A. Baggerman u.a. (Hrsg.): Controlling Time and Shaping the Self

Cover
Titel
Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century


Herausgeber
Baggerman, Arianne; Dekker, Rudolf; Mascuch, Michael
Reihe
Egodocuments and History Series 3
Erschienen
Anzahl Seiten
541 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Hildt, Seminar für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Das Interesse an Selbstzeugnissen in transkultureller und interdisziplinärer Perspektive nimmt immer mehr zu. Dies zeigt sich in zahlreichen Konferenzen, Forschungsprojekten, Dissertationen und im Erscheinen umfangreicher Sammelbände. Diese erheben den Anspruch, über die bisherige Forschung Bilanz zu ziehen und weitere Forschungsfragen aufzuzeigen.1 Der vorliegende Band hat weitergehende Ambitionen: Das Themenspektrum macht nicht bei europäischen Selbstzeugnissen halt, sondern zieht neben „europäischen“ auch bisher unbekannte japanische oder amerikanische Ego-Dokumente hinzu.

Der Sammelband basiert auf den Ergebnissen zweier Forschungsprogramme: „Egodocuments, self reflection and cultural change: the Netherlands, Switzerland and the European context, 1600-1900“ und „Controlling time and shaping the self: education, introspection and practices of writing in the Netherlands 1750-1914“. Ergänzt werden diese Ergebnisse durch weitere 21 Artikel von Autoren aus den Niederlanden, Deutschland, den USA, Frankreich, Australien England und Spanien. Unter diesen befinden sich bekannte Namen wie Peter Burke, Paul John Eakin, Peter Fritzsche oder Philippe Lejeune, aber auch Namen junger Wissenschaftler, die an den oben erwähnten Forschungsprojekten beteiligt waren.

Inhaltlich bietet der Sammelband eine Tour d’Horizon zum Themenkomplex „autobiographisches Schreiben“ seit dem 16. Jahrhundert. Den Rahmen des weiten Themenspektrums bildet die Untersuchung von Entwicklungslinien oder -sprüngen autobiographischen Schreibens sowie die Verbindung der Kategorien „Zeit“, „Raum“ und „Geschichtsbewusstsein“ seit dem 16. bis ins 20. Jahrhundert. In der Einführung von Arianne Baggerman, Rudolf Dekker und Michael Mascuch wird der Versuch unternommen, die Fülle an Fragestellungen und die unterschiedlichen Forschungsfelder aufzuzeigen. Die einzelnen Beiträge werden nicht vorgestellt, aber in einen gemeinsamen Forschungsrahmen gesetzt. Die Beiträge sind in ihrer inhaltlichen Ausrichtung so unterschiedlich, sowohl was die Ego-Dokumente als auch die Vorgehensweise und Zielsetzung angeht, dass eine genaue Zuordnung hinsichtlich Forschungsstand und -perspektiven schwierig erscheint. Die Autoren widmen sich entweder retrospektiv entstandenen Texten, wie zum Beispiel Autobiographien und Memoiren, oder aber täglichen und häufig gegenwartsbezogenen Ego-Dokumenten, wie beispielsweise Tagebüchern oder sogar Heiratsanzeigen.

Die Aufsätze sind drei thematischen Blöcken zugeordnet: Der erste, „Historicizing the Self“, untersucht die Veränderungen im Zeitempfinden und in der Geschichtsreflexion im ausgehenden 18. sowie im 19. Jahrhundert. Wie Peter Burke in seinem gleichlautenden Beitrag ausführt, war die Zeit um 1800 durch eine revolutionäre Veränderung des Denkens und Schreibens über das „Selbst“ gekennzeichnet. Für diesen Abschnitt soll der Beitrag von Lotte van de Pol, „Autobiographical Memory in the Making: Wilhelmina of Prussia’s Childhood Memoirs“ (S. 49-75), als Beispiel für eine gelungene Interpretation von Memoiren dienen. Hier wird der Quellentext – oder vielmehr die drei Versionen der Kindheitserinnerungen der Prinzessin Wilhelmine von Oranien – nicht als Informationsquelle gebraucht oder als Literatur gelesen, sondern zunächst in den historischen Kontext eingeordnet und als Beispiel autobiographischer Gedächtnisarbeit vorgestellt: „At many points in her writings, Wilhelmina reflects on the origins of her memories. In this way the construction of her autobiographical memory can be tracked, and the process itself of recalling memories and writing about them can be followed.” (S. 54) Die zeitgenössischen Diskurse werden zwar als relevant für das Verstehen des Textes eingebunden, aber das „Selbst“ der Autorin steht dennoch im Vordergrund.

Ebenfalls anregend ist die Lektüre des Beitrags von Peter Fritzsche „Drastic History and the Production of Autobiography” (S. 77-94), der die Beziehung zwischen „Geschichte“ und „Privatem“ im 19. Jahrhundert beleuchtet: „The striking production and consumption of memoirs and autobiographies in this period suggests a new way of thinking about the self and history.“ (S. 83) Dass die autobiographische “Produktion“ sich besonders in Krisenzeiten entfaltet, stellte bereits Peter Sloterdijk in seiner Studie zu den Autobiographien der 1920er-Jahre fest.2 Das 19. Jahrhundert war nach Peter Fritzsche aber nicht nur durch Krisenzeiten gekennzeichnet, sondern durch vier verschiedene Prozesse: „First, the extreme and dislocating nature of events in the revolutionary era, their representation as revolutionary in what became known comprehensively as era of revolution, and the deliberate enfranchisement of ordinary people into political mobilizations gave Europeans and Americans a heightened sense of their own participation in history. […] Second, the explosion of autobiography is related to the fact that the historical forces at work in the revolutionary period should be seen as constituting a comprehensive process in which the fate of individuals were understood to be tied together. […] Third, domestic contexts increasingly became the marker of cultural and national differences. […] Fourth, insofar as domestic homesteads became the point of transmission of national culture, ordinary people consumed history.” (S. 90ff.)

Der zweite Block des Sammelbandes ist übertitelt mit „Autobiography, Self-Presentation and Commercial Publishing“. Durch die Veröffentlichungen von Autobiographien oder Tagebüchern bei Verlagen waren die Reflexionen der Autoren über die Selbstpräsentation in der Gesellschaft verstärkt worden.3 Im 19. Jahrhundert setzte eine bemerkenswerte Entwicklung ein: Je mehr Selbstzeugnisse publiziert und gelesen wurden, desto mehr dienten sie als Beispiel für andere, zukünftige Autoren. Damit wuchs der Markt für die Verlage, die sich wiederum an Verkaufszahlen orientieren mussten. Ein Beispiel aus diesem Themenblock sollte erwähnt werden: Pieter R. D. Stokvis untersucht in seinem Beitrag „Dutch Matrimonial Advertisements from 1825 until 1925: Changing Self-Portraits and Partner Profiles“ die Entwicklung des Selbstbildes und der Partnervorstellungen seit 1825 anhand von Heiratsanzeigen, was eher einer sozialgeschichtlichen Untersuchung zuzuordnen wäre. Hier fruchtet ein interdisziplinärer Ansatz, der aufzeigt wie das „Ich“ in unterschiedlicher Deutlichkeit und Absicht hervortritt.

Der dritte Block mit der Überschrift „Controlling Time and Shaping the Self“ besteht aus einem längeren Artikel von Arianne Baggerman: „Lost Time: Temporal Discipline and Historical Awareness in Nineteenth-Century Dutch Egodocuments“ (S.455-541). Die Autorin leistet auch eine Zusammenfassung von verschiedenen Konzeptionen und Definitionen der Quellengruppe der Selbstzeugnisse (S. 457f.), bevor sie die Entwicklung der niederländischen Autobiographien im 19. Jahrhundert anhand zahlreicher Beispiele untersucht.

Der vorliegende Band verdeutlicht insgesamt das überaus reiche und anregende Spektrum gegenwärtiger Selbstzeugnisforschung. Außerdem zu loben ist das sorgfältige Lektorat, mit welchem der Band vorbereitet wurde. Überaus hilfreich sind auch die passend ausgewählten Illustrationen und Ausschnitte aus Originalquellen mit Übersetzungen (zum Beispiel S. 45f.). Der Sammelband vermag neue Impulse für weitere Projekte zu geben, die sich mit Selbstzeugnissen aus verschiedenen Jahrhunderten und Ländern beschäftigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel Kaspar von Greyerz / Hans Medick / Patrice Veit (Hrsg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), Köln 2001; Rudolf Dekker u.a. (Hrsg.), Egodocuments and History: Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages, Hilversum 2002.
2 Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München / Wien 1978, S. 11.
3 Vgl. Zum Beispiel Michael Mascuch, Origins of the Individualist Self. Autobiography and Self-Identity in England 1591-1791, Cambridge 1997.