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Titel
Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien


Autor(en)
Esposito, Fernando
Reihe
Ordnungssysteme - Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 32
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Luftfahrt oder Aviatik ist ein Bereich des gesellschaftlichen Lebens, der in der Gesamtinszenierung von Faschismus und Nationalsozialismus eine herausgehobene Funktion inne hatte. Sie war bislang für die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte des Faschismus eher ein Randthema und hatte tendenziell vor allem für die Militär- und Technikgeschichte Relevanz.1 Umso interessanter ist, dass Fernando Esposito die Verbindung von Aviatik, Faschismus und der Suche nach Ordnung durch ideen-, erfahrungs-, diskurs- und metaphernhistorische Ansätze zu erklären versucht (S. 17–23). Seine Studie ist vergleichend angelegt und konzentriert sich auf Deutschland und Italien. Esposito blickt auf den Faschismus als eine Bewegung, die aus der sich „im Ersten Weltkrieg radikalisierenden Sehnsucht nach Ordnung hervorging“ und „als Versuch verstehen lässt, diese Sehnsucht durch die Errichtung einer mythischen Moderne zu stillen“ (S. 14f.). Eine vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg als chaotisch wahrgenommene Welt sollte durch eine „vermeintlich sinnvolle, stabile und ewige Ordnung“ strukturiert werden. Diese Ordnung wird von Esposito als „mythische Moderne“ „aufgewiesen“ (S. 62) – gewissermaßen in „Meßkircher Sprache“. Das Hauptziel seiner Untersuchung liegt darin, diese Ordnung anhand des Aviatikdiskurses der Jahre 1909 bis 1939 zu analysieren und eine innerliche Verbindung zwischen Aviatik und Faschismus herauszuarbeiten.

Nach den methodischen und begrifflichen Reflexionen in der Einleitung seiner ursprünglich als Dissertation eingereichten Untersuchung teilt Esposito seine diskursive Fährtenlese in drei Teile ein. Im ersten Abschnitt („Sehnsucht nach Ordnung“, S. 65–146) betrachtet Esposito die weitverbreitete und durch den Ersten Weltkrieg radikalisierte „Sehnsucht nach Ordnung“. Darin unternimmt er den Versuch, anhand Aby Warburgs, einem „paradigmatischen liberalen Intellektuellen“, einen idealtypischen liberalen Ordnungsentwurf zu konturieren. Vor dessen Hintergrund stellt er dann den faschistischen Entwurf der Moderne kontrastierend vor. Im zweiten Teil („Brüchige Ordnung“, S. 147–312) wendet Esposito das Augenmerk weg von den Intellektuellen, hin zur Massengesellschaft „und auf jene Kanäle, mittels derer die mythische Ordnung […] in sie hinein [also in die Massengesellschaft] diffundierte“ (S. 62). Mit Blick auf Flugschauen, Ausstellungen und fliegerische Heldenbilder versucht der Autor zu zeigen, wie sich „eine Deutung des Fliegers als Überwinder und Übermensch herausbildete, die sich sowohl in der Hoch- als auch Populärkultur etablierte“ (S. 62f.). Im dritten Untersuchungsabschnitt („Ewige Ordnung“, S. 313–432) soll die von den Faschisten anvisierte „ewige Ordnung“ beispielsweise an Jüngers „monumentalistischer Historie“ und anhand von Luftfahrtausstellungen, für die der Krieg zum Anfang einer neuen Zukunft wurde, fassbar gemacht werden. Abschließend (Kap. III.2) unternimmt Esposito den Versuch zu erklären, inwiefern der faschistische Neuordnungsversuch als Mythos zu verstehen sei und „wie dieser als eine Antwort auf die Krise der Vernunft als auch die Krise des Historismus fungierte“ (S. 63).

Anschaulich und detailliert arbeitet Esposito heraus, wie die Faschisten versuchten, sich einer neuen Sprache zu bemächtigen, sie zu vereinnahmen und ihre Entwicklung mitzubestimmen: die Sprache der Aviatik. Esposito versucht, die fliegerische Fachsprache gesondert neben der literarischen Verarbeitung des Sujets zu verorten. Dazu geht er von den Beschreibungen bekannter Zeitgenossen wie z.B. von Franz Kafka ebenso aus wie von den im Zusammenhang mit der italienischen Luftfahrtausstellung „Esposizione dell’ Aeronautica italiana“ von 1934 produzierten Texten. Dabei wird deutlich, dass es gerade die deutschen und italienischen Faschisten waren, die bei der Etablierung der neuen aviatischen Sprache und des gesamten literarischen Genres eine führende Rolle einnahmen. Spätestens an dieser Stelle allerdings drängt sich aber die Frage nach den politischen Gegnern und deren Verhältnis zur Aviatik auf. Wie sahen Demokraten, Sozialisten und vor allem Kommunisten die Aviatik und ihren Beitrag zur „mythischen Moderne“?

Es hat den Anschein, dass sich die deutschen Kommunisten (vor 1945) bewusst nicht diesem mythischen Technizismus hingaben und dieses Terrain unverrichteter Dinge den Nationalsozialisten überließen. Dafür ein Beispiel: 1928 wurde in Deutschland die erste erfolgreiche Non-Stop-Überquerung des Atlantiks von Europa nach Amerika mit einer deutschen Junkers W33 „Bremen“ gefeiert. In der Bremer Bürgerschaft blieb die kleine kommunistische Fraktion als einzige auf ihren Plätzen sitzen, während alle anderen die Flieger mit Begeisterungsstürmen feierten. Die Kommunisten wollten, so ihre Begründung, nicht die fliegerische Leistung der drei Männer in Frage stellen. Vielmehr sei es ihnen darum gegangen, mit der Verweigerung der Ehrbezeugung die „künstlich erzeugte Begeisterungswelle für den erstarkenden neudeutschen Imperialismus, dem Geist des Chauvinismus, entgegentreten“2. Hatten also die Kommunisten Ende der 1920er-Jahre bereits die Fliegerei den deutschen Rechten und Konservativen Kräften überlassen?

Esposito widmet den seiner Untersuchung zugrundeliegenden theoretischen Vorannahmen großen Raum und lässt sie „auf der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers“ fußen (S. 17). Daher muss eine Rezension diesen Punkt aufnehmen. Hermeneutische Philosophie betonte stets die Überlegenheit der Methodik des deutenden Verstehens gegenüber dem Erklären. Dadurch sollen Einsichten möglich sein, die sonst nicht zu erreichen wären.3 Die moderne Hermeneutik bezieht sich vor allem auf Nietzsche, Heidegger und eben Hans-Georg Gadamer. Nietzsche gilt als einer der Urheber dieser „Philosophie more philologico“, nach der die Welt wie ein Text erschien, der auszulegen sei.4 Daher spielt Nietzsche in Espositos abschließenden Ausführungen, die eher einem literaturkritischen Essay als dem Abschlusskapitel einer historischen Untersuchung ähneln, eine zentrale Rolle (z.B. S. 414–417). Immaterielle Entitäten, wie Ideen, Aussagen oder Begriffe, erhalten hier eine eigene ontologische Dignität.5

Dies zeigt sich in Aussagen wie der, dass die italienische Luftfahrtausstellung „L’Esposizione dell’ Aeronautica italiana“ die „faschistischen Vorstellungen in die Besucher ein[schrieb]“ (S. 386). Hier kommt Epositos Grundannahme deutlich zum Ausdruck, nach der Menschen (autonome?) Akteure in einer textlich generierten Matrix seien. Er kann demzufolge auch erklären, dass die „mythische Ordnung […] sich als gewalttätig[er]“ (S. 145) erweisen sollte. Aber, und dies zeigt z.B. der praxeologische Ansatz überdeutlich: Nicht Ordnungen, Mythen oder Texte sind gewalttätig, sondern Menschen.6

Hinzu kommt, dass diese Untersuchung über die Fliegerei schreibt, ohne über die eigentliche Fliegerei zu reflektieren, da diese allein als diskurs- und metaphernhistorisches Erkenntnisvehikel, als eine „Chiffre“ (S. 15) dient. Ein „notwendige[r], innige[r], geistige[r] Nexus“ zwischen Faschismus und Aviatik (S. 13f.) wird auf diesem Wege nicht zwingend deutlich. Denn derartige Verbindungen versuchte sowohl der deutsche als auch der italienische Faschismus, vor allem nach deren „Machtübernahme“, auf so gut wie allen Gebieten zu konstruieren und zu etablieren (etwa Seefahrt, Motor- und Reitsport etc.). Mit anderen Worten: Die Gefahr, hier den faschistischen Konstruktionen und Erzählungen zu weit zu folgen, ist groß. Dies gilt insbesondere für die Konstruktion eines „neuen Deutschlands“ – also der realisierten „neuen [„ewigen“] Ordnung“ schlechthin. Diese suggerierte, dass es tatsächlich etwas „Neues“ gab, suchte damit aber zu kaschieren, dass die neue Ordnung immer in den vermeintlich überwundenen Strukturen wurzelte. Auch wenn Esposito methodisch-systematische Ansprüche macht (etwa S. 17–23), unterliegt seine Untersuchung doch letztlich den gleichen argumentativen Schwächen wie seinerzeit Gadamer, der seine Argumentation „zugunsten seiner Thesen […] in Ausflüge in die Geistesgeschichte [einbettete], die es kaum erleichtern, sie so zu rekonstruieren, dass man ihre Triftigkeit beurteilen kann“7. Mais que sais-je!

Anmerkungen:
1 Eine Ausnahme bildet die Magister-Arbeit Frank Roggenbuchs, die den Fokus auf der Luftfahrt als Mittel der NS-Propaganda legt. Vgl. Frank Roggenbuch, Institutionen, Methoden und Themen der Luftfahrt- und Luftwaffenpropaganda in den ersten Jahren des „Dritten Reiches“, Magister-Arbeit Humboldt-Universität zu Berlin, 2004.
2 Nachlass Heinke Heinks – politischer Lebenslauf (ohne Datum, vermutl. 1960), in: SAPMO-BArch, SgY 30/0364, Bl. 110 f.
3 Vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965.
4 Vgl. hierzu etwa Jürgen von Kempski, Aspekte der Wahrheit (1956), in: ders.: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1992, S. 401ff.; Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, bes. S. 36–41.
5 Aktuell findet sich diese Sichtweise erweitert und modifiziert in der Debatte um die Philosophie der „Sinnfelder“ wieder. Vgl. hierzu aktuell Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013.
6 Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
7 Albert, Kritik, S. 39.