Südafrika, während UN-Blauhelme in Somalia, Jugoslawien und Ruanda versagten, weil die Vetomächte keine gemeinsame Linie finden konnten, Verwirrung über die Umfänge der Mandate herrschte und nicht die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung standen. Indessen zeigten sich die UN-Einsatzplaner lernfähig und intervenierten erfolgreich in Sierra Leone und Osttimor.

Über die Friedensmissionen hinaus waren die Vereinten Nationen zudem immer wieder Schauplatz des Nord-Süd-Konfliktes. Aufgrund vielfacher Rivalitäten zwischen den Bretton Woods-Institutionen (Weltbank und Internationaler Währungsfonds) und dem Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) folgte die Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen anfangs einer dem laissez-faire verpflichteten Strategie der moderaten Entwicklungshilfen, gelegentlichen ökonomischen Gutachten und statistischen Hilfestellungen. Erst mit der Dekolonisierung änderte sich die Agenda. Die Gruppe 77 rief immer vehementer nach neuen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und größerer entwicklungspolitischer UN-Initiative, setzte die Gründung des UN Entwicklungsprogramms (UNDP) und der UN Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD) durch und verabschiedete im Mai 1974 eine Resolution über eine „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“. Was Zeitgenossen wie eine Zeitenwende erschien, konnte jedoch niemals verwirklicht werden, weil die Ölpreiskrise der 1970er-Jahre höhere Entwicklungshilfen verhinderte und viele Entwicklungsländer zugleich in eine Schuldenspirale gerieten. Kennedys Befund fällt daher ernüchternd aus. Seit den 1970er-Jahren haben die entwicklungspolitischen Organe der UN zwar hinzugelernt, können aber angesichts geringer Kapazitäten nur punktuelle Verbesserungen bewirken.

Zur Geschichte der Vereinten Nationen zählt Kennedy außerdem die Geschichte der sozial-, kultur-, und umweltpolitischen Initiativen, der Menschenrechte und der globalen Zivilgesellschaft. Verstärkt seit den 1970er-Jahren versuchten die Vereinten Nationen durch zum Teil gigantische Konferenzen – Politikwissenschaftler zählten 32 Konferenzen zwischen 1972 und 1998 – auf verschiedene globale Problemlagen aufmerksam zu machen. Die Stockholmer Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen von 1972 etwa schärfte das Bewusstsein für Umweltfragen. Häufig entstanden aus diesen Konferenzen neue institutionelle Arrangements wie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). In der Menschenrechtsfrage zeichneten sich die Vereinten Nationen angefangen mit der Erklärung der Menschenrechte bis hin zur Wiener Erklärung von 1993 durch viele gutgemeinte Deklarationen und wirkungslose Sanktionsmechanismen aus. Begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten ergaben sich zumindest indirekt aus dem Zusammenspiel von öffentlichen Erwartungshaltungen und (inter-)nationalen Handlungszwängen, zu dem die Vereinten Nationen durch neue administrative Vorkehrungen wie die Ernennung eines Hohen Kommissars für Menschenrechte maßgeblich beitrugen.

Strategisch waren die Vereinten Nationen damit immer auf die Kooperation mit einer aktiven globalen Zivilgesellschaft angewiesen, wobei das Gravitationszentrum jener Zusammenarbeit in der Generalversammlung der UN lag – dem eigentlichen Parlament der Menschheit. Aber auch Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen, Greenpeace, Kirchen, Stiftungen (Ford und Rockefeller) und Medien (CNN) beschreibt Kennedy als wichtige Kristallisationskerne einer gewachsenen internationalen Zivilgesellschaft, deren ideeller und organisatorischer Fluchtpunkt die Vereinten Nationen sind. Das Buch schließt mit Überlegungen zur Reform der Vereinten Nationen, die dem europäischen Leser teilweise bekannt sein dürften – Stichwort Erweiterung des Sicherheitsrats –, aber auch unkonventionelle Forderungen wie die Abschaffung des ECOSOC enthalten.

Das Verdienst des Buches liegt jedoch weniger in den aktuellen Reformvorschlägen, als vielmehr in den historischen Gebietserschließungen. Angesichts des beklagenswerten Zustandes der historischen UN-Forschung sticht Kennedys Überblicksdarstellung wie ein einsamer Komet heraus. 1 Insgesamt gilt es nun, die groben Konturen mit detaillierten Studien zu präzisieren. Dafür benennt Kennedy die Dimensionen, strukturiert Ansätze, zeigt Möglichkeiten auf. Darüber hinaus fordert er zum Weiterdenken heraus. Lässt sich die Geschichte der Vereinten Nationen auch jenseits der Dichotomie von Erfolg und Versagen schreiben – und wenn ja, wie? Wie transnational war die UNO? Welche Visualisierungsstrategien verfolgten die Vereinten Nationen, um die Vorstellungen von internationalen Strukturen zu verändern? Kein Zweifel: Paul Kennedy ist wieder einmal ein großer Wurf gelungen.

Anmerkung:
1 Siehe zum Stand der UN-Forschung Dülffer, Jost, „Historische UN-Forschung in Deutschland. Themen, Methoden und Möglichkeiten“, in: Fröhlich, Manuel (Hrsg.), UN Studies / VN-Studien. Umrisse eines Lehr- und Forschungsfeldes, Baden-Baden (im Erscheinen).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension