G. Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges

Titel
1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges


Autor(en)
Schild, Georg
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Wagner, Berlin

Offensichtlich gibt es historische Momente, auch Jahre, in denen sich soziale Strukturen, mentale Dispositionen, philosophische Ideen, politische Entscheidungen und individuelles Handeln unübersehbar verdichten und überschneiden. Die Jahreszahlen 1789, 1917 und 1989 etwa können als Chiffren solcher dramatischer Umbrüche verstanden werden. Der revolutionäre Charakter dieser Jahre war, und das ist das Besondere an ihnen, auch für die Zeitgenossen bereits erkennbar. Aber 1983? Georg Schild meint, es habe sich um das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges gehandelt – was für die damaligen Akteure und Beobachter aber eben nicht erkennbar und genau deshalb so gefährlich gewesen sei (S. 16).

Dem titelgebenden „1983“ nähert sich das Buch mit großem Anlauf. Es ist nicht auf die Geschichte dieser 365 Tage reduziert, sondern resümiert die Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR vom Anfang bis fast zum Ende des Kalten Krieges, und es tut dies durchgängig aus einem sicherheitspolitischen Blickwinkel. Alle methodischen, räumlichen und thematischen Erweiterungen, die dank der intensiven Forschung der letzten Jahrzehnte den Kalten Krieg von der Fokussierung auf die politische Geschichte der Supermächte gelöst haben, bleiben weitgehend außen vor. Schild will keine Gesamtdarstellung liefern, sondern in diesem konzentrierten, einem langen Essay nahekommenden Band seine These über die Bedeutung des Jahres 1983 für, ja, letztlich: das Schicksal der Welt entwickeln.

Der Tübinger Nordamerikahistoriker unterteilt den Kalten Krieg in drei Phasen: zunächst die Jahre 1945 bis 1962, die er als Lern- und Aushandlungskonflikt der beiden Supermächte begreift, in dessen Verlauf geklärt wurde, wie mit der neuen weltpolitischen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg umzugehen sei. Trotz der Konfrontation erkannten die USA und die Sowjetunion, dass alles getan werden musste, um einen großen Krieg zu verhindern. Dann die Jahre der Entspannung bis 1979, in denen sich der Ost-West-Systemkonflikt gleichzeitig in die Peripherie der Weltpolitik verlagerte. Schließlich das Wiederaufleben der direkten Konfrontation beider Supermächte vor dem Hintergrund der sowjetischen Afghanistan-Invasion.

Als Quellen zieht Schild neben einer intensiven Auswertung der amerikanischen Literatur Dokumente der Carter und Reagan Libraries in Atlanta und Simi Valley heran. Dadurch gelingt ihm eine streckenweise spannende Darstellung der politischen Überzeugungen und der Strategien beider Präsidenten gegenüber der Sowjetunion. Ronald Reagan wollte Vereinigte Staaten, die so stark waren, dass die UdSSR sie niemals herausfordern konnten. Dieses Ziel war jedoch mit einer Entspannungspolitik nicht zu erreichen, mit der bereits unter seinem Vorgänger Jimmy Carter keine adäquate Antwort auf die Herausforderung gefunden worden war, die der Afghanistan-Einmarsch Moskaus bedeutete. Amerika, so der Ansatz Reagans und seiner Vordenker, musste stattdessen sein überlegenes wirtschaftliches und technologisches Potential ausspielen können: „Ich wollte Frieden durch Stärke, keinen Frieden durch ein Stück Papier“ (zitiert auf S. 119).

Der 40. US-Präsident stellte die Sowjetunion als politisches System grundsätzlich in Frage. Er suchte sie dort herauszufordern, wo die kommunistische Supermacht verwundbar war: in ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit und zwar auf einem Sektor, auf dem Moskau gemäß der Logik des Raketenschachs unbedingt reagieren musste – in der Rüstung. Rhetorisch kulminierte Reagans weltanschauliche Gegnerschaft darin, dass die UdSSR im März 1983 öffentlich als ‚evil empire‘ charakterisierte; praktisch in seiner Forcierung einer Weltall-gestützten Raketenabwehr, der Strategic Defense Initiative (SDI). Zur gleichen Zeit diskutierten konservative Politikwissenschaftler und „Kremlologen“ intern und öffentlich Möglichkeiten einer – auch offensiven – Überwindung des Sowjetkommunismus.

Moskau sah sich nach einem außenpolitisch recht erfolgreichen Jahrzehnt mit der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses plötzlich in der Defensive. Die Partei- und Staatsführung musste erkennen, dass SDI die Sowjetunion technologisch und wirtschaftlich überforderte. Programmatik und Praxis amerikanischer Politik führten in dieser Perzeption zu einer sich steigernden Furcht, ein amerikanischer Angriff auf das Land könnte zeitnah bevorstehen. Die sowjetische Reaktion kann Schild allerdings nicht in der Intensität darstellen wie die amerikanische Herausforderung.1 Als Beispiel für die überspitzte Wahrnehmung amerikanischer Intentionen beschreibt er die Alarmierung der KGB-Residenturen im Westen, die im Rahmen der militärischen Aufklärung Anzeichen für eine Mobilisierung der NATO-Streitkräfte zu sammeln hatten (die inzwischen vielfach beschriebene Operation Rjan).

Im Herbst 1983 kulminierten alle Befürchtungen Moskaus. Am 1. September wurde ein südkoreanisches Passagierflugzeug mit 269 Menschen an Bord von sowjetischen Abfangjägern abgeschossen, die es offensichtlich für ein US-Spionageflugzeug hielten. Am 26. September wurde in einem Raketenfrühwarnzentrum bei Moskau fälschlich der Anflug einiger amerikanischer Raketen über den Nordpol angezeigt. Der diensthabende Offizier behielt die Nerven, ihm erschien ein Angriff mit nur einigen wenigen Raketen nicht wahrscheinlich. Im November 1983 folgte das NATO-Manöver Able Archer, das die Sowjets als Ausgangslage für einen möglichen unmittelbaren Angriff auf ihr Land interpretierten. Nie, so Schild, sei die Welt näher an einem Atomkrieg gewesen als damals (S. 190). Noch in demselben Monat trafen die ersten Pershing II und Cruise Missiles in Großbritannien und Deutschland ein.

Die Deeskalation begann erst mit einer Rede Reagans vom 16. Januar 1984. Der geänderten Sichtweise des Präsidenten lag keine Revision seiner Auffassungen über die Sowjetunion zugrunde, sondern eine realistische Anerkennung ihres Sicherheitsbedürfnisses. Schild: „Nicht die Politik musste geändert werden, sondern die gegenseitige Wahrnehmung und Kommunikation. […] Die Konfrontation nahm ab, weil sich beide Seiten wieder an die alte Grundlage des Kalten Krieges erinnerten, dass ein Krieg vermieden werden musste.“ (S. 199f.) Wenn Reagans Sicht auf die Sowjetunion auch zweifellos ideologisch geprägt war, besaß der Kalte Krieger im Oval Office doch genügend Beweglichkeit, um angesichts der konkreten Kriegsangst der Sowjets von seiner polarisierenden Haltung abrücken zu können. Zudem wurde ihm bewusst, dass die innenpolitische Unterstützung für seine Konfrontationspolitik schwand.

Die zentrale These des Buches, die das Gefahrenpotential des Jahres 1983 auf der Grundlage falscher Wahrnehmungen und Denkmuster betont, ist keineswegs neu. Bei Schild fehlt indes eine systematische Einordnung in die Forschung und Literatur zur „Soviet War Scare“ von 1983. Für die (politische, nicht militärische) Konfrontationsbereitschaft Reagans bringt Schild neue Belege bei. Wenn er betont, dass die Kuba-Krise weniger gefährlich gewesen sei als die Krise von 1983 – auch weil Erstere von allen Seiten als bedrohlich erkannt, bei Letzterer die sowjetische Kriegsangst seitens der USA aber überhaupt nicht rezipiert wurde –, rennt er einerseits von der Forschung bereits seit längerem geöffnete Türen ein. Die Kuba-Krise wird in der geschichtswissenschaftlichen Ex-post-Betrachtung inzwischen eher als kurzzeitige Unterbrechung denn als dramatischer Höhepunkt des Kalten Krieges betrachtet.2 Andererseits: War das auch den Zeitgenossen klar? Arthur Schlesinger, damals Sonderberater Kennedys, hielt im Zuge der Krise den 27. Oktober 1962 gar für „den gefährlichsten Tag in der Geschichte der Menschheit“.3 Und die Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie auf den Tag genau ein Jahr zuvor hätte bei einer Fehlentscheidung der Kommandeure vor Ort ebenfalls eskalieren können. Im November 1979 übermittelte die US-Luftüberwachung die Fehlmeldung, 2.200 sowjetische Raketen befänden sich im Anflug auf Amerika. Was, wenn der befehlshabende General und Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski diese Meldung nicht geprüft, sondern in Panik den Präsidenten geweckt hätten, damit dieser einen sofortigen Gegenschlag befehle? Die Falschmeldung auf sowjetischer Seite vom 26. September 1983 war so gesehen nicht oder nicht allein „das wohl am unmittelbarsten bedrohliche Ereignis der Geschichte des Kalten Krieges“ (S. 183). Superlative sollten von Historikern zurückhaltend gebraucht werden.

In einer eigentümlichen Abschwächung seiner These spricht Schild am Ende seines Buches denn auch davon, dass 1983 „das gefährliche Jahr des Kalten Krieges“ war (S. 208). Also doch nicht das „gefährlichste“? Ein redaktioneller Fehler, der spätestens im Lektorat hätte auffallen müssen? Die nicht ganz gelungene Formulierung mit bestimmtem Artikel lässt das offen. Richtig ist wohl: 1983 war unbestritten ein gefährliches Jahr im Kalten Krieg.

Angesichts einer heute vergleichsweise unübersichtlichen Weltordnung mit wechselnden Konfliktherden und neuen Gravitationszentren ist es gerade unter gegenwartsdiagnostisch arbeitenden Wissenschaftlern üblich geworden, auf die Jahrzehnte von 1945 bis 1989/91 ob der scheinbaren Klarheit der Verhältnisse fast schon nostalgisch zurückzublicken. Dafür besteht, das zeigt Schild nachdrücklich, kein Anlass. Denn weder vorher noch nachher war die Vernichtungsdrohung für die Menschheit so absolut wie im Kalten Krieg. Und genau so wurde sie seinerzeit auch wahrgenommen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu zusammenfassend Vojtech Mastny, „Able Archer“. An der Schwelle zum Atomkrieg?, in: Bernd Greiner u.a. (Hrsg.), Krisen im Kalten Krieg, Hamburg 2008, S. 505–522.
2 Vgl. Harald Biermann, Die Kuba-Krise: Höhepunkt oder Pause im Kalten Krieg?, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 637–673. Wie Mastny fehlt auch Biermann im Literaturverzeichnis bei Schild.
3 Zitiert nach Georg Bönisch / Klaus Wiegrefe, Am Abgrund, in: Der Spiegel Nr. 25 vom 16.06.2008, S. 48–60, hier S. 56.

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