B. Jalalipur: Rihtsinasi-yi Qissahha-yi Asatiri wa Pahlawani-yi Sahnamah

Titel
Rihtsinasi-yi Qissahha-yi Asatiri wa Pahlawani-yi Sahnamah. [Morphologie der mythologischen und heroischen Erzählungen von Firdawsis Shahnamah. Auf der Basis der Methode Wladimir Propps]


Autor(en)
Jalalipur, Bahram
Erschienen
Teheran 2012: Afraz Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nader Purnaqcheband, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Es gibt wohl kaum einen Text wie das Shahnamah, das „iranische Nationalepos“ (Theodor Nöldeke), der in einem ähnlichen Maße Opfer ideologischer und identitätspolitischer Zurichtung vonseiten des indigenen Diskurses geworden ist. Unzählige Veranstaltungen und Texte beschäftigten sich seit dem frühen 20. Jahrhundert vor allem in Iran mit diesem Jahrhunderte alten Epos und seinem (vorgeblichen) Autor Firdawsi. Den Kulminationspunkt bildete die „Tausendjahrfeier“ zu Firdawsi 1934 in Teheran, die von Reza Shah als ein nie dagewesenes iranisches Identitäts-Spektakel inszeniert wurde. Diese und andere Veranstaltungen drehten sich redundant um ein und dieselben Thematiken: die nationale Identität und die Vorzüglichkeit der Iraner. Die Figur Firdawsis wurde (und wird) dargestellt als iranischer Kulturheroe, welcher in Zeiten der Geschichtsvergessenheit nach der Islamisierung die Erinnerung an die Taten der mythischen und antiken Könige und Helden Irans unter dem bedingungslosen Einsatz sämtlicher ihm zur Verfügung stehender materieller und geistiger Ressourcen gewahrt und vor dem endgültigen Vergessen bewahrt hat.

Der Umgang mit dem Text ist insofern radikal selbstreferentiell, weil man sämtliche Informationen in Bezug auf die Person und Arbeitsweise Firdawsis aus dem Shahnamah selbst extrahiert, ohne sich die Problematik dieser Herangehensweise vor Augen zu halten. Das älteste (zumindest erhaltene) etwa dreiseitige schriftliche Zeugnis zur Person Firdawsis - das Čahār Maqālah – ist gut ein Jahrhundert nach dem angegebenen Tod des Dichters datiert. Eine kritische Hinterfragung dieser ewig wiederkehrenden, gleichen Narrative ist im iranischen Diskurs im Iran und der Diaspora bisher nicht erfolgt, zu sehr sind wohl das Shahnamah und die Figur Firdawsis mit der iranischen Identität bis heute verzahnt. Der westlich-iranistische Diskurs, der – wie im Falle von Olga Davidson – eine mitunter kritische Shahnamah-Forschung aufweist, stößt bei einigen iranischen Wissenschaftlern auf offene Ablehnung.1

Umso erfreulicher ist, dass im Jahre 2012 von Bahram Jalalipur der Versuch unternommen worden ist, Wladimir Propps (1895–1970) auf dem Formalismus basierende, in seiner Morphologie des Märchens 1928 entwickelte Methode auf einzelne Episoden des Shahnamah anzuwenden. Das Revolutionäre in Jalalipurs Vorgehen besteht darin, dass er zum ersten Mal – zumindest ansatzweise – aus dem iranischen Identitätsdiskurs des Shahnamah ausbrach. Gemäß der herkömmlichen (indigenen) Theorie galt Firdawsi vor allem als gewissenhafter „Übersetzer“ längst verlorengegangener mittel- und neupersischer Texte (wie dem Ḫwataynamak oder dem Prosa-Shahnamah des Abu Mansur), welcher die Erzählungen der Könige und Helden des mythologischen und antiken Iran quasi eins zu eins verdichtet hatte. Jalalipur geht dagegen – Propp anwendend – von einer einheitlichen und gleichförmigen textuellen Architektur innerhalb der einzelnen Geschichten aus. Die formalistische Blaupause, die bei allen Geschichten, ob Zaubermärchen oder Shahnamah-Erzählungen, dieselbe sei, ermögliche die Wiederherstellung (oder Korrektur) der originalen Struktur einzelner Erzählungen des Epos und könne somit die Kreativität und den schöpferischen Individualismus Firdawsis bei der Bearbeitung seines Materials freilegen (S. 16f.).

Allerdings ist problematisch, dass Jalalipur dabei stillschweigend von einer Urfassung der Erzählungen (die womöglich als „Urtext“ schriftlich niedergelegt waren) ausgeht, was er nicht weiter expliziert. Jalialipur arbeitet auf der Grundlage der von Propp extrahierten (oder: definierten) einunddreißig „Funktionen“ jeder einzelnen Erzählung, also der narrativen Haltestellen (oder: Narrateme), welche der Held bis zum Ende der Geschichte hinter sich lassen muss. Er möchte zusätzlich Anfang und Ende der Shahnamah-Geschichten, die oft aufgrund derselben Protagonisten ineinander übergehen, endgültig festlegen und auf diese Weise das Wachstum des Shahnamah als Gesamtkomposition erhellen (S. 19). Durch die Anwendung des Formalismus werden auf der Analyseebene die Erzählungen aus einer abstrakteren Perspektive betrachtet, so dass es nicht mehr wie bisher auf die konkrete Figur oder Handlung ankommt, sondern auf die übergeordnete „Funktion“ und eine Tiefenstruktur innerhalb der Handlung, die in allen Erzählungen gleich sei (S. 22). Jalalipur muss allerdings auch einräumen, dass die Zuordnung der einzelnen Elemente zu den „Funktionen“ oft schwierig ist (S. 18). Man geht nicht zu weit, wenn man in diesem Zusammenhang die Gefahr der willkürlichen Einordnung in Rechnung stellt.

Ein grundsätzliches Problem von Jalalipurs Arbeit ist der Umstand, dass er sich innerhalb seiner Untersuchung nicht auf den originalsprachigen Text Propps stützen kann, sondern sich auf die persische Übersetzung von Faridun Badrah’i berufen muss, welche (vermutlich) selbst auf der englischen Übersetzung aus dem Russischen beruht. Dieses Moment hat problematische Übersetzungen Proppscher Termini technici zur Folge, die das Gesamtergebnis seiner Arbeit streckenweise schmälern. So wird etwa Propps Zentralbegriff „Funktion“ mit „Ḫweškārī“ widergegeben, was im Persischen aber „Pflichtbewußtsein“ bedeutet. Heikel bleibt auch die nicht weiter begründete Übertragung der morphologischen Methode, die sich bei Propp ausschließlich auf russische Zaubermärchen bezog, auf persische heldenepische Erzählungen.

Das große Verdienst Jalalipurs hingegen besteht in einem leisen und subtilen Tabubruch innerhalb der oben skizzierten einvernehmlichen iranischen Debatte. So betont er etwa (sich auf Propps Ansatz beziehend), dass die tragischsten Erzählungen des Shahnamah (wie z.B. „Rustam und Suhrab“) vielleicht ursprünglich eine vollkommen andere Geschichtswendung erzählt haben (S. 60). Damit stellt er die Authentizität ganzer Passagen des Epos in Frage (S. 63ff.) und hält viele Einzelheiten für unglaubwürdig. Auf dieser Basis öffnet er den Horizont für Fragestellungen jenseits der Firdawsischen Well-done-Debatte: „Wenn allerdings nachgewiesen werden könnte, dass die ursprüngliche Form der Erzählung mit der Blaupause der Zaubermärchen in Einklang stand, kann man auch die Rolle Firdawsis (oder des eigentlichen Schöpfers der jetzigen Struktur der Geschichte [sic]) im Entwurf der Architektur iranischer Tragödien näher untersuchen. Erst dann wird der Weg für andere Forschung[sfragestellungen] frei.“ (S. 89) Von diesen Überlegungen sind es nur wenige Gedankenschritte hin zu einer radikaleren Relativierung des Beitrags von Firdawsi beim Zustandekommen eines der umfangreichsten Epen der Weltgeschichte.

Der Ansatz Propps birgt allerdings trotz seiner Plausibilität oder gerade deswegen die Gefahr des ideologischen Missbrauchs, da der Text unter Anwendung der Kriterien Propps zielgerichtet zurechtgestutzt werden kann, wodurch letzten Endes dessen Verständnis nicht erleichtert, sondern verschleiert werden dürfte. Auf der anderen Seite kann ein unorthodoxer Umgang mit den Basisideen der Morphologie des Märchens, dort etwa, wo es um die Klassifizierung von Narratemen und Handlungskreisen geht, durchaus zu einem besseren Verständnis von narrativen Texten beitragen. Jalalipurs Arbeit ist dementsprechend nicht richtungsweisend wegen der Ergebnisse seiner Propp-Rezeption, sondern wegen der Anwendung eines neuen Ansatzes, der imstande ist, die iranische Shahnamah-Forschung zumindest einen Schritt aus der Sackgasse der Selbstreferenzialität herauszulotsen.

Anmerkung:
1 Olga M. Davidson gilt als ausgewiesene Shahnamah-Kennerin, die den schriftlichen Hintergrund des Textes, von dem die Forschung ausgegangen war, und die biographische Narrative über Firdawsi kritisch analysiert hat, siehe u.a. Poet and Hero in the Persian Book of Kings, Costa Mesa 2006; dies., The Testing of the Shahnama in the „Life of Ferdowsi“ Narratives, in: L. Marlow (Hrsg.), The Rhetoric of Biography: Narrating Lives in Persianate Societies, Boston 2011, S. 11–20. Der wohl lautstärkste Widersacher ist Mahmoud Omidsalar, u.a. in „Poetics and Politics of Iran’s National Epic, the Shahnameh“ (New York 2011).

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