S. Heim u.a. (Hrsg.): „Wer bleibt, opfert seine Jahre…“

Titel
„Wer bleibt, opfert seine Jahre, vielleicht sein Leben“. Deutsche Juden 1938-1941


Herausgeber
Heim, Susanne; Meyer, Beate; Nicosia, Francis R.
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden 37
Erschienen
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Stiftung Topographie des Terrors, Berlin

Wie hat die jüdische Minderheitsbevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland auf die staatlich organisierte Vertreibung in der Zeit zwischen 1938 – mit dem Höhepunkt der Novemberpogrome – und 1941 – dem Beginn der Massendeportationen – reagiert? Wie vollzog sich in diesen Jahren der „Wandel in der Judenpolitik – der Übergang von der Segregation hin zur Zwangsumsiedlung innerhalb des deutschen Territoriums, von der Abschiebung über Landesgrenzen bis zu den frühen Deportationen“ (S. 13)? Wie sahen in diesem Zeitraum individuelle und kollektive Folgen der Pogrome und die Lageeinschätzungen, Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der jüdischen nationalen und internationalen Organisationen aus, die Verfolgten in Sicherheit zu bringen? Diese Fragen stehen im Zentrum des hier anzuzeigenden Sammelbandes, der die Beiträge des internationalen Workshops „Jüdische Perspektiven auf die Jahre der ‚forcierten Auswanderung‘ bis zur Ghettoisierung und Deportation der Juden aus dem Deutschen Reich (1938/39 bis 1941)“ enthält, der im Mai 2009 am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden stattgefunden hat.

Als Hinführung zu den Themen geht eingangs die Mitherausgeberin Beate Meyer auf den „Traum von einer autonomen jüdischen Verwaltung“ ein und stellt die Dilemmata der – überwiegend männlichen – Verantwortlichen der dem Reichssicherheitshauptamt unterstehenden Reichsvereinigung der Juden in Deutschland dar.1 Die führenden Funktionäre besaßen hohes Verantwortungsbewusstsein und wollten „Schlimmeres verhüten“, aber sie unterlagen auch einer Selbstüberschätzung. Die Hoffnung gaben die meisten von ihnen nicht auf, „bis sie selbst ermordet wurden“ (S. 38).

Zu den interessantesten Beiträgen zählt die geschlechtergeschichtliche Studie von Kim Wünschmann zum männlichen Selbst- und Rollenbild der im Zusammenhang mit den Novemberpogromen in Konzentrationslager verschleppten jüdischen Männer. Die an der University of London an einer Dissertation und im dortigen Forschungsprojekt „Before the Holocaust: Concentration Camps in Nazi Germany, 1933-1939“ arbeitende Historikerin hat nach Auswertung von Erinnerungsberichten, Briefen und Interviews unter anderem die Frage untersucht: „Wie konstituiert sich jüdische Männlichkeit im Kontrast zu der der SS-Täter?“ (S. 48) Als ein Ergebnis konstatiert sie das „Beschwören einer militarisierten Männlichkeit“ (S. 54) und eine „Pathologisierung der Täter“. Damit wollten die gedemütigten jüdischen Häftlinge die SS-Gewalttätigkeit als ein „Zeichen mangelnder Geisteskraft und […] schlechter Erziehung“ erklären (S. 51). Man darf auf den Abschluss der Forschungen von Wünschmann gespannt sein.

Weitere wichtige Aspekte aus den drei Jahren der Judenverfolgung werden in weiteren Beiträgen thematisiert. Andrea Löw untersucht die frühen Deportationen 1939-1941 und insbesondere das „Aufeinandertreffen von West- und Ostjuden unter den katastrophalen Bedingungen der Gettos im besetzten Polen“ (S. 60). Von Maria von der Heydt wird die Auswanderung von „jüdischen Mischlingen“ und von Jana Leichsenring der Raphaelsverein zur Unterstützung der Auswanderung von katholischen „Nichtariern“ behandelt. Ergänzend hat sich Dorothea Hauser mit den Aktivitäten des Sekretariats des Hamburger Bankhauses M.M. Warburg & Co. als Zentrum eines Netzwerkes für die Unterstützung der Auswanderung befasst.

Vom Mitherausgeber Francis R. Nicosia wurde eine vergleichende Betrachtung der zionistischen Auswanderungsbestrebungen beigesteuert, die drei Elemente der NS-Auswanderungspolitik bildeten: Zu den Eckpfeilern gehörten das Haavara-Abkommen, die jüdischen Umschulungsprogramme (Hachschara) und die illegale jüdische Auswanderung nach Palästina (Aliya-beth). Anhand seiner drei Untersuchungsgegenstände kann Nicosia einige Widersprüche zwischen der Ideologie des NS-Regimes auf der einen und der Umsetzung dieser Ideologie auf der anderen Seite verdeutlichen. Grundsätzlich dominierten Nützlichkeitserwägungen gegenüber der Ideologie: Nach dieser sei das jüdische Vermögen dem deutschen Volk gestohlen worden und dennoch ermöglichte das Haavara-Abkommen den Transfer jüdischen Vermögens nach Palästina. Juden könnten angeblich keine „anständige Arbeit“ leisten und dennoch wurden die Hachschara-Programme als Mittel zur Vorbereitung auf landwirtschaftliche Arbeit anerkannt. Schließlich funktionierte die illegale Auswanderung nach Palästina über die 1941 einsetzenden Massendeportationen und den Genozid hinaus während des ganzen Krieges, in der Nachkriegszeit bis zur Gründung des Staates Israel 1948.

Die behandelten Themen und der Aufsatz der Mitherausgeberin Susanne Heim über die internationalen Hilfsorganisationen sind wichtige Voraussetzungen zum Verständnis der in den folgenden Beiträgen dargestellten Geschichte von kollektiven Auswanderungen. Die spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 abrupt endenden individuellen Emigrationsbemühungen hatten die Entwicklung solcher Pläne forciert. Beispielhaft wird auf die kontinentalen Fluchtziele Niederlande und Belgien (Frank Caestecker) sowie Schweden (Clemens Maier-Wolthausen) eingegangen. Hagit Lavski hat die Flucht nach Palästina, Großbritannien und in die USA untersucht. Ergänzend wird auf Argentinien (Philipp Mettauer), die Dominikanische Republik (Marion Kaplan) und die Philippinen (Bonnie M. Harris) eingegangen. Abgerundet wird der Sammelband durch Debórah Dworks „Plädoyer, die Geschichte der Emigration in die Geschichte des Holocaust zu integrieren“ (S. 20). In diesen Beiträgen kommen zahlreiche neue und interessante Aspekte zur Sprache, zum Beispiel wenn der dominikanische Rassist und Diktator Raffael Trujillo der Dominican Republic Settlement Association (DORSA) ermöglichte, aus Deutschland und Europa geflohene Juden und Jüdinnen in dem von ihm beherrschten Land anzusiedeln. Einer der an der Übereinkunft Beteiligten fasste seine Gefühle pointiert so zusammen: „Wenn ein Mörder dein Leben rettet, musst du dem Mörder dankbar sein.“ (S. 249)

In den 16 Beiträgen werden wichtige Facetten der Geschichte der von Deutschland ausgehenden Judenverfolgung bis in zahlreiche interessante Verästelungen sichtbar gemacht. Die stammen von eingeführten Fachleuten und dem wissenschaftlichen „Nachwuchs“ zuzurechnenden Personen. Es werden die zahlreichen Bemühungen, zwischen 1938 und 1941 dem Genozid zu entkommen und weithin unbekannt gebliebene Aspekte der Verfolgungsgeschichte bearbeitet. Aufgefallen ist, dass mehr Autorinnen (11) als Autoren (4) an dem Workshop und diesem Sammelband mitgewirkt haben. Den Workshop-Veranstalterinnen Beate Meyer (Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg), Susanne Heim (Editionsprojekt „Judenverfolgung 1933-1945“) und Anna Hájková (University of Toronto) – die nicht in dem Sammelband vertreten ist – ist es außerordentlich gut gelungen, die Themenpalette durch ausgewiesene Fachleute aus dem In- und Ausland dem deutsch- (12 Beiträge) und englischsprachigen (4) Publikum nahe zu bringen.

Anmerkung:
1 Vgl. Beate Meyer, Tödliche Gradwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang und Selbstbehauptung und Verstrickung (1939-1945) (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Band 38), Göttingen 2011.

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