Cover
Titel
Vergangenes Unrecht. Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive


Autor(en)
Unfried, Berthold
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
541 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Heinlein, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Je weiter sich der Zweite Weltkrieg und der Holocaust im Zeitverlauf entfernen, desto näher scheinen diese schrecklichen Ereignisse uns zu rücken: Diese für die mit Fragen der kollektiven Erinnerung befassten Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften nicht neue Einsicht1 trifft auch dort zu, wo es um die materielle Entschädigung und Wiedergutmachung von Eigentum geht, das im „Dritten Reich“ seinen rechtmäßigen Besitzern entzogen wurde. In den 1990er-Jahren fand eine Reihe von Entschädigungs- und Restitutionsprozessen statt, die, ausgehend von der Restitution nationalsozialistischen Unrechts, den gesamten Globus erfasste; sie machte unterschiedliche Dimensionen und Formen historischen Unrechts sichtbar. Diese Beobachtung stellt den Ausgangspunkt der umfassenden Studie des österreichischen Zeithistorikers Berthold Unfried dar, der von 1999 bis 2003 als Mitglied der österreichischen Historikerkommission unmittelbar mit Fragen der Entschädigung und Restitution jüdischen Vermögens befasst war. Bereits im Vorwort des Buches wird deutlich, dass es nicht allein die wissenschaftliche Neugier ist, die den Autor umtreibt, sondern auch die Chance, aus der Arbeit des Historikers heraus zur Herstellung von Gerechtigkeit beizutragen. Selbst wenn Unfried letzteres mittlerweile kritisch sieht, macht diese Gemengelage den besonderen, zum Teil provokativen Reiz des Buches aus.

Der Band ist in dreizehn Kapitel unterteilt, die einzelne Puzzlestücke der globalen „Entschädigungskonjunktur“ (S. 15) um die Jahrtausendwende präsentieren – vom Autor etwas umständlich „Millenniumsentschädigungsbewegung“ getauft (S. 30). Unfried setzt sich sowohl mit den der globalen Entschädigungskonjunktur zugrunde liegenden Diskursen, Argumentationsstrukturen und Legitimationsmustern auseinander als auch mit den institutionellen Strukturen und Akteuren, die dabei eine zentrale Rolle spielen. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die Differenz der Millenniumsentschädigung zur unmittelbaren Nachkriegsentschädigung. In jedem Kapitel werden die wesentlichen Unterschiede thematisch konzentriert herausgearbeitet und diskutiert. Bei der Fallauswahl rückt Unfried – verständlicherweise – Österreich sowie Frankreich und die Schweiz in den Vordergrund; alle drei Länder wurden insbesondere von US-amerikanischer Seite für ihre mangelnde Aufarbeitung vergangenen Unrechts kritisiert. Im Verlauf des Buches kommen jedoch auch immer wieder andere Beispiele zur Sprache, die die globale Dimension der Entschädigungsbewegung um die Jahrtausendwende sowie die dort wirkenden Mechanismen und Strukturen illustrieren sollen. Dass der Autor damit nicht jedem Einzelfall gerecht werden kann, liegt auf der Hand.

Das Wechselspiel von eigenem Engagement und wissenschaftlicher Distanziertheit zeigt sich insbesondere dort, wo Unfried die erinnerungspolitischen Voraussetzungen der aktuellen Entschädigungsprozesse diskutiert – er analysiert die Rolle der Historikerinnen und Historiker, die von staatlicher oder privater Seite mit der „Aufarbeitung“ vergangenen Unrechts betraut worden sind. Bei der späten Entschädigungswelle handelt es sich für Unfried nicht um eine simple Fortsetzung der Restitutionsbemühungen, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattgefunden haben. Vielmehr habe sich insbesondere durch den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems die „Geopolitik der ‚Erinnerung‘“ (S. 268) dahingehend verändert, dass die US-amerikanische Deutung bzw. Erinnerung des Holocaust zur Referenzfolie der Vergangenheits- und Gedächtnispolitik europäischer Nationalstaaten geworden sei. In diesem Zusammenhang zeichnet Unfried nach, welche Folgen dies für die Selektivität des nationalstaatlich gerahmten, auf eigenen Traditionen beruhenden österreichischen und französischen Erinnerns hat und welche neuen Erwartungen an politische und institutionelle Akteure herangetragen werden. Mit der Verschiebung des Gedächtnisrahmens weg vom Nationalen und hin zum Globalen ändern sich die institutionellen Bedingungen des Entschädigungsdiskurses sowie damit auch die Interessen und Konstellationen der beteiligten Akteure. Die auf den ersten Blick unscheinbare Frage, wer wen wofür entschädigt, wird dadurch zu einem hochbrisanten Politikum, das sich einfachen Lösungen und Antworten entzieht. Unfried gelingt es, diese Spannung aufrechtzuerhalten, wenn er die Interessen und Praktiken derjenigen Akteure beschreibt, die sich nicht nur in einem ebenso unübersichtlichen wie rechtlich, politisch und moralisch schwierigen Feld zurechtzufinden suchen, sondern dieses durch ihr Tun immer auch verändern und neu gestalten.

Seine eigene Profession – die Geschichtswissenschaft – nimmt Unfried von der kritischen Analyse nicht aus; das Gegenteil ist der Fall. Anhand verschiedener Beispiele arbeitet er heraus, welche Rollen Historikerinnen und Historiker im Spannungsfeld von wissenschaftlich begründeten, einer geschichtlichen Wahrheit verpflichteten Ansprüchen und privaten materiellen Interessen einnehmen. Nicht selten erweisen sich öffentlichkeitswirksame Historiker als „Erinnerungsvirtuosen, Erinnerungsmanager und Erinnerungsunternehmer“ (S. 299), die als Experten für Restitutions- und Entschädigungsfragen bisweilen auch „als Anwälte und Richter“ (S. 315) auftreten. Der Leserin und dem Leser bleibt dabei nicht verborgen, dass Unfried mit dem Gebaren seiner Kolleginnen und Kollegen nicht immer einverstanden ist. Gleichwohl lassen sich die Beobachtungen des Autors als Hinweis darauf lesen, dass in der Entschädigungswelle um die Jahrtausendwende nicht nur kollektive Täter- und Opferidentitäten auf neue Weise verhandelt, sondern den von dieser Welle erfassten Akteuren auch vielfältige, zum Teil widersprüchliche Positionierungen und Standpunkte eröffnet werden. Dazu gehört eben auch, dass sich in historiographisch gerahmten Erinnerungen die partikularen Interessen spezifischer Expertenkulturen widerspiegeln – etwa „Moralexperten“ (S. 285) oder Hüter der „Volksbildung“ (S. 288).

Mit dem Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten (vom Demokraten Bill Clinton zum Republikaner George W. Bush) und den Anschlägen vom 11. September 2001 ebbte die Entschädigungskonjunktur ab, wobei derartige Forderungen und Debatten keineswegs völlig endeten. Was bleibt zurück? Unfrieds Fazit fällt ebenso zwiespältig wie streitbar aus. Als fortwirkendes Ergebnis sieht er nicht die Herstellung von Gerechtigkeit, sondern die Überformung national spezifischer und gewachsener Vergangenheitsbezüge durch globalisierte Erinnerungen: „Vormals eigenständige und relativ neutrale Staaten wie Frankreich oder Österreich haben eine Version des erinnerungspolitischen transatlantischen Holocaust-Bezugs angenommen.“ (S. 506, „Holocaust“ im Original kursiv) Was als Grundbedingung dafür gesehen werden kann, dass es überhaupt zu einer Aufarbeitung vergangenen Unrechts in diesen Ländern gekommen ist, interpretiert Unfried als Preisgabe und Verlust von erinnerungspolitischer Autonomie und staatlicher Neutralität. Mit Blick auf die beiden genannten Länder erscheint ein solches Fazit diskutabel. Zumindest wäre zu überlegen, welchen Verlauf die jeweiligen Entschädigungsdebatten in Frankreich und Österreich ohne normativen Druck von außen genommen hätten. Ob sich die zitierte These über die beiden Länder hinaus verallgemeinern lässt, wäre allerdings gesondert zu prüfen.

Berthold Unfried hat eine ebenso detailreiche wie voluminöse Studie vorgelegt, die nicht verleugnet, dass sie jenseits der wissenschaftlichen Objektivität einen engagierten subjektiven Standpunkt vertritt. Das ist erfrischend, eröffnet Räume zum Widerspruch und verleiht dem Werk einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Gleichwohl ist nicht immer klar, wo dieser subjektive Standpunkt angesiedelt ist; mehr Transparenz hätte der Arbeit gut getan. Ein solcher Einwand ändert aber nichts daran, dass Unfried ein Buch geschrieben hat, an der die geschichts- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Entschädigung, Restitution und globaler Holocaust-Erinnerung nicht vorbeisehen kann.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, rezensiert von Brigitte Meier, in: H-Soz-Kult, 20.04.2000, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-235> (18.01.2015), und Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, rezensiert von Konrad H. Jarausch, in: H-Soz-Kult, 13.04.2005, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6009> (18.01.2015).