T. Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis

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Titel
Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich und Spanien


Autor(en)
Schmidtgall, Thomas
Reihe
Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 68
Erschienen
Anzahl Seiten
614 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Marcel Hartwig, Seminar für Anglistik, Universität Siegen

Der am Saarbrücker Lehrstuhl für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation wirkende Autor Thomas Schmidtgall konzentriert sich in der vorliegenden Monografie auf die Wahrnehmung genuin amerikanischer Kulturprodukte in europäischen Kontexten. Jeder der von ihm untersuchten US-amerikanischen Primärtexte, welche sich von Filmen, Comics, bis hin zum Roman erstrecken, steht im Bezug zu den Anschlägen vom 11. September 2001. In der weitgehend auf quantitativen Erhebungen basierten Arbeit geht es Schmidtgall vor allem darum, länderspezifische Wahrnehmungsstrukturen sowie eigenkulturelle Argumentationsgänge offenzulegen und interkulturelle Prozesse zur Rezeption der Anschläge nachzuvollziehen. In gleichem Maße versucht die mit dem Prix Germaine de Staël der französischen Botschaft und des deutschen Frankoromanistenverbandes ausgezeichnete Dissertation die in den jeweiligen Nationen vorherrschende Wahrnehmung der USA zu kartographieren.

Um die entsprechenden Daten für dieses Vorhaben zu akkumulieren, betrachtet Schmidtgall die Rezeption der Filme „World Trade Center“ (2006) und „United 93“ (2006), Jonathan Safran Foers Roman „Extremely Loud & Incredibly Close“ (2005) und Art Spiegelmans Graphic Narrative „In the Shadow of No Towers“ (2004) in der deutschen, französischen und spanischen Presse. Aus diskursiver wie historisch-soziokultureller Sicht geht die Arbeit der zentralen These nach, dass „je stärker die US-amerikanische kulturelle Prägung der jeweiligen fiktionalen Darstellung zum Ausdruck komm[e], desto heftiger […] reagieren die deutschen, französischen und spanischen Kritiker mit ihren kultureigenen Vorstellungswelten und Denkmustern, die sich dadurch ebenso in ihrer Beschaffenheit offenbaren“ (S. 16). Im Zentrum steht damit die Frage nach einer kollektiven „Schockwirkung“ (S. 17) der Anschläge vom 11. September 2001 innerhalb westeuropäischer Kulturen. Der stark kulturessentialistische Ansatz versteht sich dabei als ein Beitrag zur interkulturellen Medienanalyse (vgl. S. 551).

Eingangs stellt Schmidtgall eine Forschungslücke im immer größer werdenden Korpus an wissenschaftlichen Arbeiten zum „11. September“ fest. So vermisst er interdisziplinäre Ergebnisbündelung bei gleichzeitiger transnationaler Perspektive. Der Überblick über die Forschungsliteraturen, die dies zu leisten vermögen, fällt entsprechend kurz aus. Vor allem im Bereich der Amerikanistik verweist der Autor nur auf eine aktuelle Monografie von Stefanie Hoth.1 Gerade vor dem Hintergrund des Kernthemas hätte sich hier eine gründlichere Recherche hinsichtlich der amerikanistischen Forschungsliteratur gelohnt. So leistete doch vor allem Sabine Sielke als Beiträgerin und Herausgeberin des Sammelbandes „Der 11.September 2001: Fragen, Folgen, Hintergründe interdisziplinäre Pionierarbeit in der „9/11“-Forschung“;2 und dies bereits zu einem Zeitpunkt, an dem es an wissenschaftlichen Reaktionen noch mangelte.

An dieser festgestellten Lücke arbeitet Schmidtgall unter Verwendung eines Medienbegriffes, der die Produktion, Verteilung und Wahrnehmung zu gleichen Maßen mit der Analyse eines konkreten Medienproduktes verbindet. So besteht das erste Drittel der umfangreichen Arbeit aus der terminologisch-theoretischen Annäherung zum Medienbegriff, dem kollektiven Gedächtnis und der kulturellen, literarischen, historischen wie philosophischen Platzierung des „11. Septembers“. Sachlich schlüssig lassen sich in dieser Arbeit die Uneinigkeit über den Begriff der „Zäsur“ und des „Traumas“ nachvollziehen. Im Anschluss an Angela Kühners Begriff des „symbolvermittelten kollektiven Traumas“3 gewinnen in der vorliegenden Arbeit die transnationalen Dimensionen der medialen Vermittlungen von „9/11“ als „media event“ an argumentativer Stärke. Entsprechend zieht es Schmidtgall vor, eher über traumatische Erfahrungen zu sprechen als den Traumabegriff selbst zu bedienen. Fraglich bleibt an dieser Stelle, wie eine Zuordnung der im Anschluss ausgewählten und diskutierten Beispiele zum kulturellen Gedächtnis nach Assmann funktioniere (vgl. z.B. die Argumentation zum Libeskind-Entwurf auf S. 84). Schließlich siedelt sich die Arbeit in einem Diskursfeld an, dessen mediale Prägung und zeitliche Dimension eher dem Begriff des kommunikativen Gedächtnisses entspräche. Wo im Text zudem noch der Assmann’sche Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ neben dem etwas diffuseren Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ häufiger Verwendung findet, erscheint im Titel dann das Mediengedächtnis. An dieser Stelle wäre eine dezidiertere Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten sicher erstrebenswert gewesen, insbesondere da in der Arbeit vor allem die Begriffe „Medien“ und „Ereignis“ überaus sorgfältig abgegrenzt werden.

Das Kernstück der Arbeit sind die Rezeptionsstudien zu den gewählten Haupttexten, die sich einem kurz skizzierten analytischen Überblickskapitel anschließen. Zwar sind vor allem in den Philologien alle der ausgewählten Kerntexte bereits erschöpfend bearbeitet, dennoch schafft es Schmidtgall an ihrem Beispiel, empirische Daten zum Rezeptionsdiskurs zu generieren. Klar arbeitet er hier den Vorrang audiovisueller Bilder in der Wahrnehmung des „11. Septembers“ heraus und präsentiert eine Aufmerksamkeitshierarchie, nach der das deutsche Fernsehen – mit Abstand zum französischen und spanischen – dem Ereignis die höchste Aufmerksamkeit widmet. Am intensivsten sind dabei die Filmbeiträge per Besprechungen im interkulturellen Mediengedächtnis thematisiert; mit auffälligem Abstand folgen der exemplarisch besprochene Roman und die Graphic Narrative. Dies bestätigt eine Deutungshoheit des audiovisuellen Bildes über den „11. September“.

Schmidtgall stellt in der Rezeptionsanalyse länderübergreifende Diskursstrategien fest, die auf eine dezidiert transnationale Wahrnehmung schließen lassen. Je dichter die amerikanischen Medienbilder nationalmythologisch aufgeladen waren, desto höher – gemessen am Umfang erschienener Besprechungen – die Rezeption dieser Bilder in den drei Zielländern dieser Studie. Vor allem sind fehlende historische wie politische Kontextualisierungen Gegenstand der europäischen Kritik. Während die Wahrnehmung von „9/11“ in den drei Ländern noch nach den gleichen Untersuchungskategorien stattfinde, unterliege sie hinsichtlich der Sinnbildung jeweils anders gestalteten Argumentationsstrukturen (vgl. S. 561). An dieser Stelle zeige sich, dass in den deutschen Besprechungen die Vermittlung fremdkulturellen Wissens über die USA überwiege, während in Frankreich stets der Vergleich zur eigenen Filmindustrie den Duktus der Rezensionen bestimme. In Spanien zeige hingegen die Dominanz der Argumente zur medienästhetischen Gemachtheit in den Textkritiken ein fehlendes kulturelles Wissen über die USA an (vgl. S. 564). Entsprechend unterscheide sich auch die Verständnisnähe zum „11. September“ und den künstlerischen Aufarbeitungen in den drei Ländern.

Die erschöpfende Auswertung von knapp 350 Zeitungsartikeln aus Spanien, Deutschland und Frankreich zeigt deutlich, dass die Forschungen zur Fremdwahrnehmung und der interkulturellen Medienanalyse eine hilfreiche Ergänzung zu den philologischen Studien zu „9/11“ sind. Besonders unter diesem Blick lässt sich der Wunsch nach einer ähnlich gearteten Studie für den arabischen Kulturraum verstehen. Falls diese ähnlich umfangreich ausfällt, sollte bei ihrem Entwurf zumindest über ein Schlagwortverzeichnis nachgedacht werden. Neue Forschungsarbeiten wie „Traumatische Texturen“ von Heide Reinhäckel4 oder die von Ursula Hennigfeld jüngst herausgegebene Anthologie „Poetiken des Terrors“5 bestätigen Schmidtgalls Annahmen zum Bedarf interkultureller Medienanalysen. So sind es vor allem der innovative Ansatz und die resolute Recherchearbeit, die Schmidtgalls Monografie zu einer wertvollen Ergänzung in der stetig wachsenden „9/11“-Forschung machen.

Anmerkungen:
1 Vgl. S. 30; Stefanie Hoth, Medium und Ereignis. ‚9/11‘ im amerikanischen Film, Fernsehen und Roman, Heidelberg 2011.
2 Sabine Sielke (Hrsg.), Der 11. September 2001. Fragen, Folgen, Hintergründe, Frankfurt am Main u.a. 2002.
3 Angela Kühner, Kollektive Traumata. Eine Bestandsaufnahme. Annahmen, Argumente, Konzepte nach dem 11. September, Berlin 2002, hier: S.15.
4 Heide Reinhäckel, Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2012.
5 Ursula Hennigfeld (Hrsg.), Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich, Heidelberg 2014.

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