: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks. Berlin 2008 : Assoziation A, ISBN 978-3-935936-65-1 427 S. 29,90 €

: Magna Carta Manifesto. Liberties and Commons for All. Berkeley 2008 : University of California Press, ISBN 978-0-520-24726-0 376 S. € 19,09

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Eiden, Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Universität Konstanz

„Die vielköpfige Hydra“ erzählt die „verborgene Geschichte“ eines historischen Subjekts, dessen Existenz keineswegs gesichert vorausgesetzt werden kann. Denn dass es ein „atlantisches Proletariat“ als bestimmbare historische Größe überhaupt gibt, ist selbst schon eine der zentralen Thesen dieses Buches. Die Autoren rekonstruieren die Geschichte ihres Subjekts im Zeit-Raum von 1600 bis 1835 im atlantischen Dreieck England – Westafrika – Nord- und Mittelamerika. Den Beweis, dass das „atlantische Proletariat“ wirklich existiert, dass es kämpft und sich bewegt, erbringt das großartig erzählte und daher auch für historische Laien (der Rezensent ist selbst kein Historiker, sondern Literaturwissenschaftler) hervorragend zu lesende Buch schließlich ebenso überzeugend wie überschwänglich. Dass das im Original 2000 bei Beacon Press erschienene und im englischen Sprachraum mittlerweile zu einen Standardwerk avancierte Buch nun endlich in einer vorzüglichen deutschen Übersetzung von Sabine Bartel vorliegt, muss dem Verlag Assoziation A hoch angerechnet werden. Dieser linke Kleinverlag veröffentlicht seit Jahren verdienstvollerweise hervorragende Erzeugnisse der linken angloamerikanischen Academia, die in den USA zumeist bei den einschlägigen University Presses erscheinen, an die sich die renommierten deutschen Wissenschaftsverlage aber offensichtlich nicht heranwagen.

„Die vielköpfige Hydra“ ist forschungsgeschichtlich der neueren New Labor History zuzurechnen. Obgleich es mit dieser alle wesentlichen theoretischen Grundentscheidungen teilt – der Ausgang von der „Erfahrung“ der Subjekte, der Blick „von unten“, die Orientierung an den „Kämpfen“ der Geschichte –, versuchen die Autoren zugleich auch eine Revision ihrer Forschungstradition. Die Revision zeigt sich in einem durchgängigen Dialog mit Edward P. Thompson, dessen Schüler Linebaugh ist. Wo Thompson in seinem legendär-monumentalen Hauptwerk die Herstellung und „Entstehung der Englischen Arbeiterklasse“ aus deren eigener Perspektive untersucht hat 1, da arbeiten Linebaugh und Rediker die Löschungen und Spaltungen heraus, die historisch und historiographisch vollzogen werden mussten, damit von einem national gehegten Subjekt wie der „englischen Arbeiterklasse“ überhaupt gesprochen werden kann. Das „atlantische Proletariat“ ist mehr als „der weiße, männliche, ausgebildete, lohnbeziehende, nationalistische, Eigentum besitzende Handwerksbürger oder Industriearbeiter“. Es ist „landlos, enteignet“, „arm“, „mobil und transatlantisch“, es besteht aus „Frauen und Männern“ und umfasst „alle Altersstufen“, und es ist schließlich entschieden „multiethnisch“ (S. 356f). Der eigentliche Held in Linebaughs und Redikers Geschichtserzählung ist denn auch die „motley crew“, der „buntscheckige Haufen“ oder die „Menge“.2

Die Rekonstruktion der „verborgenen Geschichte“ dieser Klasse erfolgt auf vier historischen Plateaus, auf denen sich jedes Mal ein Widerspiel von Aggression und Widerstand, von Rebellion und Verrat entfaltet: In der ersten Phase der „Großen Enteignung“ (1600–1640) wird in der in der alten Welt wie in den Kolonien der traditionelle Gemeinbesitz – „commons“, Allmende – privatisiert und der Widerstand der „commoners“ durch ein System von „Arbeit“ und „Terror“ gebrochen; die zweite Phase erstreckt sich über einen Zyklus revolutionärer Kämpfe, der 1640–1680 vom „Englischen Bürgerkrieg“ bis zu den Sklavenkriegen in den Kolonien reicht und der wesentlich von der Macht der enteigneten, freigesetzten Menge getragen wird; in der dritten Phase (1680–1760) verlagert sich die besiegte, aber nicht geschlagene Macht der revoltierenden Menge heterotopisch in die autonom und demokratisch organisierte „Hydrarchie“ der Piraten und Meuterer; in der vierten Phase (1760–1835) schließlich werden die „atlantischen Revolutionen“ – so die Autoren – wesentlich durch die Energien des „buntscheckigen Haufens“ in Gang gesetzt.

Was die Geschichte der „vielköpfigen Hydra“ nun über eine Anekdotensammlung revolutionärer Kämpfe erhebt, ist der Zusammenhang, den die Autoren in geradezu atemberaubender Weise zwischen diesen Kämpfen (re)konstruieren, und der die Einheit des „atlantischen Proletariats“ ausmacht. Dieser Zusammenhang wird nicht bloß als Einheit revolutionärer Ideen gesetzt, sondern „von unten“, als Kommunikationsgeschichte revolutionärer Erfahrungen und als globale Zirkulation von Bildern, Kampf- und Organisationsformen, erzählt. Diese Zirkulation geht, so machen die Autoren deutlich, auf die geteilten Erfahrungen der Menge im gemeinsamen Arbeitsprozess zurück, auf neue Erfordernisse und Möglichkeiten erweiterter Kooperation und Kommunikation. Hervorzuheben ist hier der dezidiert nicht-instrumentelle Kommunikationsbegriff der Autoren: Es geht nicht um die einfache Übermittlung einer Botschaft von einem Sender an einen Empfänger, sondern um die prozessuale Erzeugung der Kommunizierenden in der Zirkulation von „Identifikationsmuster[n]“ (S. 265).

Die Verbindung der Kämpfe, so betonen die Autoren, wurde nicht nur historisch von den Herrschenden unterdrückt – das Kapital agiert hier nicht als Stifter globaler Kommunikation, sondern als deren Blockierer und Unterbrecher –, sie wurde auch historiographisch unsichtbar gemacht. Statt die Realität eines multiethnischen, gemischtgeschlechtlichen, kosmopolitisch-universalistischen Proletariats als erstes Ergebnis und als Voraussetzung des „atlantischen Kapitalismus“ auch nur zur Kenntnis zu nehmen, haben die Historiker/innen in ihren Analysen immer schon jene Kategorien der Spaltung vorausgesetzt, die historisch erst zur Unterdrückung der revolutionären Bewegungen eingeführt wurden: „Rasse“, „Nation“, „Geschlecht“ – und auch „Klasse“ als homogenisierte, purifizierte Kategorie. Die beiläufig miterzählte Geschichte von der Geburt des modernen Rassismus aus dem Geist der Aufstandsbekämpfung gehört zu den spannendsten Aspekten dieses großen Buches.

Mit ihrer entschieden transnationalen Perspektive kann „Die vielköpfige Hydra“ auch als – durchaus kritischer – Beitrag zur gerade ausholenden Global History gelesen werden. Das Buch versteht sich als Globalisierungsgeschichte „von unten“; es erzählt das „Making of“ des British Empire und des „atlantischen Kapitalismus“ als Widerstandsgeschichte. Symbol für den Widerstand ist die „vielköpfige Hydra“. Diese hat – so belegen die Autoren reichhaltig – die Organisatoren der atlantischen Ökonomie bei ihrer (selbst zugeschriebenen) Herkulesaufgabe über Jahrhunderte als Angstphantasie heimgesucht. Indem die Autoren nun die Hydra zum Emblem ihrer Untersuchung erheben, wird sie zugleich zum Ausgangspunkt einer politischen Symbolgeschichte. Die Autoren zeigen, wie geschichtliche Erfahrungen sich in Symbolen und Bildern verdichten und in diesen erst les- und transferierbar werden. Sie zeigen aber auch, wie Bilder materielle Wirklichkeit erzeugen – so wurde die bloße Assoziation einer sozialen Bewegung mit dem Bild der Hydra für die Herrschenden ab einem bestimmten historischen Punkt zur selbstverständlichen Legitimation, die Bewegung in oft genozidalem Furor auszulöschen. Andererseits können Bilder (etwa das des biblischen „Jubeljahrs“) oder symbolische Handlungen (das Niederlegen von Zäunen beispielsweise) aber auch Widerstandshandlungen auslösen oder diesen eine Interpretierbarkeit geben, die zu Folgehandlungen führt. Ein interessanter Seitenaspekt der hier gebotenen Symbolgeschichte besteht darin, dass literarische Texte immer wieder auf eine erfreulich unreduktionistische Art als Quellen herangezogen werden; wie einst Kantorowicz eröffnen die Autoren ihr Werk mit Shakespeare, das letzte Wort behält, wie bei E.P. Thompson, William Blake.3 Für die Autoren sind auch in literarischen Bildern historische Erfahrungen im Wortsinn ver-dichtet, so dass diesen derselbe Aussagewert wie Chroniken oder Akten zukommt.

„Die vielköpfige Hydra“ will – als „Gegen-Geschichte“ – selbst politische Intervention sein. Spätestens der letzte Satz des Buches macht dies deutlich: „Der Arm der Globalisierungsmächte ist lang, und ihre Ausdauer ist endlos. Doch die Weltenwanderer vergessen nicht und sind – von Afrika über die Karibik bis nach Seattle – immer bereit, sich der Sklaverei zu widersetzen und das Gemeineigentum wiederherzustellen“ (S. 379). Als Symbolgeschichte aber tritt die Intervention selbst in Form einer historischen Gegen-Bild-Produktion auf. Dies ist mit allerlei Problemen verbunden: Zunächst kann die Verdichtung historischer Forschung in politischen Bildern als Beweis mangelnder wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit (miss)verstanden werden.4 Dann muss gesagt werden, dass die historisch-politische Bild-Produktion immer auch mit dem Problem des Kitsches konfrontiert ist. Die projizierten Bilder zeigen das – von den Autoren – politisch Ersehnte und nähern dieses so immer auch Klischees an. Die karnevaleske „verkehrte Welt“, die den Autoren im Leben der Menge erscheint, und die Kleine-Jungs-Phantasien, die sich in den Bildern der Hydrarchie der Piraten zeigen, lassen sich diesem Komplex zurechnen. Noch oder gerade in den kitschigen Momenten aber demonstrieren die Autoren eindrucksvoll, dass weder eine historische Forschung noch ein politisches Projekt ohne Bilder auskommen kann. Schließlich ist das Verfahren der historischen Gegen-Bild-Produktion aber auch mit politischen Problemen verbunden: Denn welche Form des Handelns soll durch die bildlich suggerierten Evidenzen motiviert werden? Ist die Gegenseite – die Herrschenden, das Kapital, die „Globalisierungsmächte“ – historisch wirklich so einheitlich, wie es die Autoren nahe legen? Und hat die Gegenseite nicht Wege der politisch-ökonomischen Integration entwickelt, die sich nicht mehr ohne weiteres als offene Gewalt und Terror beschreiben lassen? Es drängt sich bisweilen der Eindruck einer militanten Nostalgie auf, welche – der Anlage des Buchs als historischer Untersuchung gemäß – in ihrem aktuellen politischen Gehalt nicht weiter problematisiert wird.

„Die vielköpfige Hydra“ hatte einen Kampf gegen die Sklaverei und für das Gemeineigentum proklamiert. Wo die „Hydra“ sich auf den Widerstand gegen die Sklaverei konzentriert hat, da wird Linebaughs aktuelles Buch, „The Magna Charter Manifesto. Liberties and Commons for All“, überraschend positiv. Es versucht sich an einer historisch fundierten Bestimmung dessen, was ein Kampf um die „commons“ heute sein könnte. Der aktuell-politische Einsatzpunkt der Untersuchung wird im „Manifesto“ von Anfang an exponiert: Es ist der gemeinsame Kampf indigener Gruppen und metropolitaner Aktivist/innen in der sogenannten „Anti-Globalisierungsbewegung“ gegen die Privatisierung von Gemeineigentum in aller Welt. Das Buch führt nach Chiapas und in indische Dörfer, ins Niger-Delta, zur Durban Conference against Racism und zum (Anti-)G8-Gipfel in Genua 2001.

Linebaugh geht in seiner Beschäftigung mit dem Problem der „commons“ auf die Magna Charta von 1215 zurück; er zeigt deren Aktualität, indem er ihr ein weithin vergessenes Geschwisterdokument beiseite stellt, die „Charter of the Forests“. In dieser wurden nicht primär politische Freiheitsrechte, sondern „commonale“ Nutzungsrechte des englischen Waldes garantiert. Linebaugh schreibt nun nicht nur eine Ideengeschichte des Fortlebens der Freiheitsrechte der Magna Charter in England und den USA; er rekonstruiert zudem eine Geschichte der Politischen Ökonomie und der sozialen Ökologie des englischen Waldes vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. „Commons“ sind, so der Autor, niemals nur ein Rechtstitel, sondern müssen in ihrer jeweiligen konkreten materiellen Situiertheit verstanden werden. Hier ergibt sich für deutschsprachige Leser/innen ein Übersetzungsproblem. Für Begriffe wie „commons“, „commoners“, „commonage“ gibt es im Deutschen jeweils eher technische Übersetzungen, die sich speziell um den Bereich der Allmende-Wirtschaft gruppieren, oder es gibt Übersetzungen, die sich auf das Gemeine, Gemeinsame, Gemeinschaftliche in einem allgemeinen Sinn beziehen. Die selbstverständliche Beziehung zwischen den beiden Bereichen, die das Englische bietet und die sich bis hin zum Neologismus „commonism“ ziehen lässt, geht im Deutschen notwendig verloren. Hier handelt es sich aber nicht um ein reines Übersetzungsproblem. Linebaugh bemerkt, dass es auch im Englischen von vorneherein falsch gedacht ist, die „commons“ als eine bloße Gegebenheit oder eine „natural ressource“ zu behandeln: „the commons is an activity and, if anything, it expresses relationships in society that are inseparable from relations to nature“. Daher sollte man, so Linebaugh, eher das Verb „commoning“ verwenden (S. 279).

Aus der politischen Rezeptionsgeschichte der beiden „Great Charters“ (die im Appendix dieses Buches dokumentiert sind) extrahiert Linebaugh fünf Prinzipien des „commoning“ (vgl. S. 45), die zeigen sollen, dass politische Freiheitsrechte nur dann zu erringen sind, wenn sie durch ökonomische (An)Rechte ergänzt werden. Als „Manifesto“ erhebt das Buch Forderungen. Es gehe darum, so Linebaugh, „to put the commons back on the agenda of the political constitution“ (S. 20). Denn auch umgekehrt, so adressiert der Autor die sozialen Bewegungen der Gegenwart, werden ökonomische Anrechte nur dann dauerhaft wirksam, wenn sie immer auch politisch – „constitutionally“ (S. 20) – begriffen und ins Werk gesetzt werden. Mit großem historischem Atem beweist das Buch die Untrennbarkeit von politischen und ökonomischen Rechten, von „Liberties and Commons for All“.

Das „Magna Charter Manifesto“ verhält sich gegenüber seinen eigenen politischen Ansprüchen ungeschützter, offener als die „Vielköpfige Hydra“; der Konstruktionscharakter der verschiedenen historischen Parallelisierungen und Aktualisierungen wird nirgends kaschiert. Dadurch werden Beschränkungen deutlicher exponiert, die Positionen aber auch einfacher verhandelbar. All das beeinträchtigt andererseits den Reichtum an historischen Erkenntnissen und theoretischen Reflexionen keineswegs, der einer kulturwissenschaftlich interessierten Leserschaft gerade auch in der „Vielköpfigen Hydra“ geboten wird. Genau diese Leser/innen werden hier eine ganze Reihe von (Theorie)Figuren entdecken, die auch in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion im Umlauf sind: zu denken wäre an die Multitude (Negri/Hardt), die egalitär-universalistische Militanz des paulinischen Urchristentums (Badiou) oder die Artikulationen eines dissidenten Unvernehmens (Rancière). Allerdings erscheinen diese Figuren in der „Vielköpfigen Hydra“ nicht als bloße theoretische Konstruktionen, sondern tauchen aus der Fülle des historischen Materials in unerwarteter Dichte und Plastizität auf. Die Irritationen, die mit dieser Konkretion einhergehen, sind nicht nur lehrreich, sondern machen die Lektüre des Buches auch zu einem intellektuellen Vergnügen.

Anmerkungen:
1 Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963.
2 Vgl. die Anmerkung der Übersetzerin S. 382.
3 Das letzte noch vollendete Buch E.P. Thompsons war Witness Against the Beast: William Blake and the Moral Law, New York 1993.
4 Vgl. dazu etwa Peter Linebaugh / Marcus Rediker / David Brion Davies, The Many-Headed Hydra: An Exchange, The New York Review of Books, Volume 48, Number 14, 20. September 2001; <http://www.nybooks.com/articles/14534> (18.12.2008).

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