A. Oberländer: Unerhörte Subjekte

Cover
Titel
Unerhörte Subjekte. Die Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880–1910


Autor(en)
Oberländer, Alexandra
Reihe
Geschichte und Geschlechter 63
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Dahlke, Deutsches Historisches Institut Moskau

Was unterscheidet die Faust im Gesicht von einer Vergewaltigung? Warum wird sexuelle Gewalt von den Opfern als besonders traumatisierend erlebt? Warum werden Vergewaltigung und Körperverletzung als unterschiedliche Straftatbestände gefasst? Und unter welchen Bedingungen werden Sexualität politische Bedeutungen zugeschrieben, die über den körperlichen Akt weit hinausgehen?

Diesen Fragen geht Alexandra Oberländer in vier Fallstudien nach, die sich auf das städtische Russland in einem chronologischen Längsschnitt von den 1880er-Jahren bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs konzentrieren. Ihr Buch ist nicht nur eine Analyse eines geschichtswissenschaftlichen Gegenstands. Die Autorin bezieht ihre Leser und Leserinnen in ihre Suchbewegungen, in die Wege und Irrwege der Forscherin ein, die ihr Anliegen an den historischen Gegenstand aus ihrer Beobachtung gegenwärtiger Machtbeziehungen generiert. Die Studie liest sich so wie das Protokoll eines Verstehensprozesses. Konsequenterweise legt Alexandra Oberländer ihre Vorgehensweise in der Ich-Form dar und beschreibt die frustrierenden Erfahrungen, die viele Historiker und Historikerinnen in der Konfrontation mit den Quellen machen. Nämlich, dass es gerade das, wonach sie suchen und was ihnen so selbstverständlich und bedeutsam vorkommt, entweder nicht gab oder zumindest für die Zeitgenossen keine oder eine andere Bedeutung gehabt zu haben scheint. Im Falle Alexandra Oberländers war dieses Abwesende ihr eigentlicher Gegenstand: die sexuelle Gewalt. Sie kam in den Findbüchern der Archive und den Schlagzeilen der zeitgenössischen Presse in der Zeit zwischen 1880 und 1905 kaum vor. Im Strafgesetz wie in der Rechtsprechung galt eine Vielzahl der Handlungen, die wir heute als Vergewaltigung verstehen, nicht als Straftatbestand. Erst seit 1905/7 schienen die Städte des europäischen Russland plötzlich von einer Flut sexueller Gewalt erfasst worden zu sein. Ordnungshüter, Gerichte, Wissenschaftler und die Presse waren scheinbar aus dem Nichts heraus in obsessiver Weise mit diesem Phänomen befasst. Sexuelle Gewalt war vor 1905 offensichtlich noch nicht die Grenzüberschreitung, als die wir sie heute empfinden. Sie musste erst als solche gedacht, konstruiert, juristisch gefasst und durchgesetzt werden. Diesen Prozess zeichnet Oberländer in ihren vier Fallstudien nach.

Die Fallstudien werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden, sind aber durch unterschiedliche analytische Achsen miteinander verbunden. Im ersten und im dritten Kapitel geht es um die mutmaßliche Vergewaltigung zweier junger Frauen: den Fall der verarmten Provinzadeligen Elisaweta Tscheremnowa und den spektakulären Fall der Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa. Tscheremnowa war nach eigenen Angaben 1882 von dem Rechtsanwalt Nasarow vergewaltigt worden und hatte 1883 Selbstmord begangen. Vor ihrem Tod hatte sie ohne Erfolg versucht, bei den Moskauer Behörden gegen Nasarow vorzugehen. Aufmerksamkeit erlangte sie erst durch ihren Selbstmord, als sich ein beharrlicher Untersuchungsrichter sowie der Romanautor Prochorow ihrer Geschichte annahmen, die 1885 als Fortsetzungsroman in einer Boulevardzeitung erschien. Sie konnten erreichen, dass Nasarow 1886 verurteilt wurde.

Am Fall der Elisaweta Tscheremnowa macht Alexandra Oberländer eine Paradigmenverschiebung in der Rechtspraxis fest. Der Fall stehe exemplarisch für die Debatte über den Stellenwert der Person im Rechtsprozess bzw. für die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschende Unklarheit über die zu schützenden Rechtsgüter und die entsprechende Kategorisierung von Straftatbeständen: Im Strafgesetzbuch von 1845 galten die Keuschheit der Frau, die Ehre der Familie und die öffentliche Moral als die zu schützenden Rechtsgüter. Die Familienehre konnte wieder hergestellt werden, indem eine Frau ihren Vergewaltiger heiratete. Kamen solche Fälle vor Gericht, wurde in der Regel ein solcher Ausgleich gesucht. Sexuelle Gewalt gegen Prostituierte stellte in diesem Rechtsverständnis keinen Straftatbestand dar. Dieses Problem war auch der Knackpunkt im Gerichtsverfahren gegen Nasarow. Während die Rechtsanwälte Nasarows versuchten, Tscheremnowas vermeintlich liederlichen Lebenswandel zu dokumentieren, der die öffentliche Ordnung gefährde, ging es der Gegenseite darum, ihren einwandfreien Leumund zu beweisen. Dem mit ihrem Fall befassten Untersuchungsrichter ging es aber nicht nur um die Keuschheit. Er verteidigte Tscheremnowas Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und auf die Unversehrtheit ihrer Person. Für Alexandra Oberländer steht der Fall für einen unter den gebildeten Schichten sich abzeichnenden Trend hin zu einem modernen Verständnis von Staatsbürger/innen oder Individualrechten. Im Familienrecht und im Sexualstrafrecht allerdings hinkte das Gesetz der Rechtspraxis hinterher. Die Reformkommission, die seit den 1890er-Jahren ein neues Strafrecht ausarbeitete, hatte zwar auch Sexualdelikte so gefasst, dass das zu schützende Rechtsgut nicht mehr die Keuschheit war, sondern die Unversehrtheit der Person. Die Reformer konnten jedoch diese Forderung auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts nicht durchsetzen.

War in den 1880/90er-Jahren sexuelle Gewalt den Zeitungen noch kaum eine Meldung wert gewesen, änderte sich dies um 1905/6 im Kontext der revolutionären und reaktionären Gewaltexzesse. Als paradigmatisch für diese Zeitenwende präsentiert Alexandra Oberländer ihre Lesart des spektakulären Falls der Maria Spiridonowa. Spiridonowa hatte 1906 ein tödliches Attentat auf den Vizegouverneur des Gebiets Tambow verübt und war mutmaßlich nach ihrer Festnahme von Kosakenoffizieren misshandelt und sexuell missbraucht worden. Sie wurde zum Tode verurteilt, jedoch bald darauf begnadigt und nach Sibirien verbannt. Zur nationalen Ikone wurde die junge Frau, als die liberale Zeitung Rus‘ einen Brief Spiridonowas veröffentlichte, in dem sie auf ihre Misshandlungen anspielte. Der Fall löste eine Solidaritäts- und Empörungswelle unter Frauen aus. Die liberale Presse sowie die Plädoyers von Spiridonowas Rechtsanwalt setzten die geschändete Spiridonowa mit dem geschändeten Russland gleich, ihre mutmaßlichen Peiniger mit dem verbrecherischen autokratischen Staat.

Der Fall Spiridonowa ist mit den anderen Fallstudien durch zwei analytischen Fäden verknüpft: Zum einen, argumentiert die Autorin, habe sich seit dem ein Vierteljahrhundert zuvor verhandelten Vergewaltigungsfall Tscheremnowa eine radikale Umwertung des Subjekts vollzogen. Zum anderen zeige der Fall, dass sexuelle Gewalt erst dann zum Gegenstand der öffentlichen Debatte werden konnte, als Sexualität eine eng mit dem Begriff der Nation verknüpfte politische Bedeutungszuschreibung erfuhr.

Die Figur des Pädophilen auf der einen Seite, die der Prostituierten und des sexuell verwahrlosten Kindes auf der anderen seien im nachrevolutionären Katzenjammer schließlich zur Chiffre für die kranke, dekadente und degenerierte Nation geworden, die ihrem eigenen Zerfall nichts mehr entgegenzusetzen gehabt habe. Den Weg zu einer solchen Bedeutungsaufladung vollzieht Alexandra Oberländer am Beispiel zweier Fälle von Kindesmissbrauch nach (Kapitel 2, 4 und 5), die in einem zeitlichen Abstand von 25 Jahren vor St. Petersburger Gerichten verhandelt wurden: dem Mord an dem dreizehnjährigen Mädchen Sarra Becker (1883–1885) und dem Gerichtsverfahren (1908) gegen den Französischlehrer Djulu, der des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in fünf Fällen angeklagt war. Herausgearbeitet werden die unterschiedlichen Bewertungen ähnlicher Gewaltpraktiken: Während Anfang der 1880er-Jahre noch niemand auf die Idee gekommen wäre, den körperlichen und geistigen Zustand des mutmaßlichen Mörders und Vergewaltigers Sarra Beckers in Frage zu stellen, kamen durch die wachsende Bedeutung von wissenschaftlichen Gutachtern (Mediziner, Kriminologen, Psychologen) im Gerichtsprozess zunehmend Zweifel an der geistigen Zurechnungsfähigkeit von Männern auf, die Kinder missbrauchten. Während im Mordfall Sarra Becker insbesondere das soziale Gefälle zwischen dem Opfer und dem mutmaßlichen Täter als Grund für das Verbrechen öffentlich debattiert wurde, galt Djulu als Inbegriff des schwächlichen, perversen, gebildeten Mannes. Inzestuöse Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern galten hingegen nicht als pathologisch und damit nicht als Ausdruck der Moderne, sondern als Atavismus vormoderner Zeiten. In der Diagnose der Wissenschaftler waren die sexuellen Perversionen eine Folge der Zivilisation; die Männer der gehobenen Schichten waren als Träger dieser Zivilisation gleichzeitig ihre ersten Opfer und Totengräber. Die eigentlichen Opfer, ihre Geschichten und Wahrnehmungen verschwanden hinter diesen Untergangszenarien. Ihre lebendigen oder toten Körper waren Gegenstand wissenschaftlicher Mutmaßungen und moralischer Vorurteile. Ihre Zukunft galt als eine, in der sie als Prostituierte, Syphiliskranke oder Selbstmörderin ihrerseits die sittliche Ordnung bedrohten.

Es ist ein Verdienst Alexandra Oberländers, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf diese verlorenen Stimmen lenkt. Manchmal schießt sie dabei sowohl in der Beurteilung der mutmaßlichen Täter als auch der Opfer über das Ziel hinaus. Es liegt in der Eigenheit von Indizienprozessen, dass sowohl Juristen als auch Historiker in ihrer Urteilsfindung auf unterschiedliche Aussagen angewiesen sind. Der Mordfall Sarra Becker ist nie aufgeklärt worden. Auch die aktive Rolle Spiridonowas in der Inszenierung ihres eigenen Mythos wird nicht diskutiert. Dass Alexandra Oberländer ihren Forschungsgegenstand aus ihrer Beobachtung aktueller Machtbeziehungen generiert, kann gleichzeitig als Schwäche und Stärke der Studie gewertet werden. Aus der Sicht der Historikerin könnte man einwenden, dass die Geschichte mit ihrer Fokussierung auf die (haupt)städtischen Milieus etwas zu linear als Prozess erzählt wird, der in eine europäische Moderne führt, und andere Lebenswelten sowie ihre Parallelität ausblendet. Aber gerade das macht auch die hohe Relevanz der Studie aus, die alles andere ist als ein akademisches Exerzitium. Die Autorin hat ein Anliegen, das transparent gemacht und methodisch anspruchsvoll durchargumentiert wird. Ihr gelingt es so, zentrale Paradoxien der Moderne in ihrem Gewordensein anschaulich zu machen: Sie zeigt uns, dass sexuelle Gewalt als traumatische Erfahrung keine überhistorische Konstante ist, dass Emanzipation von traditionellen Lebensverhältnissen die Fragilität des Ichs erst produziert. Vergewaltigungen werden nur dann als Angriff auf das Ich erlebt, wenn es eine Vorstellung von der Frau als autonomes Subjekt gibt.

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