Titel
Bismarck. A Life


Autor(en)
Steinberg, Jonathan
Erschienen
Anzahl Seiten
577 S.
Preis
$ 34.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Cholet, Historisches Seminar, Universität Leipzig

„Bismarck. A life“: Der Titel dieses englischsprachigen Buches verspricht eine monumentale Bismarck-Biografie. Die Vita des Autors Jonathan Steinberg lässt auf ein hohes Niveau hoffen, hat der Professor doch nicht nur in Cambridge und Pennsylvania gelehrt, sondern auch schon mehrere Werke zur deutschen Geschichte verfasst. Der klassische Dreiklang der deutschen Bismarck-Biografie von Pflanze, Engelberg und Gall, die nicht viele Fragen offen lassen, könnte um eine „englische Außensicht“ auf das Bismarck'sche Agieren ergänzt werden.

Das Werk besticht durch seine gute Lesbarkeit – die auch die eine oder andere Länge verzeihen lässt – und die Fähigkeit Steinbergs, auch komplexe Sachverhalte, wie zum Beispiel das europäische Mächtegefüge, für Laien verständlich zu erklären. Zuweilen weitet sich die Sympathie, die wohl jeder Biograf für seinen Protagonisten hegt, zu einer fast hagiographisch anmutenden Bewunderung des „politischen Genies“ aus, das die Realitäten seiner Zeit manipulierte (S. 5, S. 29). Die Bewunderung für den Genius Bismarcks sticht jedoch lediglich am Anfang des Werkes stärker heraus und lässt zum Ende der Untersuchung deutlich nach. Hier wird immer öfter auf die charakterlichen Schwächen und emotionalen Ausbrüche des Kanzlers eingegangen. „It shows how powerful the large self can be but it also shows the exercise of supreme political power never leaves it`s holders unchanged“ (S. 9).

Auf die Frage, wie sich das Buch von anderen unterscheide, antwortet der Autor selbst auf Seite neun, dass Ziel und Methode ein Spezifikum seien. Ziel sei es, „to explain to author and reader how Bismarck exercised his personal power”. Erreicht werden soll diese Vorgabe durch die Auswertung von Briefen und Aufzeichnungen eines jeden, der mit Bismarck in Kontakt stand – egal ob Freund oder Gegner des machtbewussten Reichsgründers. Auch Bismarcks eigene Briefe und Auszüge aus den „Gedanken und Erinnerungen” werden als Quelle herangezogen. Eine quellenkritische Begleitung bleibt jedoch zu oft, wenn auch nicht gänzlich, aus (S. 144, S. 182). An ihre Stelle tritt eine fast psychoanalytische Durchleuchtung des Geisteszustandes der verschiedenen Beteiligten, allen voran natürlich der traditionell überinterpretierten Person des Reichskanzlers selbst (S. 34). Dabei betont Steinberg das Kindheitstrauma Bismarcks, der unter einer „starken” Mutter im Vergleich zu einem eher „schwachen” Vater gelitten hätte, und projiziert dies auf sein späteres gespanntes Verhältnis zur Kaiserin Augusta (S. 469). Daneben sei Bismarck Zeit seines Lebens von weiteren persönlichen Schwierigkeiten begleitet gewesen: Seine Ehefrau Johanna habe Schwierigkeiten gehabt, ihre diplomatischen Pflichten an der Seite ihres Mannes zu erfüllen und damit in die Rolle der Diplomatenfrau hineinzuwachsen (S. 114). Steinberg gelingt es, durchaus eigene Wege in seiner Interpretation von Bismarcks Prägungen und Motivationen einzuschlagen. Wünschenswert ist jedoch, Probleme an einigen Stellen intensiver zu diskutieren, so zum Beispiel bei der Frage, ob Bismarck Leopold von Gerlach „benutzte“, um seine Ziele zu erreichen, oder ob es sich hier eher um eine „Mentoring-Konstellation“ handelte (S. 134).

Diplomatische Themen werden stets umfassend behandelt (zum Beispiel S. 195), besonders positiv sticht die Beschreibung der Lage zu Zeiten von Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten hervor (S. 171ff.). Steinberg schließt hierzu mit der These: „What had changed was not Bismarck, nor his ideas, but the atmosphere“ (S. 181). Der Qualitätsunterschied, den Steinberg zwischen der Innen- und Außenpolitik des Kanzlers konstatiert (S. 227), überträgt sich auch auf die vorliegende Untersuchung: Das Machtgefüge vor und während der Einigungskriege wird exzellent dargestellt, sogar in das sonst eher wenig durchleuchtete Gebiet der Kriegsfinanzierung (S. 230ff.) steigt der Autor tiefer ein. Innenpolitisch wird der Kulturkampf an verschiedenen Punkten immer wieder aufgegriffen und insbesondere Bismarcks Verbindung zum Gründervater der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, wird ausgeführt (S. 202). Auf der anderen Seite werden zur Innenpolitik kaum weitreichende Thesen, analog zu Aussagen wie jener, dass Bismarck der größte Diplomat des 19. Jahrhunderts gewesen sei (S. 235), aufgestellt. Zu kurzsichtig gibt sich Steinberg allzu oft mit polemischen Referenzen, etwa auf den Welfenfonds, den Bismarck angeblich vom König von Hannover „gestohlen“ habe (S. 304), zufrieden. Grenzwertig erscheint der Verweis auf eine mehr als unseriöse Internetseite, welche die Entstehung des Begriffs „Bismarckhering“ belegen soll (S. 311).

Demgegenüber steht eine bemerkenswerte Interpretation der Emser Depesche, derzufolge Bismarck nur behauptet habe, dass Napoleon III. wegen dieser in den Krieg gestürzt sei: Tatsächlich habe Frankreich den Krieg schon früher geplant („evidence suggest that France had decided to go to war earlier“, S. 289). Auch die Situation zwischen Kaiser und Kanzler wird mit erfrischender Schärfe dargestellt, so sei Bismarcks Dilemma der Machtlosigkeit doch selbstverschuldet gewesen, da er selber immer darauf bedacht gewesen sei, die Machtbefugnis des Kaisers zu erweitern (S. 361). Die Gründe für Bismarcks emotionale Ausbrüche führt Steinberg auch auf diese Situation der Machtlosigkeit besonders bei inneren Angelegenheiten zurück. „Foreign affairs, on the other hand, never provoked the rage, psychosomatic ailments, and physical exhaustion that domestic matters increasingly did“ (S. 350). Folglich habe er auf die Zurückweisungen des Kaisers besonders sensibel reagiert (S. 386). Dem „eisernen Kanzler“ aber zu unterstellen, dass er keinerlei innenpolitische Grundprinzipien gehabt habe (S. 473), erscheint angesichts des Ziels, die Misere der Reichsfinanzen zu lösen (vor allem durch Staatsmonopole und indirekte Steuern), übertrieben. Die finale These allerdings, dass die permanente Budgetkrise die Nervosität des Militärs derart steigerte, dass man 1914 den Krieg begann, um Mächte wie Russland nicht einen noch größeren Rüstungsvorsprung gewinnen zu lassen, ist folgerichtig (S. 383). Sie bedarf aber der weiteren Einordnung, da in Russland eine ähnliche Krisensituation herrschte.

Den umfassenden Anspruch einer Biografie lässt das Werk von Zeit zu Zeit vermissen, da gerade die ersten Lebensjahre des späteren Kanzlers im ersten Hauptkapitel sehr kurz abgehandelt werden und lange Passagen, wie auch das komplette zweite Kapitel, ohne Nennung des Protagonisten auskommen. Der politischen Lage und dem Zeitgeist wird gegenüber der persönlichen, biografischen Situation Bismarcks oft der Vorzug gegeben: So wird die Geburt des Sohnes Herbert nur am Rande erwähnt (S. 104), die anderen Kinder werden, wie auch die Attentatsversuche und mögliche psychologische Folgen, völlig ausgespart, während allgemeinen Themen – zum Beipiel dem Bevölkerungswachstum (S. 74) und dem ohne Zweifel bedeutsamen preußischen „Junkertum“ (S. 92) – viel Raum gelassen wird. Die spätere „Kanzlerphase“ wird naturgemäß umso ausführlicher dargestellt, lässt aber eine klare Gliederung vermissen. Thematische Unterkapitel würden dem Leser die Orientierung erleichtern und den Autor nicht in die Verlegenheit bringen, zuweilen übergangslos zwischen Themen der Innen- und Außenpolitik (S. 195) und zum Beispiel von den Börsenkursen zum Kulturkampf (S. 332) wechseln zu müssen.

Bismarcks Kanzlerschaft wird mit der Aussage kommentiert, dass der Kanzler 1890 Opfer einer ähnlichen „Palastintrige“ geworden sei, wie sie ihn seinerzeit ins Amt gehoben habe (S. 425). Abschließend betont Steinberg die Widersprüche in Bismarcks Charakter (S. 466), der ähnlich wie Napoleon immer „aufs Ganze“ gegangen sei (S. 472). Das Buch endet mit einem wohlbegründeten Ausblick auf die Weimarer Republik, in der Hindenburg weniger einen Ersatzkaiser als einen Ersatz-Bismarck dargestellt habe (S. 478). Es verbleibt in der Konsequenz ein lesenswertes und kurzweiliges Buch über Bismarck, seine Zeit und das europäische Machtgefüge des ausgehenden 19. Jahrhunderts.