Cover
Titel
Die Videothek. Zur Geschichte und medialen Praxis einer kulturellen Institution


Autor(en)
Haupts, Tobias
Reihe
Locating Media, Situierte Medien 7
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Wilke, Institut für Medienwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen Email:

Bei der ersten Annäherung an Titel und Thematik möchte ein nostalgisches Gefühl aufkommen: die aus heutiger Sicht anmutende Schwerfälligkeit in der Bedienung des Videorekorders, das Zurückspulen ohne Beschleunigen zu können, der Bandsalat bis hin zu den Schwierigkeiten beim Programmieren der Aufnahme. Erste Assoziationen, die sich mit dem vorliegenden Buch „Die Videothek“ verbinden lassen und sogleich die Breite des Themas andeuten, das die Videothek als „Teil der Populärkultur“ (S. 255) begreift und damit auch Trägermedien und –technologien wie Videokassette und Videorekorder einschließt. Doch auch der zeithistorische Zusammenhang ist damit hergestellt. Denn mit dem Videorekorder und der Filmkassette änderten sich grundlegend die Wahrnehmung des Veranstaltungsmediums Kino und die Verfügbarkeit von Filmen, wie der Autor eindrücklich zeigt. Darüber hinaus spielte – zumindest in der Anfangszeit – das emanzipatorische Potenzial eine Rolle, das allerdings recht schnell hinter dem Wandel zum reinen Konsummedium verschwand.

Tobias Haupts legt mit seiner bereits 2014 publizierten Dissertation, die innerhalb des Graduiertenkollegs „Locating Media“ an der Universität Siegen entstand, ein umfangreiches Werk vor, das den Anspruch hat, den „Ort der Videothek historisch, kultur- und filmtheoretisch“ (S. 11) umfassend analytisch in den Blick zu nehmen. Dabei liegt der Schwerpunkt der „Untersuchung auf der Videothek in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1978 und 1992“. Mit der Kopplung an medien- und filmtheoretische Fragen wird die nationale und zeitliche Begrenzung jedoch bewusst immer wieder durchbrochen.

Eine der zentralen Prämissen Haupts ist, dass mit der Videothek als einem erfahrbaren Ort der „Film in seiner haptischen Form konkret erfahrbar wurde und dem Nutzer im Raum der Videothek ein eigenes Archiv des Films zur Verfügung“ steht.1 Die vorliegende Abhandlung gliedert sich im Wesentlichen in drei große Kapitel, die erstens die geschichtliche Entwicklung der Institution nachzeichnen, zweitens die Videothek als eine mediale Praxis konsturieren und sich drittens schließlich mit dem Zusammenhang von Videothek und dem Wissen vom Film auseinandersetzen. Methodisch orientiert sich Haupts am Dispositiv als Beschreibungskategorie und wertet dabei neben den gesetzlichen Vorgaben und verfügbaren Quellen im Wesentlichen diskursanalytisch den „Ikarus“ aus, die damalige Verbandszeitschrift des Interessensverbands der Videothekare (IVD).

Haupts geht davon aus, dass es sich beim Video um eine „nicht geplante Verwertung“ (S. 13) handelte, die auf bestehende Strukturen des Mediensystems traf und sich über die Videothek als „kulturelle Institution“ (ebd.) nun in das bestehende Medienensemble der BRD integrierte. Davon ausgehend wird vom Autor zentral dargelegt, wie sich die Geschichte der stets in der Diskussion (um nicht zu sagen: Kritik) befindlichen drei Hauptgenres Pornografie, Horror und Action im Wechselverhältnis mit dieser Institution befanden. In größeren Exkursen wird ausgeführt, welche Entwicklungen die einzelnen Genres in dieser Zeit genommen haben, um hier den Möglichkeitsraum ‚Videothek‘ als Handlungsspielraum diskutieren zu können.

Die Studie ist insgesamt breit angelegt, es gibt fundierte Exkurse zur Raumtheorie, zur Filmförderung sowie zur Genreentwicklung. Der Autor zeigt damit die Problematik einer allgemein dynamischen Entwicklung und der konkreten Entfaltung vor Ort sehr deutlich auf. Es entsteht ein detailreiches Bild der Videothekenentwicklung in Deutschland vor dem Hintergrund der Bemühungen des Interessensverbands der Videothekare (IVD) und den gouvernementalen Bestrebungen der Politik ein Verleihverbot indizierter Filme zu erreichen.

Damit mag der Kulturwissenschaftler zufrieden sein, doch der Historiker wird monieren, dass es bisweilen an empirischer Substanz mangelt. Haupts flüchtet sich in einen streckenweise positivistisch zu lesenden Grundtenor sowie in Verallgemeinerungen: ein Beispiel ohne weiterführenden Beleg: „Bücher aus dem Bereich der Filmtheorie, der Filmgeschichte und der Filmanalyse wurden von den Bibliotheken eingekauft und dort bereitgestellt.“ (S. 317) Wo er hätte konkret werden müssen, sei es bei der differenzierten Betrachtung des bestehenden Stadt-Land-Gefälles, der thematischen Ausdifferenzierung von Videothekenprogrammen oder empirisch belastbaren Zahlenmaterial hinsichtlich der Videotheken und der angebotenen Programme, bleiben oft nur schwer greifbare faktische Erklärungen, die sich nicht selten im Konjunktiv verlieren.

Die durchgehende Beanspruchung der Videothek als eine ‚kulturelle Institution’ wird in der Darstellung immer wieder auch infrage gestellt: sei es durch sogenannte Nichtorte wie die Tankstelle als Verleihstationen für Filme oder sei es durch das Schmuddel-Image der Videothek durch das kolportierte Angebot. Gleichwohl kann er eindrücklich die ganz praktischen Schwierigkeiten der damaligen Anbieter darstellen: was ist der richtige Film, welches das richtige Format (Beta, Video 2000 oder VHS) oder die richtige Anzahl an Kopien für die bestehende und die potentielle Kundschaft?

Haupts stellt überzeugend das triadische Verhältnis zwischen Film, Video und Fernsehen dar, doch der immer wieder unterstellte Wille zur Integration in das Medienensemble der BRD leuchtet weniger ein. Wollte das ‚die Videothek’? Das Video als neues Medium tritt in Erscheinung, findet eine organisierte Form der Wahrnehmung und des Konsums und wird so integriert. Aus Sicht des Rezensenten greifen hier stärker überindividuelle Begehrensstrukturen, die sich zum einen am Markt, zum anderen am Kunden orientieren. Nicht umsonst ist, wie ausführlich beschrieben, der Diskurs um den (durchaus notwendigen) Schutz so stark. Parallel dazu bleibt das Begehren des Videothekengängers als Filmliebhaber und/oder als Filmsammler, der sich auf unterschiedliche Art und Weise ein Archiv erschafft, das mit dem der Videothek korrespondiert, ohne dass damit verallgemeinerbare Aussagen über die Konstitution eines Archiv getroffen werden können. Ebenso hätte es noch einer Konkretion bedurft, um einem offenen Widerspruch zu begegnen: Haupts schreibt von dem „Ort der Videothek als begehbare Filmgeschichte“ (S. 329), was dem ökonomisch ausgerichteten Hauptanliegen der Videothekare, möglichst umsatzstarke Filme im Angebot zu haben und umsatzschwache möglichst bald wieder auszusortieren, im Wesentlichen zuwiderläuft.

Interessant wäre eine Hinwendung zum Verhältnis der Filmindustrie zur Videothek gewesen, um möglicherweise empirisch aufzeigen zu können, inwiefern sich das produzierte Angebot an der erweiterten Distributionsform orientierte; ein Argument für das mehrfach dargestellte Konzept des Kassettenbergs. Neben diesem Konzept bemüht Haupts noch das des Archivs, des Sammelns und der Paratexte um insgesamt zu einer Vorstellung einer medialen Praxis zu gelangen. Aus Sicht des Rezensenten erscheint es verwunderlich, das der auch im Titel geführte Terminus der „medialen Praxis“ nicht zu nutzerorientierten Handlungskonzepten geführt hat. Beispielsweise hätten Videothekare grundiert durch die Arbeiten Michel de Certeaus unmittelbar in das Setting der Untersuchung integriert werden können. So steht zwar die Erfahrung des Autors zur argumentativen Disposition, andere Protagonisten aus dieser Zeit hätten der Arbeit insgesamt aber noch mehr empirisches Gewicht verleihen können. Auch über die ‚haptische Erfahrbarkeit des Films’ in Form des Objekts ‚Videokassette’ lässt sich gewiss trefflich streiten.

„Die Videothek“ liefert trotz der genannten Schwächen ein detailreiches und fundiertes Bild einer wichtigen medialen Entwicklung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre. Das lesenswerte Buch trägt zum Verständnis einer sich wandelnden Mediennutzung bei, die Wegbereiter war für einen heute ganz selbstverständlich wirkenden Medienkonsum.

Anmerkung:
1 So die Ankündigung auf der Website des transcript Verlags; vgl. http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2628-5/die-videothek (16.09. 2016).