Cover
Titel
Schwarzer Markt. Kriminalität, Ordnung und Moral in Bremen 1939–1949


Autor(en)
Mörchen, Stefan
Reihe
Campus Historische Studien 54
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Zierenberg, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Von der Sehnsucht nach Ordnung handeln viele Geschichten der Zeit nach 1945 in Deutschland – einer Ordnung für alle alltäglichen Lebenszusammenhänge. Das betrifft die Möglichkeit, einer „geregelten Arbeit“ nachzugehen, über die Normalisierung der Konsummöglichkeiten bis hin zur Einrichtung eines trauten Heims. Dass der Krieg solche Ordnungen vielfach außer Kraft setzte und damit zugleich die Sehnsucht nach ihnen beförderte, ist oft geschildert worden. Diesen Erzählungen wohnt allerdings – neben anderen Schwierigkeiten – das Problem inne, dass sie naturgemäß eine klare Linie zu ziehen geneigt sind, eine Linie zwischen einem unordentlichen Davor und einem wie auch immer ordentlicheren Danach. Und obwohl es natürlich verglichen mit dem Krieg zu einer „Normalisierung“ der Lebensumstände nach 1945 kam, blieben solche Ordnungserfahrungen und -deutungen lange prekär und umstritten.

Stefan Mörchens Dissertation setzt hier an, indem sie eine wichtige Auseinandersetzung mit dem Problem sozialer Ordnung in den Blick nimmt, die den Übergang von der Kriegs- in die Nachkriegszeit überdauerte. Seine Arbeit widmet sich dem Bremer Schwarzmarkt zwischen 1939 und 1949 und fragt nach der illegalen Ökonomie als einem Gegenstand, an dem problematisch gewordene Verhaltensnormen und Gemeinschaftsvorstellungen verhandelt wurden. Seine kulturwissenschaftlich informierte Studie versteht den sich bereits während des Krieges ausbreitenden Schwarzmarkt als Marker für divergierende wie geteilte Entwürfe einer gewünschten Ordnung und Normalität. Die Tatsache, dass eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern bereit war, etablierte Normen zu brechen und sich an illegalen Tauschgeschäften und anderen kriminellen Aktivitäten zu beteiligen, setzte bereits zeitgenössisch die Frage auf die Tagesordnung, wie diese Auflösung bürgerlicher Moralvorstellungen zu bewerten sei.

Mörchens Buch, das in vier Kapitel gegliedert ist, besteht eigentlich aus zwei großen Teilen. In den ersten beiden Kapiteln konturiert er jeweils für die Kriegs- und die Nachkriegszeit wichtige Kontexte, Entwicklungsstufen, Bekämpfungspolitiken und Diskurse der Bremer Schwarzmarktgesellschaft. Der zweite Teil, der nach dieser Lesart die Kapitel 3 und 4 umfasst, widmet sich der „Überlebensmoral zwischen alltäglichem Normbruch und Ordnungsloyalität“ sowie jenen zeitgenössischen Deutungen des Schwarzmarkts, die ihn als einen „anderen Ort“ oder Heterotopie entwarfen. Dies ist auch der Fluchtpunkt von Mörchens Studie. Wer den Clou des Unterfangens vor Augen geführt bekommen will und ein wenig Vorbildung in der Sache mitbringt, der kann die ersten Kapitel (rund 250 Seiten) überspringen und gleich mit dem dritten oder auch dem vierten Kapitel beginnen – und bei Bedarf zurückblättern.

In seiner Einleitung fasst Mörchen den Schwarzmarkt aus kriminalitätshistorischer Perspektive als einen Gegenstand, der es erlaubt, unterschiedliche Ordnungsentwürfe in einer Zeit erodierender Ordnungsmuster zu untersuchen. Damit geraten jene vielfältigen Aushandlungsprozesse in den Blick, in denen neben der Rechtmäßigkeit individuellen Handelns vor allem Vorstellungen von Gemeinschaft, von gewünschter wie problematischer In- und Exklusion verhandelt wurden. Es geht ihm um teils konkurrierende, teils sich überlagernde Konstruktionen von Kriminalität, in denen die handelnden Marktakteure selbst, aber auch die Strafverfolgungsbehörden und andere amtliche Stellen sowie wissenschaftliche und mediale Wortmeldungen den Schwarzmarkt in der Kriegs- und Nachkriegszeit als „anderen Ort“ einer imaginierten Normalität entwarfen. Dabei zogen diese Äußerungen permanent Grenzen zwischen richtigem und „volksschädlichem“ Verhalten einerseits und zwischen als kriminell einzustufenden Gruppen und der breiten Masse der Bevölkerung andererseits. So wurde situativ und innerhalb eines Interpretationskorridors versucht, eine Eindeutigkeit herzustellen, die immer gefährdet und Gegenstand weiterer Umdeutungsversuche blieb.

Das erste Kapitel wendet sich der Entwicklung während des Krieges zu und verweist sowohl auf das Bewirtschaftungssystem und die Versorgungslage als bestimmende Faktoren, als auch auf eine ganze Reihe von Erscheinungsformen des Marktes und der gegen ihn gerichteten Bekämpfungsversuche. Mörchen deutet die Teilnahme am illegalen Markt als Eigensinnigkeit der Akteure, die ihr Handeln mit Verweis auf die Praktiken anderer rechtfertigten. Auf diese Weise konnten sie sich nach wie vor als Angehörige der „Volksgemeinschaft“ verstehen, obwohl sie illegal Waren tauschten und damit dem Bewirtschaftungssystem entzogen. Die Teilnahme an illegalen Geschäften sollte deshalb nicht mit einer wachsenden Entfernung breiter Bevölkerungskreise zum Regime verwechselt werden. Insbesondere die durch die gleichnamige Verordnung vorgegebene Figur des „Volksschädlings“ erlaubte eine Absetzung des eigenen Handelns, in der die Deutungen der Händler wie der Strafverfolger teilweise in Übereinstimmung zu bringen waren.

Neben einigen bekannten Entwicklungen der Nachkriegszeit, die etwa die Veränderungen in der insgesamt milderen Strafverfolgungspraxis durch deutsche wie alliierte Stellen betrafen, gelingt es Mörchen im zweiten Kapitel vor allem, den mit der neuen Sichtbarkeit der Märkte einsetzenden Wandel genauer in den Blick zu bekommen. Die Neuartigkeit der Nachkriegssituation lag nicht nur im Öffentlich-Werden der Märkte selbst, sondern auch in einer breiteren öffentlichen Auseinandersetzung – etwa in der lokalen Presse – über das illegale Verhalten und seine Bedeutung für die Gesellschaft. Der Stellenwert des Schwarzmarkts als Gegenstand, an dem sich Vorstellungen von Illegalität und Normalität verhandeln ließen, wurde dadurch nur gesteigert.

Eine Stärke von Mörchens Arbeit zeigt sich in jenen Abschnitten, in denen er konkrete Räume, Akteure und Konflikte untersucht. Bleiben einige Passagen aus den ersten beiden Kapiteln zuweilen ortlos, gelingen dem Autor im Zusammenhang mit seiner Diskussion der „Überlebensmoral“, wie er sie konkret am Beispiel städtischer Verbraucher und den Bremer Hafenarbeitern nachzeichnet, eindrückliche Analysen. Gerade das Beispiel der „moral economy“ der Bremer Hafenarbeiter, die trotz neuer Verordnungen (wie dem Alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 50) an ihrer geübten Praxis der systematischen und kollektiv organisierten Teilunterschlagung von Schiffslöschungen festhielten, zeigt allerdings auch, dass die mit der Foucaultschen Terminologie eingeführte Flughöhe der Untersuchung dann gewinnbringend ist, wenn sie durch konkrete, Markteinbettungen berücksichtigende Analysen heruntergebrochen und ausbuchstabiert wird. Mörchens Schilderung der Hafenarbeiter, die auf hergebrachten Rechten bestanden und sich diese auch nicht durch die amerikanische Militärverwaltung nehmen lassen wollten, verweist auf die Bedeutung sehr spezifischer, lokaler und sozialer Bedingungsfaktoren, die den Schwarzmarkt als jeweils ganz eigenen „anderen Ort“ beschrieben.

Hier gelingt es Mörchen zudem, seinen Untersuchungsraum Bremen plastischer zu zeichnen, als das ansonsten über weite Strecken der Fall ist. Man hätte aus der spezifischen Situation der Hafen- und Hansestadt vielleicht noch etwas mehr machen können, die Wahl seines Untersuchungsraumes begründet Mörchen einleitend jedenfalls nicht. Problematischer ist allerdings die Gliederung der Arbeit, die vor allem auf den ersten circa 250 Seiten etwas Tableau-Artiges besitzt und dabei zudem eher Bekanntes ausbreitet. Eine Straffung hätte dem Buch an dieser Stelle gut getan. Auch unterlässt es Mörchen, wichtige Ergebnisse seiner Untersuchung zuzuspitzen. Würde man etwa seinen Befund, dass die Konstruktion des Schwarzmarktes als Heterotopie bis auf Gruppen wie die Bremer Hafenarbeiter heruntergebrochen werden kann, pointierter fassen, träte der vielleicht wichtigste Befund des Bandes, den Mörchen in seinem letzten Kapitel und im Schluss formuliert, noch klarer zutage: In der Praxis wie in den Diskursivierungen des Schwarzmarkts ist eine Kontinuität von Volkskörper-Rhetorik und Exklusionssemantik greifbar, die das Fortleben der Volksgemeinschaftsvorstellung über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus anzeigt und die neue „Schicksalsgemeinschaft“ der Nachkriegszeit als eine Variante älterer Interpretamente erscheinen lässt. Darüber wissen wir zwar in Ansätzen schon etwas. Mörchens materialreiche, umsichtig argumentierende und überzeugende Studie erinnert gleichwohl daran, dass eine intensive und systematische Untersuchung über Gemeinschaftsvorstellungen „nach der Volksgemeinschaft“ noch geschrieben werden muss. Sein Buch böte dafür einen idealen Ausgangspunkt.

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