Titel
Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und Demokratische Kultur


Autor(en)
Reichardt, Rolf
Reihe
Europäische Geschichte 60135
Erschienen
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
DM 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Matthias Middell, Zentrum für höhere Studien, Universität Leipzig

Auf den ersten Blick mag es wie ein Tribut an lange gepflegte Konventionen wirken, wenn nun auch die Europäische Geschichte des Fischer-Verlages einen Band allein der Französischen Revolution widmet, so wie in früheren Handbüchern zur Staaten- und Weltgeschichte dem Mega-Ereignis des ausgehenden 18. Jahrhunderts größere Abschnitte galten. Doch Rolf Reichardt hat sich nicht damit begnügt, den gewohnten Handlungsstrang zu erzählen, ihm geht es nicht um die maßvolle Integration der neuen Ergebnisse, die die Forschungskonjunktur des 200. Jahrestages in Form von reichlich 850 internationalen Tagungen und ca. 5000 Büchern erbrachte, in das klassische Revolutionsnarrativ. Reichardt will vielmehr "von den gründlichsten und fruchtbarsten Fallstudien, die zum Bicentenaire erschienen sind ... zu einer Gesamtdarstellung neuer Art ... gelangen" (S. 11). Hierfür schlägt der Verfasser drei Perspektivenwechsel vor:

1. die Revolution von den Ereignissen in den Provinzen und weniger von jenen in der Hauptstadt aus zu begreifen. Dies impliziert

2. die Einheitlichkeit des Verlaufes, der sich in den klassischen Erzählstrukturen der Gesamtdarstellungen von Michelet bis Soboul und Furet/Richet widerspiegelt, aufzulösen zugunsten der Anerkennung von Kontingenz und verschiedenen nicht oder nur lose miteinander verbundenen Handlungsebenen.

3. schließlich soll die Revolution (neben ihrer Dimension des politischen und sozioökonomischen Wandels) als kulturelle Revolution der Verhaltensweisen, der Normen, der Mentalitäten und der Formen des Austrages von Konflikten ('politische Kultur') begriffen werden.

Mit einem dieser Aufgabe angemessenen Erzähltalent, in dem die konkreten Akteure und Situationen zu ihrem Recht kommen, offeriert Reichardt zunächst einen Abriß der Bauernrevolution in der Corrèze, im Maconais, in der Picardie und in der Gascogne, in der Beauce und in Westfrankreich. Hier werden zugleich Vorzüge und Nachteile des gewählten Verfahrens deutlich. Reichardt kann zeigen, daß in einzelnen Regionen die Rhythmik der Bauernerhebungen, ihre Begründungen und die Zusammensetzung ihrer Teilnehmerschaft deutlich voneinander abwichen, und er kann am Ende die Erhebungen in der Vendée, in der Bretagne und in der Normandie gegen die örtlichen wie nationalen Repräsentanten der Revolution als integralen Bestandteil eines Kampfes der Bauern um eine eigene Rolle in der Neugestaltung Frankreichs gegenüber den Städtern aufzeigen. Nur: Ganz so neu wie versprochen ist dieses Herangehen nicht, denn die einbezogenen Fallstudien sind durchweg von Georges Lefèbvres Analysen der bäuerlich-bürgerlichen Revolution angeregt (1932), und mit der (im Literaturverzeichnis bei Reichardt vermerkten) Studie des sowjetischen Historikers A. V. Ado liegt seit Ende der 60er Jahre eine Arbeit vor, die die regionale Vielfalt der Strukturvoraussetzungen und Handlungsverläufe auf die nationale Agrargesetzgebung zu beziehen sucht.

Im zweiten Teil berichtet der Verfasser von der politischen Kultur in den kleinen Provinzstädten. Und wieder beginnt er seinen Bogen im Bas Limousin. Das Städtchen Tulle dient als Aufhänger, um einen Bereich vorzustellen, in dem die Forschung in den letzten Jahren die größten Fortschritte gemacht hat, nicht zuletzt dank der großen Enquête, die zum Atlas Historique de la Révolution Française geführt hat: Die Untersuchung der Klubs und Volksgesellschaften, der Kommunikationsbeziehungen in einer neuartigen politischen Öffentlichkeit, die auf den lange unterschätzten Soziabilitätsstrukturen des Ancien Régime aufbauen konnte sowie des Mikroklimas von kleinstädtischen Notabeln und Sansculotten. Hier gelingt Reichardt mit der Beschreibung des nahe bei Paris gelegenen Melun eine wirkliche Innovation in der Revolutionsgeschichtsschreibung: die Integration jener Orte, an denen die Revolution beinahe vorbeiging, in denen die Intensität des revolutionären Engagements verschwindend gering war. Ohne dieses Element, das eben sonst in den von Höhepunkt zu Höhepunkt eilenden Darstellungen ausgeblendet bleibt, wird aber kaum verständlich, warum die Erziehung des Volkes und die Selbstorganisation der Revolutionäre von den letzteren als eine nicht enden wollende Aufgabe angesehen wurde. Indem Reichardt für die Erläuterung der Ereignisse in Marseille auf die gemeinsam mit Hans-Jürgen Lüsebrink geleisteten Vorarbeiten zur Symbolik des Bastille-Sturmes und zur Etablierung eines entsprechenden Mythos zurückgreift, deutet sich in der Darstellung ein Zusammenhalt an, den nicht das gemeinsame Erleben grundsätzlich gleicher "objektiver Voraussetzungen" (wie es die ältere, sog. soziale Interpretation stillschweigend annahm) herstellte, sondern die landesweit gemeinsamen Elemente der politischen Kultur (Symbole, Mythen, Diskurse), für die die Kreation neuer Institutionen und Legitimationsstrategien durch die Konstituante den Auftakt geliefert hatte.

Konsequenterweise folgt in Teil 3 die Beschreibung der politischen Entscheidungen in der verfassungsgebenden bzw. gesetzgebenden Versammlung sowie der journées révolutionnaires mit einer ganz und gar klassischen Einteilung der einzelnen Phasen. Des Verfassers These, wonach die Revolution hauptsächlich ein soziokultureller Umbruch gewesen sei, verfolgt er im anschließenden vierten Teil systematisch für die Frauenbewegung, die die politische Kultur beeinflussenden Wahlrechtsregelungen und Wahlpraktiken, für die Geschichte der Medien im Jahrzehnt nach der Zusammenrufung der Etats Généraux und für die Geschichte der sprachlichen und symbolischen Rituale bis hin zu den Festen der Revolution.

Am Ende steht ein Teil zu den Wirkungen auf die Anrainerstaaten mit der Frage, ob die Rolle als Katalysator einer neuen politischen Kultur gestatte, von einer europäischen Revolution zu sprechen. Die Antwort fällt negativ aus, denn abgesehen vom Strukturwandel und den annektierten Gebieten und Schwesternrepubliken taten die Franzosen nichts, um ihre Revolution zu exportieren, und die Gegenfrage, ob dann nicht wenigstens eine europäische Gegenrevolution auszumachen sei, verneint Reichardt gleichermaßen. Zu unterschiedlich waren die Interessenlagen der einzelnen Potentaten, als daß sie dem Ruf der Emigranten nach Klassensolidarität gefolgt wären. In einer europäischen Geschichte hätte man sich diese Fragen, die zugleich diejenigen nach Kriterien für den Vergleich und für eine Typologie der Entwicklungsstände in Sozialstruktur und politischer Kultur in ganz Europa sind, auch weiter vorn als auf S. 265 plaziert vorstellen können. Doch Reichardt entschädigt für die knappen Bemerkungen zu diesem Punkt mit einer längeren Passage, die auf seine eigenen begriffs- und symbolgeschichtlichen Forschungen zur deutschen Revolutionsbibliothek zurückgehen, zu den kulturellen Langzeitwirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland, zu Forster und zur Mainzer Republik sowie schließlich auch mit einem Parcours durch das Europa des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts (England, Irland, Italien). Eine nützliche Literaturliste, eine Zeittafel und ein kleines Glossar beschließen den Band, der ein Spiegelbild der historiographischen Tendenzen nach dem Bicentenaire gibt und deren Haupttrends aufgreift.

Nachdem vor 1989 nur in Deutschland (Ost) mit Walter Markovs Revolution im Zeugenstand (Leipzig 1982) eine international konkurrenzfähige Gesamtdarstellung der Französischen Revolution vorlag, zieht der vorliegende Band die Summe der Anstrengungen des Verfassers und einer kleinen Schar von deutschen Revolutionshistorikern zur kulturhistorischen Wende in der Geschichtsschreibung über die Französische Revolution und kann tatsächlich einen eigenständigen Beitrag leisten. Man mag einwenden, daß das Pendel zu weit ausschlägt in der Vernachlässigung der sozialstrukturellen Veränderungen im Frankreich der Revolutionszeit (erwähnt sei nur die zuletzt wieder heftiger diskutierte bourgeoisie montagnarde oder die Chancen eines kapitalistischen take off im Agrarsektor auf mittelbäuerlicher Grundlage). Aber abgesehen davon, daß solche Kritik angesichts der großen konzeptuellen und darstellerischen Leistung Reichardts beckmesserisch klingen würde, bleibt auch festzuhalten, daß hier ein Angebot für die Diskussion um die Kulturgeschichte vorliegt, das nicht die theoretische Erwägung, sondern das Experiment einer innovativen Einlösung in den Vordergrund stellt.

Der Band kann deshalb nicht nur den Interessenten an der Geschichte der Französischen Revolution, sondern gleichermaßen jenen dringend empfohlen werden, die nach Beispielen für die gelungene Anwendung der neuen kulturgeschichtlichen Theorien suchen.

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