G. Eikenberg: Der Mythos deutscher Kultur

Cover
Titel
Der Mythos deutscher Kultur im Spiegel jüdischer Presse in Deutschland und Österreich von 1918-1938.


Autor(en)
Eikenberg, Gabriel
Reihe
Haskala Wissenschaftliche Abhandlung 40
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Siegel, Institut für die Geschichte der Deutschen Juden, Hamburg

Die Zentralität der deutschen Sprache und Kultur, die sich für das deutsche bzw. österreichische Judentum aus den Emanzipations- und Akkulturationsprozessen des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, nimmt Gabriel Eikenberg zum Anlass, um die „Prägekraft, Konstanz und Wandlungsfähigkeit des Mythos deutscher Kultur über einen Zeitraum, der von tiefgreifenden Einschnitten begleitet war“ (S. 12), zu untersuchen. Dabei sieht Eikenberg im Rückbezug auf die deutsche Kultur in der Zeit von 1918 bis 1939 ein interessantes Beispiel für die Etablierung eines politischen Mythos. Nach Eikenbergs Definition zeichnet sich der politische Mythos durch seine Funktion des historischen Erinnerns, der Idealisierung einzelner Leitbilder sowie der sinnstiftenden Bestimmung eines Wertesystems aus. Dies nimmt er zum Ausgangspunkt, den Mythos „deutsche Kultur“, der nicht so einfach den klassischen Personen-, Ereignis-, Raum- oder Zeitmythen zuzuordnen ist, genauer zu untersuchen. Der grundlegende Ansatz seiner Untersuchung liegt daher in einer kurzen Herleitung der theoretischen Grundkategorie, einer Bestimmung des Mythos „deutsche Kultur“ und einer historischen Analyse der Kategorie im Spiegel der Printmedien.

Daraus folgend umreißt Eikenberg die staatlichen Situationen nach 1918 und geht den Fragen zur Ausbildung des Mythos der „deutschen Kultur“ im jüdischen Kontext Deutschlands und Österreichs anhand einer genauen Presseauswertung nach. Er unterstreicht dabei die enge Verbindung zwischen Bildungskultur und Bürgertum und zeigt auf, wie eng die Integrationsangebote und -forderungen in beiden Ländern verknüpft waren. Bildung als Integrationsinstrument spielte für die jüdische Presse der beiden Länder eine zentrale Rolle, die selbst durch die Zäsur von 1918 nicht vermindert werden konnte. Die Presseorgane sind dabei für Eikenberg die „symmetrischen und synchronen Vergleichseinheiten“ (S. 59) anhand derer er den Grad der Identifikation mit und die Prägekraft von „deutscher Kultur“ nachzuweisen versucht. Damit rückt er besonders den medialen Widerhall der deutschen Kultur im jüdischen Kontext ins Zentrum seiner Untersuchung.

Eikenbergs Analyse zufolge lösten die Republikgründungen in Deutschland und Österreich eine tiefgreifende Verunsicherung sowie eine umfassende Beschäftigung mit dem eigenen Selbstverständnis aus. Dennoch kam es trotz dieser Schwierigkeiten zu keiner gravierenden Erschütterung des deutsch-jüdischen Selbstverständnisses, sondern zu einem bewussten Festhalten an eben diesem. Durch eine breite Analyse der liberalen, orthodoxen und zionistischen Presse verdeutlicht Eikenberg, dass zum Beispiel die ersten Jahre der österreichischen Republik nicht durch eine verstärkte Habsburg-Nostalgie geprägt waren, sondern vielmehr durch ein deutliches Bekenntnis zur Republik bzw. zum österreichischen Staat und Selbstverständnis bestimmt waren. Auch in Deutschland weist Eikenberg eine solche nationale Loyalität nach, wobei sich hier eine breitere politische Parteienbindung, das heißt nicht nur zur Sozialdemokratie wie es in Österreich der Fall war, sondern auch zum Zentrum oder zu den verschiedenen liberalen Parteien abzeichnete. Zusätzlich weist Eikenberg nach, dass die neue Qualität des Antisemitismus, obwohl nicht immer eine einheitliche jüdische Reaktion in der Presse bestimmend war, in Deutschland und in Österreich eine entscheidende Rolle spielte.

Als eine Reaktion darauf wurden vor allem in den späten 1920er-Jahren Goethe, Lessing und Schiller zu Fundamenten der deutschen Kultur stilisiert und eng mit den jüdischen Traditionen verwoben, um die Verbundenheit und die gemeinsame Erinnerung bzw. Vergangenheit von Juden und Nicht-Juden herauszustellen. Besonders der Rückgriff auf die Emanzipationsdebatten sowie auf die Figur Moses Mendelssohn als Symbol dieser Zeit waren Reaktionen auf die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Der Rückblick auf die idealisierte deutsche Kultur wirkte für die österreichischen/Wiener bzw. deutschen Juden in einer Zeit bestärkend, in der sich die Grundlagen des eigenen Selbstverständnisses aufzulösen begannen. Obwohl in Deutschland viel deutlicher unterschiedliche Stimmen in der jüdischen Presse hervortraten, stellt Eikenberg fest: „Aussage und Inhalte des Mythos stimmen überein. Form und Zuschnitt, Repräsentanten und erzählerische Elemente des Mythos waren in beiden Ländern identisch“ (S. 180). Die Funktion der Selbstvergewisserung trotz divergierender Zukunftseinschätzungen sowie die Idealisierung vielleicht sogar Sakralisierung der deutschen Kultur bildeten die Wurzeln der Beharrungskraft des untersuchten Mythos in beiden Ländern.

Durch den Aufstieg des Nationalsozialismus verlor Deutschland in der österreichisch-jüdischen Presse den Status als „Kulturland“ und Fragen nach dem gesellschaftlichen Selbstverständnis Österreichs wurden deutlich diskutiert. Trotz dieser Konfrontation wurde die deutsche Kultur in der jüdischen Presse als Basis eines eigenständigen Österreichs nicht in Frage gestellt. Vielmehr kam es auf dem Hintergrund des Verfalls der deutschen Demokratie zu einer vermehrten Idealisierung der Habsburgerzeit sowie zu einer Betonung eigenständiger österreichischer Charakter- und Wienbilder sowie zu einer Hervorhebung österreichisch-jüdischer Persönlichkeiten. Damit, so Eikenberg, spiegeln die Presseorgane die Unsicherheit der österreichischen Juden wider und belegen die österreichisch-jüdische Hoffnung auf die Kontinuität der Werte von Pluralität und Toleranz auch in schwierigen Zeiten der österreichischen Republik. Die viel direktere Konfrontation mit dem Nationalsozialismus in Deutschland führte zwar ebenfalls zu einer Sakralisierung der „deutschen Kultur“, aber auch zu einer Neubewertung des Judentums. Deutlich kann Eikenberg die vielfältigen Spannungen aufzeigen und nachweisen, dass das Scheitern des Bürgertums auch als Ende des jüdischen Emanzipationsweges wahrgenommen wurde und es damit zu einer Erosion des Mythos der „deutschen Kultur“ kam.

Die Umwandlung der ersten österreichischen Republik in einen autoritären Ständestaat beeinflusste deutlich die jüdische Presselandschaft. Eikenberg verdeutlicht anschaulich, dass trotz des ansteigenden Antisemitismus und den politischen Restriktionen die österreichisch-jüdische Presse fortdauernd die Loyalität zu einem unabhängigen Österreich bekundete. Die Konfrontation mit einem völkischen Nationalismus und einer politischen Radikalisierung führte aber zu einer Verklärung der k.u.k. Monarchie bzw. zu einem Rückgriff auf die schon beschriebene Österreichbilder. In Deutschland dagegen brach mit der politischen Institutionalisierung des Antisemitismus unter den Nationalsozialisten der Mythos der „deutschen Kultur“ in sich zusammen. Dabei stellt Eikenberg klar, dass das Jahr 1933 nicht die eigentliche Zäsurgrenze darstellt, sondern es bereits in den frühen 1930er-Jahren zu schleichenden Veränderungen gekommen war. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 ließen schließlich keine Diskussion über eine jüdische Zukunft in Deutschland mehr zu und beendeten die bis dahin noch bestehenden inner-jüdischen Debatten. Die „Emanzipation stand von nun an für ein abgeschlossenes Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte“ (S. 297), so Eikenberg.

Abschließend stellt Eikenberg fest, dass, obwohl unterschiedliche inner-jüdische Strömungen existierten und mitunter auch einen anderen Erwartungshorizont propagierten, deutsche und österreichische Juden die „Weggemeinschaft deutscher Juden mit dem Bürgertum und seinen politischen Repräsentanten“ (S. 353) als entscheidend ansahen. Damit und durch die Verknüpfung jüdischer Traditionen mit der deutschen Kultur konnte ein gemeinsames Bewusstsein generiert und die Basis für den politischen Mythos „deutsche Kultur“ gelegt werden. Erst die Nürnberger Rassegesetze bzw. der Anschluss Österreichs destabilisierten endgültig den Mythos der „deutschen Kultur“, der nur teilweise in der Emigration überleben konnte.

Die Stärke von Eikenbergs Forschungsbeitrag liegt sicherlich in seiner intensiven Auswertung der jüdischen Zeitungen und Zeitschriften sowie der eingehenden Darstellung der Entstehung und Entwicklung des Mythos der „deutschen Kultur“. Durch seine detaillierte Analyse kann er interessante Erkenntnisse bestätigen bzw. neu herausarbeiten, wie zum Beispiel die späte Verklärung der Habsburgerzeit, die neuen Aufgaben der Presse oder die lange Stabilität des Mythos der „deutschen Kultur“. Diese Stärke birgt aber gleichzeitig auch eine Schwäche der Untersuchung, da Eikenbergs Analyse in der schier unendlichen Detail- und Zitatenfülle zeitweise unterzugehen droht und die knappen Analysen den Leser mit einem reichhaltigen Text zum Teil allein zurücklassen. Neben der Gegenüberstellung der deutsch- und österreichisch-jüdischen Presse wäre sicherlich die weiterführende Auswertung der gegenseitigen Beeinflussungs- und Abgrenzungsmechanismen der beiden Presselandschaften wünschenswert gewesen, aber Eikenberg – wahrscheinlich zurecht – überlässt dies einer weiteren Forschungsarbeit. Trotz dieser Kritik gibt die Arbeit Eikenbergs einen intensiven und quellennahen Einblick in die zeitgenössischen deutsch- bzw. österreichisch-jüdischen Debatten und Diskurse und gewährt dem Leser die Möglichkeit, die Entstehung, Bewahrung und Aufgabe des Bildes der deutschen Kultur für das jüdische Selbstverständnis in beiden Ländern nachzuvollziehen.

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