S. Ottmann: Im Anfang war das Experiment

Cover
Titel
Im Anfang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen


Autor(en)
Ottmann, Solveig
Erschienen
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edgar Lersch, Tübungen

Dr. Hans Flesch (1896–1945) und Ernst Schoen (1894–1960) gehören zu den Pionieren des Rundfunks in Deutschland. Zuerst waren sie gemeinsam bei der Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG (SWR) in Frankfurt am Main tätig, Flesch – übrigens approbierter Arzt - als künstlerischer Programmleiter, Schoen als erster künstlerischer Assistent und Programmreferent. Flesch ging Mitte 1929 als Intendant zur „Funkstunde“ nach Berlin, musste jedoch schon Mitte 1932 im Zuge der Papenschen Rundfunkreform seinen Posten aufgeben. Schoen wurde sein Nachfolger in Frankfurt, dort jedoch bereits Anfang März 1933 zwangsbeurlaubt und wenig später entlassen. Seit den letzten Kriegstagen 1945 gilt Flesch im Raum Berlin als verschollen. Schoen emigrierte bereits 1933 nach Großbritannien, kehrte 1952 nach Deutschland zurück, konnte aber weder in der DDR noch in Bundesrepublik wieder richtig Fuß fassen.

Flesch und Schoen haben wie zahlreiche Programmverantwortliche der regionalen Rundfunkgesellschaften in Vorträgen und Publikationen über die teils noch unentdeckten Möglichkeiten des Radios sowie seine Eigengesetzlichkeiten nachgedacht und daraus praktische Schlussfolgerungen gezogen. Die beiden galten als besonders experimentierfreudig, dazu den avancierten kulturellen Milieus der Weimarer Republik gegenüber aufgeschlossen, was sie kreativ zu kombinieren wussten. Angesichts der teils gegenläufigen Hörererwartungen und enger kommunikationspolitischer, besser -administrativer Grenzen war viel Überzeugungsarbeit vonnöten, die sich in diesem publizistischen Engagement niederschlug. Das alles ist in den Grundzügen durch die intensive Forschung zum Weimarer Rundfunk bekannt und belegt.

Umfassend und systematisch sind die veröffentlichten und einige nicht publizierte Texte von Flesch und Schoen, die sich mit Besonderheiten des Hörfunks im allgemeinen, Fragen der Programmgestaltung und einigen Gattungen im Besonderen beschäftigen, jedoch noch nicht präsentiert und analysiert worden. Flesch schrieb meist zusammenfassende Grundsatzbeiträge, Schoens Einlassungen finden sich in erster Linie in aktuell auf das jeweilige Wochenangebot bezogenen Texten in den Programmzeitschriften; Schoens im Exil verfasster Text zur Rundfunkgeschichte im mediengeschichtlichen Kontext blieb unveröffentlicht.

Dieses skizzierte Textkorpus macht Oltmann zur Grundlage ihrer Untersuchung und möchte herausfinden, „wie und auf Basis welcher Überzeugungen und Visionen […] die beiden Rundfunkpraktiker […] gearbeitet“ haben. „Mit Hilfe welcher Experimente und medientheoretischen Reflexionen versuchten sie, das Medium Radio zu verstehen? Welche Programmatiken halfen ihnen, die sozialen, kulturellen und politischen Funktionen des Mediums zu ergründen und umzusetzen? Und was macht sowohl die Akteure selbst als auch ihre Arbeit beachtenswert?“ (S. 12). Bevor die Autorin sich mit diesen knappen, wenig präzisen Fragestellungen den Texten zuwendet, stellt sie auf den ersten 150 Seiten Fleschs und Schoens Lebensläufe vor. Diese sind (wie häufig) nicht nahtlos mit den in Rede stehenden Oeuvres in Zusammenhang zu bringen. Die beiden umfassenden Studien zu den Lebenswegen plausibilisieren jedoch mit Hilfe der familiären, politischen und kulturellen Kontexte die Schwerpunkte der Berufsarbeit bzw. die Argumentationslinien der Schriften, offenbaren auch manches Widersprüchliche im Persönlichkeitsbild der beiden.

Auf den übrigen 250 Seiten des Buches stellt Ottmann im zweiten Teil die eher medientheoretisch ausgerichtete Grundsatzüberlegungen und im dritten Abschnitt die Ausführungen zu programmpraktischen Fragen sowie zu einzelnen Programmgenres vor (wobei die Abgrenzung nicht immer überzeugt). Erstere handeln von der spezifischen Medialität, der „Eigengesetzlichkeit“ des Hörfunks. Hinzu kommen Plädoyers für die Notwendigkeit von Experimenten, um die Möglichkeiten des neuen Mediums austesten, es weiter ausdifferenzieren zu können. Dazu beschäftigt sich die Autorin ausgiebig mit einem der ältesten (Original-)Hörspiele des deutschen Rundfunks, der von Flesch 1924 verfassten „Zauberei auf dem Sender“. Sie kann als Metapher für chaotische Verhältnisse in der Phase des Experimentierens verstanden werden, die schließlich durch einen selbstbewussten Programmleiter mit klaren Vorstellungen über das weitere Vorgehen beendet werden. Der letzte Teil, „Rundfunk als Zeitspiegel“ überschrieben, stellt Fleschs und Schoens Programmkonzepte im engeren Sinne vor, präsentiert ihre Ansichten zum Musikangebot im Radio (mit Schwerpunkt auf dem Einsatz ‚neuer‘ Musik) und zu den Wortsendungen, so zu verschiedenen Formen des Hörspiels oder zu direkt übertragenen Reportagen mit Beteiligung der Hörer. Den damit verbundenen Intentionen der beiden Programmmacher entsprechend trägt er den Titel: „Volksbildung versus politische Aufklärung“ (S. 341).

Es ist ein Manko der Arbeit, dass die Verfasserin über weite Strecken die Überlegungen von Flesch und Schoen lediglich paraphrasiert und/oder in (über-)langen Zitaten dem Leser vorstellt. Dabei kommen Kontextualisierung, Analyse und Interpretation insgesamt zu kurz, was bei dem sehr allgemein formulierten Erkenntnisinteresse, das sich in den Leitfragestellungen manifestiert, nicht verwundert. Ausdruck dessen ist sowohl die deskriptive Zusammenfassung des zweiten Teils auf S. 263ff., die das bis dahin Vorgestellte noch einmal wiederholt, aber nicht vertieft, andererseits eine karg geratene „Quintessenz“ des dritten Teils, die lediglich die Vorstellung von einem aktuellem und politiknah ausgerichtete Wortangebot mit einem gleichgearteten zeitgenössischen Plädoyer bekräftigt. (S. 401ff.). Eine Gesamtzusammenfassung, die auf die anschlussfähigen Ergebnisse der Arbeit einginge, fehlt.

Dieser Befund macht es sehr schwierig, die Frage nach dem Forschungsertrag im Rahmen einer Rezension auf den Punkt zu bringen. Versucht man dennoch einige Grundlinien herauszuheben, kann man Fleschs und Schoens Überlegungen auf folgenden Nenner bringen: Beide waren ohne Wenn und Aber von dem mit dem Radio verbundenen Fortschritt überzeugt – entgegen allen sonst verbreiteten kultur- und technikkritischen Unkenrufen verschiedenster Provenienz. Für sie lag er vor allem in der Verbreiterung des Zugangs zur Kultur, für den Schoen das Wort von der „Kulturdampfmaschine“ prägte, die die kommunikativen Möglichkeiten der Menschen erweiterte und – was für ihn als Sozialisten wichtig war – bei richtigem Gebrauch allen Bevölkerungsschichten zugutekommen sollte. Darüber hinaus wird auf vielfältige Weise gegen die Präsentation lediglich überkommener bildungsbürgerlicher Inhalte argumentiert, wie sie im Rundfunk der Weimarer Republik stark vertreten waren. Letztere würden den Anforderungen der Zeit und der potentiellen Hörerschaft aus allen Schichten nicht entsprechen.

Wie andere Rundfunkpioniere auch, erarbeiteten Flesch und Schoen sich durch die genaue Betrachtung des technischen Vermittlungsprozesses und der damit verbundenen Rezeptionssituation Einsichten darüber, welche Auswirkungen dies auf die lediglich akustische Präsentation des ‚Programmstoffs‘ habe und welche gestalterischen Vorkehrungen deswegen zu treffen seien. Die dazu durchgeführten Experimente in der Frankfurter und der Berliner Programmgesellschaft stellten sie in ihren Publikationen vor. Daraus erwuchsen innovative Formen, teilweise auch eigenwillige Deutungen des Vermittlungsprozesses und Schlussfolgerungen daraus, wie Flesch sie etwa in Bezug auf die Musikrezeption und auch das Hörspiel formulierte. Es waren Einsichten, die auf diese oder jene Weise erst später in die allgemeine Programmpraxis Eingang fanden.

In zahlreichen Texten zum Wortprogramm wandte sich vor allem Schoen dagegen, dass die kommunikationsbürokratischen Kontrollmaßnahmen die Entfaltung der spezifischen Potentiale des Radios behinderten. Er sah dieses Potential des Mediums vor allem darin, sich aktuellen Zeitproblemen zuzuwenden, die zwangsläufig ‚politisch‘ sein mussten. Er wie Flesch haben – angesichts von kurzzeitig weniger harschen Kontrollmaßnahmen Ende der 1920er-Jahre – die Chance ergriffen, politische und gesellschaftliche Probleme im Hörfunk kontrovers anzusprechen.

Ottmann ist allseits darum bemüht, die Besonderheit ihrer beiden Protagonisten herauszustellen. Doch will das angesichts nur punktueller Bezugnahmen zum Gesamtkontext des Weimarer Rundfunks (sicherlich sehr aufwendig, aber eigentlich notwendig) und mit lediglich dilatorischem Eingehen auf andere Rundfunkpioniere bzw. -theoretiker und ihre Publikationen nicht recht gelingen. Dies räumt sie in Bezug auf Flesch eher beiläufig auch ein. Letzterer unterscheide sich „zwar nicht völlig von allen anderen Intendanten seiner Zeit“, er sei aber neben Schoen und Bischoff (Intendant der Schlesischen Funkstunde) „der modernste und progressivste Kopf“ gewesen (S. 59), warum bleibt unausgesprochen. Insofern fügt die Arbeit in ihrem Ergebnis dem im Prinzip bekannten Radiodiskurs der 1920er-Jahre leider keine neuen Erkenntnisse darüber hinzu, wie in dieser Zeit das „Dispositiv“ des Hörfunks geformt wurde, das sich in den Anfang der 1930er-Jahre etablierten Programmstrukturen und -formen manifestierte.

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