J. Schmiedl (Hrsg.): Geschichte der sächsischen Franziskanerprovinz

Titel
Geschichte der Sächsischen Franziskanerprovinz. Von der Gründung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Bd. 3: Vom Kulturkampf bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts


Herausgeber
Schmiedl, Joachim
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1044 S.
Preis
€ 168,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Unterburger, Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der vorliegende Band ist der erste einer auf fünf Teile konzipierten umfangreichen Gesamtgeschichte der franziskanischen Provinz „Saxonia“ (seit 1230), die in dieser Ausführlichkeit und Qualität in der Ordensgeschichtsschreibung bislang einzig dastehen dürfte. Sie kann in unterschiedlichem Maße auf die Vorarbeiten des 1988 gegründeten „Instituts für franziskanische Geschichte (Saxonia)“ zurückgreifen und wurde nun durch die Zusammenarbeit zwischen Franziskanern und Historikern außerhalb des Ordens realisiert.

Die Darstellung umfasst die Zeit des 19. Jahrhunderts, in der in Westfalen einige Klöster die Säkularisation überdauerten, und, besonders nach 1848, ein enormer Aufschwung mit zahlreichen Neugründungen einsetzte. Außerdem behandelt sie die Zeit des Kulturkampfs, in dem 1875 bis 1887 alle Konvente aufgehoben wurden und ins Exil gehen mussten. Der Kulturkampf bremste das Wachstum mittelfristig nur, wie die weiter aufstrebende Entwicklung des Ordens vor dem ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit zeigt. Der Band thematisiert zudem die Erfahrungen der beiden großen Kriege, aber auch die Zeit der allmählichen Auflösung des katholischen Milieus und des Zweiten Vatikanischen Konzils bis zur Gegenwart. Die Provinz lag zum Großteil in Westfalen und bis zur Abtrennung der „Rhenania“ (1929) auch im Rheinland, erstreckte sich darüber hinaus bis in den Osten Deutschlands hinein (die „Silesia“ wurde 1902 unabhängig, 1986 endgültig wiedervereinigt) und dehnte sich mit Neugründungen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewusst zunehmend auf das Gebiet der norddeutschen Diaspora aus.

Der Band hat einerseits den Charakter eines Handbuchs, das zu Häusern, Institutionen, Seelsorgemethoden und Personen einen umfassenden Überblick liefert, weshalb sich Doppelungen wohl nicht ganz haben vermeiden lassen. Er kann, und hierin liegt wohl die noch größere Bedeutung, aber auch als eine facetten- und implikationsreiche Geschichte der Seelsorge und seelsorglichen Methoden, Strategien und Umbrüche gelesen werden. Schließlich waren die Franziskaner ein Seelsorgeorden, der auf Bereiche spezialisiert war, die durch die territorialen Pfarreien unzureichend erfasst wurden, als besonders schwierig betrachtet werden können oder in denen die Chance einer Vertiefung bestand.

Lange hatte der Orden mit staatlichen Restriktionen und protestantischen Ressentiments zu kämpfen. Er spezialisierte sich auf Volksmissionen, die in den Predigten auf eine Bekehrung der Sünder, auch Fernstehender („Rette Deine Seele!“), und auf Generalbeichten und Beichten „Überjähriger“ zielten, auf die Wallfahrtsseelsorge (Werl, Neviges, St. Annaberg, Hülfensberg), auf Exerzitien, die ebenfalls der geistlichen Vertiefung, Hinführung zur Beichte und persönlichen Heiligung dienten, und teilweise auf Pfarreiarbeit und andere Spezialgebiete der Seelsorge (Beichtzentren, Predigten, Vorträge, die Polenseelsorge im Ruhrgebiet). Hinzu kamen außerdem Zeitschriften und andere Arten der Publizistik, ebenfalls zum Großteil mit pastoraler Ausrichtung, und auch die Missionen (Ferner Osten, USA, Brasilien, Afrika). Im „Dritten Orden“ sollten auch Laien im Geist des Ordens „geheiligt“ werden; der Nachwuchsrekrutierung dienten die Internate (besonders im 20. Jahrhundert St. Ludwig/Vlodrop) und die ordenseigene Ausbildung. Die Ordensbrüder widmeten sich dem Handwerk und anderen Diensten zur Versorgung der Häuser. Die Provinz, in der lange ein streng asketisch-observanter Geist (die Kulturkampfniederlassung Harreveld in den Niederlanden war hierfür ein Synonym) herrschte, trug somit einen erheblichen Anteil an der Formierung, Stabilisierung, aber auch Vertiefung und Intensivierung des katholischen Milieus und der kirchlichen Bindungen. Als Beichtväter und Seelsorger waren die Franziskaner im katholischen Milieu beliebt; nicht nur bei der Exilierung 1875 kam es zu zahlreichen Solidaritätsbekundungen.

Interessant ist nun, in der zweiten Hälfte des Werks zu verfolgen, wie sukzessive die einzelnen Elemente dieses Systems in die Krise gerieten, aber auch wie man im Orden um neue Konzepte und ein neues Selbstverständnis rang, Experimente durchführte und die Seelsorge und den eigenen Lebensentwurf, vor allem seit den 1960er-Jahren, umzustellen suchte. Entwicklungen und Tendenzen der Säkularisierung und der pastoralen Erneuerung lassen sich auf der Ebene des Ordens viel sensibler studieren als auf der Ebene der eher kontinuierlichen und weniger flexiblen Pfarreien. Zunächst erreichten die traditionellen Volksmissionen nicht mehr jene breiten Schichten, die man gewinnen wollte; das Modell des Dritten Ordens verlor an Popularität und dessen Mitglieder überalterten; eine erste Nachwuchskrise betraf die Laienbrüder. Die Bildungsreformen ließen dann die Internatsausbildung und damit den Hauptpfeiler der Ordensrekrutierung ins Wanken geraten. Allmählich überalterte und schrumpfte der Orden, bis sich 2010 alle vier deutschen Franziskanerprovinzen zu einer einzigen zusammenschlossen.

Auf einer tieferen Ebene wurden aber auch die seelsorglichen Ziele (Heiligung, Bewahrung vor kirchenfeindlichen Kräften) in Frage gestellt. Sensibilitäten für die Nöte der Gegenwart und die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums ließen Kategorien wie Zeugenschaft, Solidarität, Friedensarbeit und individuelle Begleitung zentral werden. Neue Formen des gemeinschaftlichen Lebens wurden, gerade in nun immer wichtiger werdenden kleineren Kommunitäten, erprobt. Damit war das eigene Selbstverständnis neu zu definieren. Einerseits war man, wie die Gesellschaft, von Individualisierung und Modernisierung wie selbstverständlich geprägt. Bildung in einem umfassenden, lebenslangen Sinn, aber auch konkret im Sinne einer professionalisierteren Ausbildung wurde tendenziell wichtiger und man suchte Anschluss an das universitäre Niveau. Das Beispiel des Ordensstifters wurde historisch-konkreter, aber auch aktualisierender, immer mehr als normatives Leitbild reflektiert. Sich selbst setzte man zum Ziel, Armut, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität in den Kommunitäten zeichenhafter und radikaler zu leben; Hierarchien sollte abgebaut und Leitung partizipativer ausgestaltet werden. Bei sinkenden quantitativ messbaren Erfolgen lag darin eine Tendenz zur Überforderung, zu Spannungen und Identitätskrisen.

Die Art und Weise, wie man im Orden realistisch darüber reflektierte, nüchtern neue Wege einschlug, Dialog und spirituelle Neuorientierung suchte, wird dem Leser deshalb, bei tieferem Durchdenken der komplexen Infragestellung, Bewunderung einflößen müssen. Wer sich jedenfalls die Mühe der Lektüre des umfangreichen Werks macht, wird zahlreiche Einblicke in die Geschichte der Frömmigkeit und der Seelsorge in der deutschen katholischen Kirche in den letzten 150 Jahren erhalten. Die Breite und der Detailreichtum regen jedenfalls zu weiterführenden Fragestellungen und Untersuchungen unter religionssoziologischen und pastoralgeschichtlichen Prämissen an.