S. Elpers u.a. (Hrsg.): Die Musealisierung der Gegenwart

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Titel
Die Musealisierung der Gegenwart. Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen


Herausgeber
Elpers, Sophie; Palm, Anna
Reihe
Edition Museum 3
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 28,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffi de Jong, Historisches Institut, Universität zu Köln

Dass die Gegenwart die Vergangenheit der Zukunft ist, ist ein Gemeinplatz. Für Museen allerdings bringt dieser Gemeinplatz eine gewisse Dringlichkeit mit sich. Was sollten Museen im Hinblick auf eine zukünftige Erinnerung an die vergangene Gegenwart in die Zukunft hinüberretten? Wo fängt diese Gegenwart eigentlich an? Und wer soll entscheiden, welche gegenwärtigen Objekte in die Museumssammlung kommen und welche nicht? Diese Fragen stellen sich die Autoren/innen des vorliegenden Bandes. Er geht zu Teilen auf die Tagung „Das soll in die Ausstellung?! Musealisierung der Gegenwart. Von Grenzen und Chancen des Sammelns in kulturhistorischen Museen“ zurück, die im Oktober 2012 im Siebengebirgsmuseum, Königswinter, und im Haus der Geschichte, Bonn, stattfand. Zudem versammelt der Band einige Beiträge von Museologen/innen aus den Niederlanden weil von dort, so die Herausgeberinnen, „viele engagierte Initiativen zum Sammeln der Gegenwart ausgehen“ würden. Die größte Zahl der Beiträge stammt von Museumsmitarbeitern/innen und geht auf Sammlungsprojekte in den betreffenden Museen ein. Den Fallstudien vorangestellt sind einige theoretische Überlegungen, die die Problematik des Sammelns der Gegenwart generell behandeln.

Auf die oben genannten Fragen geben die Autoren/innen sehr unterschiedliche Antworten, was den Band zu einer gewinnbringenden Lektüre für alle macht, die sich über zeitgenössische Museumstrends und Sammlungspraktiken informieren möchten. Von besonderem Interesse sind hier in der Tat die Beiträge der niederländischen Museumsmitarbeiter/innen, die neue Methoden und Konzepte vorschlagen. So gehen Stijn Reijnders von der Erasmus Universität Rotterdam, Gerard Rooijakkers vom Verlagshaus Veerhuis und Vorstandsmitglied des Niederländischen Kulturrats und Hélène Verreyke vom M – Museum Leuven in ihrem theoretischen Artikel auf die Herausforderungen ein, die sich beim Sammeln der Gegenwart zwangsläufig stellen. Kulturgeschichtliche Museen hätten unter anderem das Problem, dass sie zugleich kritisch und inklusiv sein müssten. Dies hätte zu der Angst davor geführt, kritische Fragen zu stellen und Teil einer öffentlichen Debatte zu werden. Sie fordern Museen dazu auf, wieder größere Geschichten zu erzählen, wie zum Beispiel in Anlehnung an Italo Calvino, die Geschichte der Stadt ganz generell. Anstelle des Sammelns schlagen sie ein „marking on location“ (S. 60) vor, durch das Objekte in ihrem eigenen Umfeld rezipiert werden können.

Léontine Meijer-van Mensch von der Reinwardt Akademie und Annemarie de Wildt vom Amsterdam Museum zeichnen in ihrem Beitrag den Prozess der Musealisierung einiger niederländischer AIDS Memorial Quilts im Amsterdam Museum, sowie ein Studienprojekt zu dieser Musealisierung an der Reinwardt Academie nach. Das Studienprojekt kam zu dem Schluss, dass sich für das Sammeln und Bewahren der Quilts ein „shared ownership“ und die Form einer „dynamic collection“ bewähren könnten. So wäre es zum Beispiel möglich, dass Teile der Sammlung bei den Eigentümern verbleiben würden und dass Aufgaben wie Dokumentation, Konservierung, Restaurierung und Präsentation zwischen den verschiedenen Interessengruppen geteilt würden. An Stelle des Begriffs „collecting the present“ bevorzugen Meijer-van Mensch und de Wildt den Begriff „documenting the present“, da letzterer es erlaube, auch den Sammlungsprozess zu dokumentieren. Ganz uneigennützig ist eine solche Aufgabenteilung von Seiten des Museums allerdings nicht: Wegen ihres delikaten Materials und ihrer Größe stellen die Quilts das Museum vor ein konservatorisches Problem.

In dem dritten niederländischen Beitrag gehen Hester Dibbits von der Reinwardt Akademie und Marlous Willemsen von der Organisation „Imagine Identity & Culture“ auf das Sammeln von immateriellem Kulturerbe im Projekt „Intangible Cultural Heritage with Pop“ ein. Das Projekt versucht das immaterielle Kulturerbe einer von mixophobia und mixophilia geprägten flüssigen Moderne im Sinne Zygmunt Baumans zu sammeln, also einer von einer von konstanter Unsicherheit geprägten Gegenwart, die sowohl die Lust an einer Vermischung mit dem Fremden, als auch die Angst davor zur Folge hat. Die Initiator/innen des Projekts gehen davon aus, dass das immaterielle Kulturerbe unmittelbar vom gemeinsamen alltäglichen Leben, von sogenannten affektiven Netzwerken (emotion networks) geprägt wird, und nicht bereits im Voraus definiert werden sollte. Die Aktionen des Projekts sind performativ und gesammelt wird was gefällt, was nicht gefällt und aber auch das was nicht angesprochen wird, wie die Autorinnen an Hand einiger Beispiele darlegen. Trotz ihrer Anstrengungen, die Idee von immateriellem Kulturerbe nicht im Vorfeld zu definieren, sind aber auch die Initiatoren des Projekts „Intangible Cultural Heritage with Pop“ nicht unvoreingenommen. Sie haben nämlich ein politisches Ziel: „The focal point of the project will be the creation of public spaces in which we can get to know and understand people we do not know yet.“ (S. 196) Infolgedessen werden bei vielen Projekten die Gruppen in den Vordergrund gerückt, die nicht zur niederländischen Mehrheitsgesellschaft gehören.

Heraus ragt auch der theoretische Beitrag von Natalie Bayer, die die Darstellung von Migration in deutschen Museen kritisiert. Bis heute würden viele Museumsmitarbeiter/innen Migration als „Hype-Thema“ (S. 67) ansehen oder Migranten/innen lediglich als neue Zielgruppe betrachten, während die Behandlung des Themas sich auf temporäre Ausstellungen beschränke. Letztere seien oft von einem essentialistischen Verständnis von Kultur geprägt. Sie postuliert den Begriff der „Postmigration“ – das heißt ein Verständnis von Migration als „selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Geschichte und Gegenwart“ (S. 64) und plädiert dafür, dass das Museum „eine sich immer wieder erneuernde Institution werden und dabei fragen und visionäre Vorschläge formulieren“ soll (S. 81).

Leider wirken viele der weiteren deutschen Projektbeschreibungen verglichen mit den niederländischen Beiträgen, die theoretisch wie praktisch neue Wege aufzeigen, trotz ihrer oft guten oder gutgemeinten Ansätze eher weniger überzeugend. Sandra Mühlenberend und Susanne Roeßiger stellen ein Pilotprojekt des Deutschen Hygienemuseums vor, bei dem das Museum versuchte, Kriterien für ein Sammeln der Gegenwart aufzustellen. Es verwundert hier etwas, dass am Anfang des Projektes unter anderem die Frage stand, ob ein aktives Sammeln sich eigentlich in einen Museumsalltag integrieren lässt, der, so die Autorinnen, eher vom „passiven Sammeln geprägt sei“ (S. 110). Tatsächlich scheint vor allem die Tatsache, dass Museumsmitarbeiter/innen sich von ihrem Arbeitsplatz wegbewegen mussten, das Museum vor logistische Schwierigkeiten gestellt zu haben. Carsten Vorwig beschreibt die Errichtung des „Marktplatzes Rheinland“ im LVR-Freilichtmuseum Kommern, eines Ausstellungsensembles von zeitgenössischen Gebäuden – wobei „Gegenwart“ hier in etwa den Zeitraum von 1944 bis heute beschreibt. Dass Freilichtmuseen generell ein sehr breites Verständnis von Gegenwart anwenden – und gelegentlich zu Verklärung dieser Gegenwart oder wohl eher rezenten Vergangenheit neigen, zeigt Julia Pedak an Hand des Projektes „Umbruchszeit“ in den Freilichtmuseen Fladung, Bad Windsheim und im Museumsdorf Cloppenburg. Clara Himmelheber schlussendlich geht in ihrem Beitrag auf den Einsatz von Medien für die Darstellung von Gegenwart im Kölner Rautenstrauch Joest Museum – Kulturen der Welt ein. Sie hebt hervor, dass Medien den Vorteil haben, dass sie interaktiv, sowie relativ kostengünstig seien. Interessant ist, dass das Rautenstrauch Joest Museum die Gegenwart lediglich medial darstellt, während eine objekthafte Darstellung für die Vergangenheit reserviert ist. Ein Sammeln und Ausstellen der Gegenwart an Hand von Objekten scheint nicht in Erwägung gezogen worden zu sein.

Nicht ganz in den Band passt der Beitrag des Leipziger Museumswissenschaftlers Markus Walz, der nach den „Rahmenbedingungen für eine wissenschaftlich begründetet Gegenwartssammlung“ (S. 34) fragt. Walz definiert fünf Konkurrenzfelder, die die Museumssammlung beeinflussen würden, wie das zwischen Laien und Ethnologen, zwischen „heritage communities“ und Museumsfachleuten oder zwischen Kunst und Ethnologie. Zwar mag an einigen Kritikpunkten die Markus Walz hervorbringt etwas dran sein, allerdings wirken Ausdrücke wie „Heimathirsche“ (S. 35) für an Regionalkultur interessierte Laien, „undefiniertes Informationsoligarchat“ (S. 41) welches im Zuge der Digitalisierung die „sehr kleine Fachelite“ ersetzen würde oder „Verkunstung des Museums“ (S. 42) dann doch überzogen und werden der Komplexität der angesprochenen Phänomene wenig gerecht. Statt auf diese Komplexität und die Fruchtbarkeit eines Austausches zwischen verschiedenen Expertengruppen einzugehen kritisiert Walz, dass die „fachlich Urteilsfähigen durch die Deutungswilligen“ ersetzt würden und plädiert für mehr Fachkräfte (S. 44). Diese könnten die Museen im Fach der „Museumsanalyse“ finden – sprich unter seinen eigenen Studierenden. Verglichen mit den oben besprochenen Projekten zu den AIDS Memorial Quilts und zu intangible heritage wirken solche Überlegungen, wie eine verzweifelte Heraufbeschwörung eines vermeintlich goldenen Zeitalters der Museumsarbeit in dem Experten wieder Experten sein dürfen.

Sammelbände die neue Sammlungskonzepte vorstellen und auf das Sammeln der Gegenwart eingehen sind momentan sehr beliebt.1 Unter diesen zählt der vorliegende Band vor allem auf Grund der theoretischen und methodischen Schärfe einiger Beiträge, sowie der Einleitung von Sophie Elpers und Anna Palm definitiv zu den besseren. Auch die Idee, den Blick auf Museen außerhalb Deutschlands zu richten ist zu begrüßen – obwohl eine weitere Ausdehnung auch zum Beispiel auf nicht-europäische Museen sicherlich zu noch interessanteren Erkenntnissen geführt hätte. Ein Aspekt der in dem Band die „Musealisierung der Gegenwart“ leider gänzlich fehlt, ist der Aspekt der Digitalisierung. Zwar erwähnen einige der Beiträge den Einsatz von digitalen Technologien für die Sammeltätigkeit und das Ausstellen der Gegenwart, auf die Frage aber wie lediglich digital vorhandene Inhalte von Museen gesammelt und bewahrt werden sollen, geht keiner der Beiträge ein.

Anmerkung:
1 Siehe zum Beispiel Léontine Meijer-van Mensch / Elisabeth Tietmeyer (Hrsg.), Participative Strategies in Collecting the Present (Berliner Blätter 63), Berlin 2013, oder Leo von Stieglitz / Thomas Brune (Hrsg.), Hin und Her. Dialoge in Museen zur Alltagskultur. Aktuelle Positionen zur Besucherpartizipation, Bielefeld 2015.

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